Tischmanieren gegen Terror. Studie – Die Darmstädter Soziologin Maja Suderland zeigt, wie Menschen im Konzentrationslager Gesellschaften bildeten
Darmstadt. Eine Frau blieb eine Frau, ein Mann ein Mann, so wie ein Jude unverändert Jude und ein Homosexueller homosexuell war. Das ist beileibe nicht selbstverständlich an einem Ort, wo Menschen nicht nur gefangengehalten, gequält und gemordet wurden, sondern wo man ihnen auch ihre Identität rauben wollte.
Die Darmstädter Soziologin Maja Suderland hat sich in ihrer Dissertation mit dem Sozialleben innerhalb der nationalsozialistischen Konzentrationslager beschäftigt – und sie hat das derart gründlich getan, dass ihr am Freitag die Vereinigung der Freunde der Technischen Universität zu Darmstadt einen Preis für hervorragende wissenschaftliche Leistungen verleihen wird.
Tatsächlich gelingt ihr nicht weniger als der Nachweis, dass Hitlers Schergen in einem für sie sehr wichtigen Punkt gescheitert sind: „Auf der einen Seite war die Strategie der SS erfolgreich, aus allen Inhaftierten bürokratisch verwaltete Nummern zu machen, die sich um einen Kanten Brot prügelten; aber auf der anderen Seite wurde in gleichem Maße der Wunsch dieser solchermaßen Entmenschlichten immer stärker, sich ihrer Individualität zu versichern, indem sie Solidarität übten wie auch bedeutsame Nuancen und Unterschiede pflegten, die auf ihre bisherigen Lebensweisen zurückgingen.“
Obwohl also den Häftlingen Kleider, Schmuck und Haare genommen, die Menschen zur Masse geknetet und in unmenschliche Behausungen gestopft wurden, blieben sie doch Individuen. Im Miteinander unter katastrophalen Bedingungen bildeten sie eine Häftlingsgesellschaft, die nicht nur nach Maßgabe der Bewacher geordnet war und die erstaunliche Parallelen zur Außenwelt der damaligen Zeit aufwies.
Als Belege dienen Suderland schriftliche Berichte und Erzählungen ehemaliger Häftlinge über ihre Zeit im KZ. Darin kommen Frauen vor, die Backsteine als Bügeleisen nutzten und sich im Dunstkreis der Krematorien schminkten, darin kommt auch ein distinguierter Esser vor, der mit Tischmanieren den Anschein gehobener Normalität wahrte.
Neben guten Sitten überdauerte in all der Grausamkeit indes auch der Antisemitismus, der den Quellen zufolge ausgerechnet im Konzentrationslager stark ausgeprägt war. So berichtete der polnische Jude Leon Szalet, inhaftierte linke Widerstandskämpfer hätten ihn drangsaliert mit Schlägen und Worten wie: „Ich wäre faul wie alle Juden.“
Maja Suderland spinnt in ihrem Buch einen Gedanken des Soziologen und KZ-Überlebenden Paul Martin Neurath fort, der schon 1943 schrieb, im Konzentrationslager gälten lediglich andere Verhaltensregeln als in der Gesellschaft draußen – die „grundlegenden Ideen“ seien dieselben. Die Autorin filtert aus den Zeitzeugnissen entscheidende Bestimmungsmerkmale heraus, die auch am Ort des Terrors überragend wichtig waren – um sich einzusortieren, aber auch, um sich von Andersartigen zu unterscheiden: vor allem Geschlecht, Klasse und Ethnie. Im günstigen Fall mündete dieses Denken etwa in Solidarität unter Frauen, im ungünstigen in Hassausbrüche, unter denen Juden und „Zigeuner“ so stark litten wie andernorts.
Die Zuordnung der beiden letztgenannten Gruppen zu „Kasten“, das betont Suderland, sei ein nationalsozialistisches Konstrukt, vergleichbar einem Sternbild, das aber auf weitverbreitete Vorurteile bauen konnte. Die Soziologin, die erzählt, dass auch in ihrer Verwandtschaft KZ-Opfer waren, sieht – konstruiert oder nicht – all diese Zuordnungen als so dauerhaft und stark an, „dass weder die SS noch die Inhaftierten ihre soziale Vergangenheit einfach abschütteln konnten“.
Die SS, welche die meisten Zwangslager betrieb, unterstützte den Prozess der Gesellschaftsbildung: zum einen durch die Kennzeichnung der Häftlinge mit „Winkeln“; diese beförderten nicht nur, im Sinne der Täter, bestehende Abneigungen, sondern schufen zugleich Solidargemeinschaften. Zum anderen durch die Einsetzung einer Klasse von Häftlingsfunktionären, die – mal dienstbar, mal subversiv – wohlbekannte Machtstrukturen in die Konzentrationslager importierten. Nur dass es hier um Mord und Totschlag ging.
Der ständigen Bedrohung zum Trotz „entstand auch in den Lagern ein komplexes Beziehungsgeflecht sozialer Positionen und Abgrenzungen“ – folgt man den von Suderland zitierten Zeugen. Diese sind eine erlesene Gruppe mit einem hohen Anteil an gestandenen Soziologen oder zumindest ambitionierten Schriftstellern. Interessant ist es allemal, was sie beobachtet und oft gleich analysiert haben. Dem Leser tut sich ein erstaunliches „verborgenes soziales Leben“ im Konzentrationslager auf, wo selbst kleinste Freiräume genutzt wurden.
Primo Levi beschrieb eine regelrechte Börse in Auschwitz-Monowitz, bei der sogar die SS mitmischte. Andere berichteten von Theater unter ärmlichsten Bedingungen, von kulturellem Leben als Überlebensstrategie.
Über das bloße Durchkommen hinaus ging es aber stets darum, Mensch und Individuum mit all seinen Prägungen und Rollen-Vorstellungen zu bleiben und Anteil an der Gesellschaft zu haben. In diesem Sinne blieb etwa auch ein mit Kot besudelter Gelehrter auf dem Klohäuschen für die Mithäftlinge der Herr Professor.
Maja Suderland entdeckt hier, anknüpfend an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, einen in Geist und Körper verankerten „sozialen Trieb“, der den Menschen mit all seinen Eigenheiten auch im Konzentrationslager zum Miteinander der Unterscheidbaren drängt. Das KZ war, so gesehen, „ein Extremfall des Sozialen“, der übrigen Gesellschaft sehr wohl ähnlich, aber unter den herrschenden Bedingungen „eher ein Zerrbild“ der Außenwelt.
Das „gigantische Experiment der Entmenschlichung“ zeigte also: Unzerstörbar selbst in der Hölle auf Erden ist die (Selbst-)Definition des Individuums besonders über Geschlecht oder Klasse. Unantastbar ist aber auch, das haben schon die Schöpfer des Grundgesetzes nach dem Ende des Schreckens trotzig formuliert, die Würde des Menschen. Am Ende steht die Einsicht, „dass die von der SS beabsichtigte Dehumanisierung der KZ-Häftlinge ungeachtet aller dahingehender Bemühungen letztlich doch fehlgeschlagen ist“. Dieser Befund macht aus einem guten Buch zu einem bösen Thema eine frohe Botschaft.
Autor: Christian Knatz. Erstveröffentlichung Darmstädter Echo vom 22.04.2009.
Maja Suderland: Ein Extremfall des Sozialen: Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Verlag Campus, 375 Seiten, 39,90 Euro