Birkmeyer, Jens / Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006.
„dass sie aufstehen und erzählen ihren Kindern“ (PS 78,6). Das Thema Holocaust und die dritte Generation.
Die dritte bzw. die vierte Generation nach dem Holocaust müssen zu neuen Deutungen der Vergangenheit kommen. Dabei können sie weder auf die Erinnerungen der ersten Generation, der unmittelbar beteiligten Opfer oder Täter, direkt zurückgreifen noch auf die der zweiten Generation, die sich oft im Widerstand zu der ersten gegen Verdrängung und Verschweigen gewandt hat. Statt eingebunden zu sein in eine kommunikative Erfahrungsgemeinschaft scheint das kollektive Gedächtnis mehr und mehr bestimmt zu sein durch die Vorstellungen von Literatur, Medien und politischen Instanzen.
Sozialpsychologische Grundlagen der Diskussion
Hintergrund des Sammelbands von Birkmeyer/Blasberg sind vor allem die sozialpsychologischen Untersuchungen zum Familiengedächtnis von Gabriele Rosenthal (Der Holocaust im Leben von drei Generationen (1997)) oder von Harald Welzer (Opa war kein Nazi (2002)), die beide mit je einem faszinierenden Beitrag in diesem Band vertreten sind. Während Rosenthal von den transgenerationellen Verletzungen durch Familiengeheimnisse und Lügen von Opfern und Tätern berichtet, geht es Welzer vor allem um das Verdrängungsverhalten in (Mit-) Täterfamilien. Seine Thesen von der Resistenz von Geschichtsmythen der ersten Generation gegen das kulturelle Gedächtnis – dem Wissen, das in Schule, der Universität und politischer Öffentlichkeit gelernt wurde – sind eine Warnung davor, dass gerade die Enkelgeneration ihre eigenen Großeltern wieder zu Helden des Widerstands stilisiert. Seiner Meinung nach werden demnach die Familienerfahrungen intergenerationell unbewusst weiterwirken. Diese These stellt die Politikwissenschaftlerin Nina Leonhard eher in Frage. Sie forscht zwar zu ähnlichen Themen wie Welzer, kommt aber zu anderen Ergebnissen: Ihre Promotion zu Politik- und Geschichtsbewusstsein im Wandel wie auch ihr Beitrag in diesem Band kommen eher zu dem Schluss, dass „die Bedeutung der eigenen Familiengeschichte für die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus immer weiter abnehmen wird“ (S. 78) und dass eher das Wissen über diese Zeit, das die Enkel außerhalb der Familien erfahren haben, ihre eigene Einschätzung bestimmen wird. Insbesondere im Kontext der Globalisierung und einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft werde die Bedeutung dieses Teils der deutschen Geschichte sowieso abnehmen.
Ringvorlesung der Universität Münster
Diese beiden widersprüchlichen Konzeptionen werden in den verschiedenen Beiträgen des Bandes aufgegriffen und aus je unterschiedlichen Fachperspektiven beleuchtet. Der Sammelband ist entstanden aus einer interdisziplinären Ringvorlesung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dass bis auf wenige Ausnahmen die meisten der Vortragenden aus Münster selbst kommen, verweist darauf, dass es hier wohl schon einen lebendigen Diskussionsprozess gibt. Norbert Nowotsch, Professor für Mediengestaltung, beleuchtet Konzepte der Ausstellungsgestaltung, der Möglichkeit, Exponate durch das Design zum Sprechen zu bringen. An eindrücklichen Beispielen, mit vielen Bildern, zeigt er Möglichkeiten und Grenzen, sich zu Themen des Holocaust verständlich zu machen. Der Historiker Hans-Ulrich Thamer untersucht vier Phasen der Erinnerungskultur bis 1989 (Mythisierung der Vergangenheit, Tabuisierung, Tribunalisierung und Historisierung), wobei er sich leider fast nur auf die Situation in der BRD, nicht in der DDR bezieht. Außerdem deutet er an, wie sich die Bedingungen für eine Wahrnehmung des Holocaust nach 1989 verändert haben. Ulrike Schrader, die Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal, legt einen Beitrag zu dem Umgang mit „lästigen Orten“ der Erinnerung vor, der sich kritisch mit dem bundesdeutschen Umgang mit Gedenkstätten auseinandersetzt – ausgehend von einer fragwürdigen Stellungnahme des Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog aus dem Gedenkjahr 1995.
Spuren in der Literatur
Einen besonderen Schwerpunkt stellen drei literaturwissenschaftliche Beiträge des Bandes dar: Jens Birkmeyer widmet sich in seinem theoretisch hochkomplexen Beitrag dem Gedächtnisdilemma in der Popliteratur. Vertreter der „Generation Golf“ wie Florian Illies sehen ja ihre Texte als „Archivierung“ der Gegenwart, die Vergangenheit des Holocaust taucht hier aber nur anekdotenhaft als Kritik an den übereifrigen Bemühungen der zweiten Generation auf, die Nachfolgenden aufzuklären. Birkmeyer kritisiert, dass die soziale Rahmung der Vertreter dieser Generation es ihnen oft nicht erlaubt, zu einer eigenen reflektierten Sicht auf diese Geschichte zu kommen, sondern einem „selbstreferentiellen Wahrnehmungskontext“ verhaftet bleiben.
Cornelia Blasberg stellt in Erinnern? Tradieren? Erfinden? drei Romane vor, die alle die Verbindung zwischen den drei Generationen nach dem Holocaust zum Thema haben: Im Krebsgang (2002) von Günter Grass, Himmelskörper (2003) von Tanja Dückers und Spione (2002) von Marcel Beyer. Blasberg zeigt wie sehr der Holocaust für die heutige Generation zur Nebensache geworden ist. Mit dieser Deutung, nach der im heutigen Patchwork der Identitäten die Zugehörigkeit zu dem nationalen Trauma der Deutschen in Frage gestellt wird, nähert sich Blasberg demnach den oben erwähnten Thesen von Nina Leonhard von einer Relativierung der Relevanz von Holocaust-Erinnerung.
Doerte Bischoff betont demgegenüber die Unmöglichkeit, zu einem „Schluss zu kommen“. Am Beispiel von des Romans Ohnehin (2004) des Wiener Autors Doron Rabinovici entlarvt sie etwa den Diskurs der Walser-Rede, indem sie Bezüge herstellt zwischen der „Endlösungs-Rhetorik“ der Nationalsozialisten und den Schlussstrich-Formulierungen auch der jüngsten Generation.
„Wohin mit dem Holocaust?“ – so lautete das provozierende Thema einer abschließenden Podiumsdiskussion nach der Ringvorlesung. Sie wird zum Schluss des Bandes dokumentiert, indem die einleitenden Thesen der vier TeilnehmerInnen abgedruckt werden (Christoph Spieker, Jens Birkmeyer, Ursula Reitemeyer und Oliver Naepel) – dies zeigt aber wieder einmal, wie schlecht konkrete Diskussionsprozesse in Buchform wiederzugeben sind.
„Wohin mit dem Holocaust?“ – diese Frage beschäftigt weiter alle diejenigen, die mit den eigenen Kindern, mit SchülerInnen oder Auszubildenden einen Dialog über das Vergangene aufrechterhalten wollen: „Auf dass erkenne das künftige Geschlecht, die Kinder, die geboren werden, dass sie aufstehen und erzählen ihren Kindern.“
Der vorliegende Band nimmt sowohl die Eltern und die Großeltern in ihrem Bemühen um Aufrechterhalten des Gedächtnisses wie auch die Enkel in ihrem Recht auf ihre neue Sicht auf die Vergangenheit ernst.
Autorin: Dr. habil. Annette Kliewer
Birkmeyer, Jens / Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. (Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur 2) Bielefeld: Aisthesis 2006. EUR (D) 19,80. ISBN: 3-89528-531-5.