Nationalsozialismus im Frack
„Das Reich“ war eine der – im wörtlichen Sinne – bemerkenswertesten Zeitungen des Dritten Reiches. So zahlreiche große Namen finden sich in dem NS-Blatt, daß der heutige Leser nur verwundert den Kopf schütteln kann, wenn er einen Artikel von Max Planck oder Theodor Heuss neben einem Leitartikel von Joseph Goebbels vorfindet. Wie kam es dazu?
Die Folgen der Presselenkung
Nach der Machtergreifung hatten die Nationalsozialisten das Pressewesen weitreichend umgestaltet, angestrebt war die Monopolisierung und Beherrschung der öffentlichen Kommunikation (vgl. Frei, 23). Einige Jahre später war das Ergebnis eine uniforme Presse, die stilistisch wie inhaltlich zu einem Einheitsbrei verkommen war. Die Bevölkerung zeigte sich von der kontinuierlichen, plumpen Propaganda der Parteipresse ermüdet und auch im Rest der Welt genoß die deutsche Presse kein hohes Ansehen mehr.
Ein neues Konzept…
Dieser Umstand war auch den Verantwortlichen längst bewußt geworden. Der Stabsleiter im Verwaltungsamt der NS-Presse, Rolf Rienhardt, legte bereits Ende 1937 Amann, Dietrich und Goebbels ein Konzept vor, dessen Vorbild der englische „Observer“ war: So sollte „Das Reich“ „die führende große politische deutsche Wochenzeitung sein, die das Deutsche Reich für In- und Ausland gleich wirksam und eindringlich publizistisch repräsentiert“ (Amann, zit. n. Frei, 108). In jeder Ausgabe sollte ein „Höchstmaß an innerem Gehalt, Gedankenreichtum und Sachsubstanz“ (Abel, 79) erreicht werden.
Doch Rienhardt wußte zu genau, daß dieses Ziel nicht verwirklicht werden konnte, solange nicht einige Lockerungen im Presselenkungssystem vorgenommen würden. Daher vertrat er die Auffassung, daß „Das Reich“ von den Propagandaanweisungen des Reichspressechefs bzw. von der Tagesparole freigestellt werden müsse. Denn gerade diese täglichen Weisungen führten zu der beklagenswerten Uniformität der Presse und damit letztlich zu ihrer Bedeutungslosigkeit. Um hohes Niveau zu garantieren, wollte Rienhardt zudem die führenden Journalisten der deutschen Publizistik und Protagonisten des deutschen Kulturlebens zu den Mitarbeitern des Blattes zählen, also sämtlich Autoren, die durch ihre journalistischen Qualitäten glänzten und nicht nach ihrer Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung ausgewählt wurden.
…das den NS-Funktionären zunächst gefällt
Rienhardt erntete allgemeine Zustimmung oder doch zumindest Duldung. Mündlich (und auch nur vorläufig) erteilte Goebbels die Freistellung von der Tagesparole unter der Bedingung, daß er die Leitartikel schreiben dürfe, ein Umstand, der Rienhardts Intention völlig entgegengesetzt war. Rienhardts vorsichtiger Einwand, daß der jeweils Kompetenteste die Artikel schreiben solle, führte nur zu der peinlichen Gegenfrage, wen er denn in der Politik am kompetentesten halte (vgl. Müller, 10).
Rekrutierung der Mitarbeiter
Als Konsequenz der wirtschaftlichen Presselenkung war Max Amann der uneingeschränkte Herrscher über ein riesiges Verlagsimperium, das heute allgemein als „NS-Pressetrust“ bekannt ist. Das NS-Verwaltungsamt konnte jeden Redakteur nach Belieben innerhalb eines Verlages verwenden und so war es möglich, für den Sitz des Chefredakteurs Eugen Mündler zu rekrutieren, der vorher die Funktion des Chefredakteurs beim liberalen „Berliner Tageblatt“ innehatte. Mündler konnte seinerseits durch diesen „Rekrutierungseffekt“ die journalistische Crème de la crème aus dem „Blätter-Pool“ für seine Redaktion zusammenstellen, wobei er darauf bedacht war, den Anteil der nationalsozialistisch eingestellten Mitarbeiter möglichst gering zu halten (vgl. Abel, 84f.).
Mitarbeiter wie Theodor Heuss, Max Planck, Elisabeth Noelle und Werner Höfer nutzten die Chance, die ihnen eine vergleichsweise liberal eingestellte Redaktion bot: „[D]ie Möglichkeit zur Weglassung nationalsozialistischer Phrasen, der ausweichenden Behandlung von vorgeschriebenen Pflichtthemen, des Ausweichens auf unpolitische Probleme, der vorsichtigen Erwähnung und Einstreuung von tabuisierten Tatsachen und Zusammenhängen – vor allem aber die Gelegenheit, eine graduell differenzierende Schreibweise zu üben, nachdem unter den Zwängen des totalitären Staates, wie sie auch in seiner Presselenkung zum Ausdruck kamen, eine prinzipielle Distanzierung nur unter stärkstem persönlichen Risiko möglich gewesen wäre“ (Abel, 94).
Als Wochenzeitung die Nummer 1
„Das Reich“ wurde ein voller Erfolg. Die ursprünglich anvisierte Auflagenhöhe von 100 000 Stück mußte bereits für die Erstausgabe vom 26.5.1940 nachträglich verdoppelt werden. Bis 1944 stieg die Auflagenhöhe auf 1,4 Millionen Exemplare an (vgl. Frei, 109f.), der ursprüngliche Umfang von 32 Seiten schrumpfte zwar im Zuge der Papierzuweisung in den Folgejahren auf acht Seiten, die Hauptinhalte Kultur und Politik blieben jedoch in ihrem Konzept bis zum Schluß erhalten. Mit seiner enormen Auflage wurde „Das Reich“ neben dem „Völkischen Beobachter“ das zweitgrößte publizistische Organ in Deutschland.
Das Reich – Nationalsozialismus im Frack?
Wenn sich beim Leser bisher der Eindruck eingestellt haben sollte, „Das Reich“ sei ein in seiner Intention „anti-nationalsozialistisches“ Blatt, so muß dies nun korrigiert werden:
„Von den Morden der Einsatzgruppen des SS stand ebensowenig im Reich wie von der fabrikmäßigen Vernichtung der europäischen Juden. Von ,vernichten‘ und ,ausrotten‘ sprach nur Goebbels, der auch das Reich wiederholt als Forum übler Hetze gebrauchte. […] Antijüdische Politik erschien nicht zuletzt als ein Ordnungsvorgang: ,Auf sozialem und hygienischem Gebiet hat die deutsche Verwaltung Großes geleistet […]. Die Absonderung der Juden, die als Träger von Krankheitskeimen ganz besonders gefährlich sind, hat hier einen wichtigen Nebenerfolg bewirkt‘, schrieb der Autor Max Bergemann im Juli 1943. […] Auch im Reich war US-Präsident Roosevelt im Kriege ein ,Exponent des Weltjudentums‘ und seine Politik von ,jüdischer Heimtücke'“ (Frei, 117).
Es fällt daher aus heutiger Sicht nicht leicht, die großen Namen unter den „Reich“-Artikeln ohne Argwohn zu betrachten. Der Wunsch, zu publizieren und den journalistischen Beruf nicht aufzugeben, wog stärker als die grundsätzlich distanzierte Einstellung der meisten Mitarbeiter dem Regime gegenüber. Die latente Gefahr, selbst in ein KZ eingewiesen zu werden, die Befürchtung, daß das Regime wohl nicht tausend Jahre, aber wohl die eigene Lebenszeit überdauern würde, all das verstärkte den Wunsch, sich mit dem Regime „zu arrangieren“.
Das gefährliche Resultat war jedoch die Wirkung des Blattes: „Was als Tradierung [der ,alten‘ journalistischen Werte] gemeint war, wurde zur Transformierung, die den Nationalsozialismus positiv auflud. In den Worten eines Reich-Lesers: die Zeitung ließ Zweifel aufkommen, ob am Nationalsozialismus nicht doch etwas Diskutables sei“ (Müller, 14).
Autor: Christian A. Braun
Literatur
Abel, Karl-Dietrich: Presselenkung im NS-Staat. Berlin 1968.
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Frei, Norbert: Journalismus im dritten Reich. München, 3. Auflage 1999.
Hagemann, Jürgen: Die Presselenkung im Dritten Reich. Bonn 1970.
Martens, Erika: Zum Beispiel „Das Reich“. Zur Phänomenologie der Presse im totalitären Regime.
Müller, Hans Dieter (Hrsg.): Facsimile Querschnitt durch Das Reich. München u.a. 1964.
Pürer, Heinz / Raabe, Johannes: Medien in Deutschland. Band 1: Presse. München 1994.
Toepser-Ziegert, Gabriele: NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit : e. Einf. in ihre Edition / Gabriele Toepser-Ziegert. [Hrsg. von Hans Bohrmann]. – München ; New York ; London ; Paris: Saur, 1984. (NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit ; Bd. 1.).
Wulf, Josef: Presse und Funk im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt u.a. 1983.