Lisl Urban, Ein ganz gewöhnliches Leben, Leipzig 2006.
Als Lisl Urban das Warschauer Ghetto sah: Der tabulose Lebensbericht einer Frau. Lisl Urban erzählt in ihren Memoiren mit großer Offenheit von der Ehe mit einem SS-Mann und den Jahren als Lehrerin
Sich erinnern zu können gehört zu den kostbarsten Gaben des Menschen. Nicht jedem ist es freilich gegeben, gerecht und ehrlich Gerichtstag zu halten. Ein bemerkenswertes Beispiel legt die Autorin Lisl Urban (Jahrgang 1914) mit ihren Lebenserinnerungen vor. In den im Dingsda-Verlag erschienenen beiden ersten Bänden ihrer Trilogie erzählt sie von Kindheit und Jugend in der böhmischen Geburtsstadt Gablonz, von der dunklen Zeit zwischen 1933 und 1945, in der viele Sudetendeutsche zu fanatischen Mitläufern der Nazis wurden.
Selten dürften Memoiren so sehr aus unmittelbarer Betroffenheit zu Papier gebracht worden sein, zutiefst Persönliches und vermutlich auch erstmals in dieser Rückhaltlosigkeit Offenbartes: Die von NS-gläubiger Übereinstimmung geprägte Ehe mit einem ranghohen SS-Offizier, die sie zeitweilig sogar als Stenotypistin in die Prager Gestapo-Zentrale führt, bis alles an der Unlebbarkeit dieser Beziehung zerbricht.
Die Autorin liefert sich mit ihrem leidenschaftlichen Mut zur Wahrheit auch Angriffen aus. Aber gerade in diesen Passagen erreicht die Lebensgeschichte emotionale Höhepunkte: die Fluchtwege ihrer Liebe, die fraulichen Heimsuchungen. Sie beschreibt den von nationalistischen Rachegefühlen dominierten Alltag von über drei Millionen Sudetendeutschen, die Hassorgien der Tschechen, die Sorge um die geliebte kleine Tochter und schließlich die späte Aussiedlung in die Ostzone, wo sie als Neulehrerin einen beruflichen Neuanfang wagt. Verehrt von ihren Schülern wird sie jahrzehntelang an der Erweiterten Oberschule Wickersdorf in Thüringen wirken – eine Frau mit einem großen mütterlichen Herzen. Erzählt wird eine Lebensgeschichte, die keine Tabus kennt und sowohl durch die Authentizität der Fakten als auch durch die gestalterische Intensität bewegt. Herausgeber und Lektor leisteten ganze Arbeit. Ein gewöhnliches Leben? Weit mehr: eine trotzig-widerständige Selbstbehauptung. Es fallen einem die Worte des Dichters Johannes Bobrowski ein: „Menschlich hab ich gelebt,/zu zählen vergessen die Tor,/die offenen. An die verschloßnen/hab ich gepocht.“
Wie wenig das Vergangene vergangen ist, macht ein Rechtsstreit vor dem Landgericht Leipzig deutlich. Der ehemalige Kommandeur eines SS-Bataillons, das zur Sicherung des Warschauer Ghettos eingesetzt war, glaubt sich in einer der Personen des Buches wiederzuerkennen. Um die Spuren seiner Vergangenheit zu verwischen, unternimmt er den Versuch, das Buch per Gerichtsbeschluß verbieten zu lassen. Ein unglaublich anmutender Vorgang, der nicht zuletzt die Risiken erkennen läßt, die mit wahrhaftiger Erinnerungsarbeit verbunden sind.
Autor: Rudolf Scholz
Lisl Urban, Ein ganz gewöhnliches Leben, Band 1, 160 S., 14,90€. Band 2, 175 S., 14,90€. Leipzig 2006.