Seit seiner Premiere war Fuocoammare von Gianfranco Rosi der Favorit auf den Goldenen Bären der Berlinale 2016 und gewann ihn schließlich auch souverän. Doch auch wenn die internationalen Filmfestspiele von Berlin schon immer sehr politisch ausgerichtet waren, so wäre es weit gefehlt, wenn man dem Film vorwerfen würde, er hätte vor allem wegen seines hochaktuellen Themas der Flüchtlingskrise gepunktet. Nein. Fuocoammare war einfach mit Abstand der beste Film des Wettbewerbs. Jury-Präsidentin Meryl Streep nannte ihn das „Herzstück der Berlinale“.
Erstmals seit 60 Jahren ging der Goldene Bär damit an einen Dokumentarfilm. „Ich widme diesen Preis den Menschen von Lampedusa, die ihr Herz den Menschen öffnen, die dort ankommen“, sagte Rosi.
In dem Film erzählt der 54 Jahre alte Regisseur in teils schonungslosen Bildern vom Flüchtlingselend auf der Insel Lampedusa. Im Mittelpunkt stehen verschiedene Inselbewohner wie Samuele, ein zwölfjähriger italienischer Junge. Über ihn erzählt Rosi das Drama der Flüchtlingskrise auf wunderbar kluge Weise.
Samuele wächst auf Lampedusa auf, der Insel, auf der in den letzten Jahren über 400.000 Flüchtlinge landeten. Doch scheint sein Leben kaum von den Ereignissen auf der Insel geprägt zu sein. Er ärgert sich mit Hausaufgaben herum, spielt mit Freunden und schießt am liebsten mit einer selbstgebauten Steinschleuder auf Kakteen. Dem Zuschauer begegnen weitere Inselbewohner, beispielsweise der Moderator der lokalen Radiostation und „Tante Maria“, die sich ab und an ein Lied bei ihm wünscht, darunter Fuocoammare, das vom „Feuer auf See“ handelt und namensgebend für den Film wurde. Auch sie scheinen unberührt von der Flüchtlingskatastrophe.
Das Drama zeigt Rosi in einem Kunstgriff wie in einer abgetrennten Sphäre. Wir sehen Bilder einer Radarstation, die gerade einen Notruf von einem Boot mit geflüchteten Menschen empfängt. Wir sehen Szenen der alltäglichen Seenotrettung. Bilder, die in ihrer unaufgeregten Grausamkeit ihren Weg noch nicht in die Medien gefunden haben. Es ist der Alltag für die Retter. Menschen, die offenbar am dringendsten medizinische Hilfe benötigen, werden von einem überfüllten Boot auf ein Schiff der Seenotrettung gezogen. Es sind junge afrikanische Männer. Einer der Menschen ist so stark dehydriert, dass nicht sicher ist, ob er überleben wird. In einer fast unerträglichen Szene folgt die Kamera in das Innere eines geräumten Flüchtlingsbootes. Sie zeigt den Boden bedeckt von toten Körpern, die dicht an dicht gedrängt liegen. Gesichter sind nicht zu sehen, nur Dutzende von Leichen. Sie stehen stellvertretend für die Tausenden, die es nicht schaffen.
An einem erzählerischen Punkt berühren sich die Sphären. Der Arzt Pietro Bartolo behandelt Inselbewohner wie auch Geflüchtete. Er erzählt von seinen furchtbaren Erlebnissen und seinen Albträumen. Fast täglich muss er Dieselbrandwunden behandeln und an toten Flüchtlingen Obduktionen vornehmen. In einer anderen Szene untersucht Bartolo einen hypochondrischen Samuele. Der Junge klagt angstvoll darüber, dass ihm die Luft wegbleibe. Und der Zuschauer fragt sich in diesem Moment, ob das nicht die richtige Beschreibung für den Zustand Europas angesichts der Krise ist.
Gianfranco Rosi bezeichnete bei der Preisverleihung Fuocoammare als seine bisher schwerste Arbeit. „Ich musste entscheiden, ob ich den Tod zeige. Der Tod kam ja zu mir. Ich wollte bei der Rettung einiger Flüchtlinge dabei sein. Aber nicht alle haben die Flucht übers Meer überlebt“, sagte er.
Ursprünglich kam der Filmemacher nach Lampedusa, um einen Kurzfilm zu drehen. Doch als er das ganze Ausmaß des Dramas sah, entschied er sich für eine abendfüllende Dokumentation. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise, die weit über die Insel hinausgeht, möchte er mit seinem Film möglichst viele Menschen bewegen. „Wir tragen alle die Verantwortung dafür. Ich denke, was derzeit passiert, ist nach dem Holocaust eine der größten Tragödien der Menschheit.“
Fuocoammare
Italien / Frankreich 2015, 108 Min
Regie: Gianfranco Rosi
Mit: Samuele Pucillo, Mattias Cucina, Samuele Caruana, Pietro Bartolo, Giuseppe Fragapane
Berlinale 2016 – Sektion: Wettbewerb
Eine Aufzeichnung der Pressekonferenz zum Film auf der Berlinale 2016 finden Sie hier.