„Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft“. Bereits der erste Satz des Vorworts verdeutlicht die Reflexionstiefe der nachfolgenden biographischen Analyse von Kafkas Leben durch den Literaturwissenschaftler Peter-André Alt. Die mehr als 700 Seiten umfassende, bei C.H.Beck erschienene Biographie veranschaulicht Kafkas Leben und Wirken vor dem Hintergrund seiner Zeit. Hervorzuheben ist die hervorragende Durchdringung der Persönlichkeit Kafkas und die detaillierte Schilderung seines Verhältnisses zur Umwelt und seines einzigartigen Vermögens, seine Erfahrungen in Literatur umzusetzen.
Kafka kommentiere die politischen Ereignisse seiner Zeit nicht, dennoch sei er ein auf komplizierte Weise in die Epoche Verstrickter, der seine Augen vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit nicht verschlossen habe, so Alt. Gerade als deutscher Jude in Prag habe Kafka eine besondere Sensibilität entwickelt und reflektiert. Zwar verarbeite sein Werk die Spuren der Zeit nur indirekt, so lasse es sich dennoch nicht lösen von politischen, sozialen und intellektuellen Strömungen seiner Epoche. Das eigentümliche an Kafkas Biographie sei die Untrennbarkeit von Leben und Arbeit, so Alt. Die Literatur verwandle Kafkas Erfahrungswelt zu einem Raum, in dem Phantasie und Realität nicht mehr trennbar seien. Leben und Arbeit treten in eine konstruktive Beziehung, das Leben funktioniere wie literarische Fiktion, weil es deren Dramaturgie und Inszenierungskunst gehorche.
Alt stellte sich die zentrale Aufgabe, mit der Biographie „die Prägungen zu beschreiben, die das Leben durch die imaginären Welten der Poesie und die Formen ihrer inneren Ordnung empfangen hat.“ Erst die Einsicht in die literarische Konditionierung der Erfahrung erschließe das geheime – keineswegs mythische, vielmehr bewusst produzierte – Gesetz.
Zentral ist für Alt die Rolle des Vaters; Kafka kultiviere seine Furcht vor seinem Vater mit „obsessiver Lust“, weil sie für ihn die Bestimmung seiner Existenz bilde. Kafka bleibe stets der ewige Sohn, der nicht erwachsen wird, der seine „psychische Selbstorganisation“ in seinen Texten reflektiere, die so unabschließbar seien wie sein eigenes biographisches Projekt. Der Ich-Entwurf des ewigen Sohnes sei das Geheimnis der Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben begründe. Alt analysiert hier sehr genau Kafkas psychologische Verfassung und verknüpft diese Beobachtung auf kluge Weise mit Werkdeutung.
Die intelligente Konzeption des Buches zeigt sich bereits am Beginn, wo Alt die Geschichte der Vorfahren Kafkas schildert und dies nicht nur als ein Abriss von Lebensdaten und Namen vollführt, sondern mit Reflexionen über Kafkas Verhältnis zu seiner Herkunft verknüpft. Den Vater Hermann Kafka beschreibt Alt als ein von imperatorischem Geschäftswillen geprägter, aber durch gesteigerte Empfindlichkeit und Kränkbarkeit eingeschränkter Mann, der auf Außenwirkung bedacht sei und ein schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein besitze. Die Mutter, Julie Kafka, geborene Löwy, bestimmte eine religiöse Grundhaltung, die von Schwermut und Weltflucht gezeichnet war.
Mit dem Galanteriewarengeschäft arbeiteten sich Kafkas Eltern allmählich in die etablierte Mittelschicht Prags hoch, zu der sie spätestens seit der Jahrhundertwende gehörten. Dies zeigte sich in der Beschäftigung zweier Bediensteter, einer soliden finanziellen Basis und dem geräumigen Domizil, das sie bewohnten. Alts Biographie zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr auch die strukturellen Rahmenbedingungen für Kafkas Leben ausreichend Platz finden, wie die genaue Beschreibung des sozialen Aufstiegs der Eltern und des gesellschaftlichen Milieus, in dem sie sich bewegten.
Kafka wird schon als Heranwachsender durch das innere Gefühl der Einsamkeit zu einem fernen Betrachter, der sich der Realität nur im Gestus des Zuschauers nähert. Der erwachsene Kafka sucht diese Erfahrungslandschaften, die er als Bobachter betrachten kann, in der Wohnung der Familie, in den Straßen, Cafés, im Büro oder in der Straßenbahn, die für ihn zu Schauplätzen eines als fremd empfundenen Lebens werden. Basis für diese Beobachtersituation war bereits die leere Wohnung in seiner Kindheit, während die Eltern im Geschäft arbeiteten.
Ein zentrales und tragisches Erlebnis in Kafkas Kindheit war der Tod seiner beiden Brüder Georg und Heinrich in den Jahren 1886 und 1888. Alt führt die Identität Kafkas als „ewiger Sohn“ auf diese Ereignisse zurück. Kafka vermeidet jegliche soziale Festlegung und Entscheidung, um nicht aus dem Sohnesstatus herauszutreten, und dies aus Schuldgefühl, das ihn seit dem Tod seiner Brüder begleitet habe. Er verlässt das väterliche Haus niemals auf Dauer, heiratet nicht, gründet keine Familie und sammelt keinen Besitz – schafft also im bürgerlichen Sinn keine Existenz. Zudem verliert er später seine zwischen 1889 und 1892 geborenen Schwestern Elli, Valli und Ottla durch die Nationalsozialisten. 1941 wurden Elli und Valli ins Ghetto nach Lodz verschleppt und Ottla, die zunächst noch durch ihren nichtjüdischen Mann vor den Nazis geschützt war, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Vermutlich sind alle drei in Auschwitz gestorben.
Alt widmet zudem viel Raum für die Analyse des jüdischen Selbstverständnisses Kafkas. Die Familie hat zwar die hohen jüdischen Feiertage wie Pessach, Jom-Kippur und Rosch-Haschana gefeiert, ansonsten aber nicht allzu streng nach den Gesetzen gelebt. Man aß nicht koscher, hielt die Fastenregeln zu Jom-Kippur nicht ein und die Synagogenbesuche absolvierte Kafka laut eigenen Beschreibungen lustlos und gelangweilt. Der Vater betrachtete das religiöse Ritual als Verpflichtung einer entleerten Kulturtradition. Kafka schrieb 1921 an Max Brod über diese Entfremdung von der jüdischen Tradition: „Weg vom Judentum wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch an dem Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden.“
Ausführlich geht der Biograph auch auf die zahlreichen Freundschaften Kafkas zu Intellektuellen und Schriftstellern ein, die zum Teil sehr prägend für ihn waren. Mit seinem Mitschüler Paul Kisch teilt er vor allem literarische Interessen. Neben ihm und seinem Lebensfreund, dem Schriftsteller und Journalist Max Brod, zählte Hugo Bergmann zu den engeren Freunden. Bergmann hatte er bereits im Gymnasium kennengelernt. Der Martin Buber-Schüler und Zionist, wurde später Philosophieprofessor an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Leiter der Hebräischen National- und Universitätsbibliothek. Er brachte seinem Freund Kafka den Zionismus näher. Mit Hugo Bergmann besuchte er seit 1910 die Veranstaltungen des jüdischen Vereins Bar-Kochba, der bis zum Kriegsende auf die Balance zwischen Ost- und Westjudentum, Chassidismus und moderner Religionskultur setzte. Von dem radikalen Zionismus der tschechischen Theodor-Herzl-Gesellschaft grenzte er sich ab. An diese Ausführungen schließt der Biograph einen Schnelldurchlauf durch die zionistischen Anfänge in Europa an, geht unter anderem auf Herzl und den ersten Zionistenkongress 1897 in Basel ein und widmet sich dem Phänomen des jüdischen Selbsthasses eines Walther Rathenaus, Otto Weiningers oder Karl Kraus’. Diese Art von Exkursen kritisiert man immer wieder gerne, weil sie entweder zu ausführlich ausfallen, und damit vom eigentlichen Erzählstrang ablenken, oder zu knapp gehalten sind, weil auf schmalen Platz nicht alles ausreichend abgehandelt werden kann. Alt unternimmt immer wieder diese Exkurse, die zur Darstellung der politischen und sozialen Hintergründe oder zur Skizzierung der intellektuellen Strömungen durchaus erhellend sind.
Aufschlussreich sind die Ausführungen zu Martin Buber und dessen Wirkung auf Kafka. Um 1910 hielt Buber Vorträge in Prag und löste bei Freunden von Kafka, wie Max Brod, große Begeisterung aus. Kafka selbst blieb skeptisch. Buber vermittele einen „öden Eindruck“, in „allem, was er sagt, fehlt etwas“, so Kafka 1913. Er lehnte Bubers modernen Stil in den Nacherzählungen der chassidischen Märchen ab, weil er die Vorlagen verwässere. Seine religionstheoretischen Abhandlungen interessierten Kafka vor dem Krieg nicht, weil er Bubers ekstatischem Erneuerungspathos misstraute; mit ihnen beschäftigte er sich erst in den Kriegsjahren. Fasziniert aber war Kafka von dem zwischen 1911 und 1912 gastierenden jiddischen Theater aus Lemberg, das Stoffe der jüdischen Legendentradition in Form von Jargonstücken, Travestienummern und Chansons bearbeitete und vorstellte.
Ein wichtiges Kapitel bilden zudem die Schilderungen der Erfahrungen Kafkas als angestellter Jurist bei der Versicherungsanstalt Generali und der Arbeits-Unfall-Versicherungsanstalt. Dort verfasste er nüchterne juristische Berichte über die zahlreichen Unfälle in der Industrie, die durch veraltete Maschinen, überforderte Arbeiter und überalterte Technik verursacht werden und die Schattenseite des Industriezeitalters veranschaulichen. Alt beschreibt detailliert den Alltag, die Aufgaben und die Abneigung Kafkas gegen diese Routinearbeit.
Alts monumentale Biographie zeichnet sich dadurch aus, dass er neben allen wichtigen Aspekten eines Lebens auch die Zwischenbereiche, die nicht so sehr als harte Fakten darzustellen sind, veranschaulicht. Darunter fallen die genaue Analyse von Kafkas intellektuellen Neigungen, seiner literarischen Einflüsse, seiner jüdischen Identität oder der komplizierten Beziehungen zu seinen Freundinnen. Alts Analyse weicht nie von einer genauen und sehr differenzierten Beobachtung und Deutung ab.
Autorin (Rezensentin): Dr. Andrea Brill
Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. C.H.Beck, München 2005, 763 Seiten, ISBN 3-406-53441-4.