Klaus-Michael Mallmann / Andrej Angrick / Jürgen Matthäus / Martin Cüppers (Hrsg.): Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Darmstadt 2011.
Massenmord der Tötungskommandos als „Geheime Reichssache“!
„Die ‚Ereignismeldungen UdSSR‘ 1941“ sind elementare historische Zeitzeugen der brutalsten Unmenschlichkeit der nationalsozialistischen Verbrecher während des expansiven Vernichtungsfeldzuges in Osteuropa.
Mit „Die ‚Ereignismeldungen UdSSR‘ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion I“ publiziert die Forschungsstelle Ludwigsburg in Zusammenarbeit mit den vier Historikern Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus, Martin Cüppers und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur sowie dem United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C. eine außergewöhnlich umfassende Dokumentation auf 927 Seiten der originalen Einzelberichte der Einsatzgruppen im Russlandfeldzug. Es handelt sich um die erste einer vierbändigen Edition, deren im Wortlaut wiedergegebene Quellensammlung erstmalig auch für einen Personenkreis außerhalb der Holocaustforschungslandschaft zugänglich gemacht wird.
Die Dokumentation der Einzelberichte beginnt mit dem ersten Tag des Russlandfeldzuges mit der „Sammelmeldung UdSSR Nr. 1“ vom 23. Juni 1941 und endet mit der „Ereignismeldung UdSSR Nr. 149“ vom 22. Dezember 1941. Den vier Einsatzgruppen A bis D mit ihren Sonder- und Einsatzkommandos, geleitet von Führungspersonen der Kriminalpolizei, der Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes, fallen in diesem Zeitraum mindestens über 500.000 Menschen zum Opfer.
Einordnung des Mordprozesses
Mit den Einzelmeldungen erschließt sich der im Völkermord der europäischen Juden mündende Motivationsprozess der Einsatzkommandos und ihrer Helfer aus der Täterperspektive. Diese im Wortlaut wiedergegebene Perspektive, ergänzt um Anmerkungen und bibliografische Hinweise, geografische Karten, Opfer- und Täterbilder, ermöglicht es, diesen dynamischen Mordprozess in seiner Entwicklung einzuordnen.
Wobei die Einzelberichte nicht allein Tötungsberichte sind. Die Mordmaschinerie ist eingebettet in ein komplexes Berichtsbild, das Situationsdarstellungen der militärischen und wirtschaftlichen Lage, des Wiederaufbaus, der Bildungs- und Kulturentwicklung, der Propaganda, der Kollaboration, des Klerus, der Entwicklung der Volksdeutschen, des Verhaltens der Kommandos, des Antikommunismus, der Vernichtung der Kommunisten, der Stimmungslage innerhalb der Bevölkerung, des Antisemitismus, der Lösung der Judenfrage und der Judenverfolgung bis zu ihrer physischen Vernichtung aufweist.
Das Judenproblem
Die Informationen zur Ökonomie sowie zur politischen und gesellschaftlichen Stabilität des jeweils besetzten Gebietes liefern das Bild einer Risikoabwägung und des künftigen Entwicklungspotentials. Die dabei vorgenommene Problemanalyse identifiziert den jüdischen Bolschewismus als Problem, dessen Verursacher die Juden sind. Im Sprachgebrauch manifestiert sich das Problem als „Judenproblem“, dessen Lösung in der Vernichtung liegt.
„Dass die kommunistischen Umtriebe bei den Juden wärmsten unterstützt werden, braucht nicht besonders betont zu werden. Die unter den obwaltenden Umständen einzige Möglichkeit, dem Treiben der Juden in Wolhynien ein Ende zu machen und damit dem Bolschewismus seinen fruchtbarsten Boden zu entziehen, ist die vollständige Ausrottung der Juden, die als Arbeitskräfte fraglos weniger Nutzen bringen, als sie als ‚Bakterienträger‘ des Kommunismus Schaden anrichten.“
Die Dynamik des Vernichtungsprozesses
Mit dem Rückzug des Kommunismus entlädt sich der unter dem stalinistischen Terror blockierte antisemitische Hass. Die Ukrainer „…hassen die Juden aus tiefster Seele.“ Jude und Bolschewismus projiziert auf ein Feindbild, das nun mit Hilfe der deutschen umjubelten Befreier bekämpft wird. Die Kommandos finden damit eine Basis der aktiven Unterstützung für die Lösung des sogenannten Judenproblems.
„In seine Einstellung zum Judentum hat das Estriche Volk eine Position bezogen, die sämtliche Voraussetzungen zu einem aktiven Einsatz bei der endgültigen Lösung des Judenproblems in sich birgt.“
Pogromstimmungen gegen Juden werden von deutscher Seite angeheizt, die aufgebrachte Bevölkerung, insbesondere noch durch Begünstigungen wie jüdische Wohnungszuweisungen, zur Judenjagd motiviert. Die Synagogen brennen, Juden werden verraten und entrechtet, ihr Vermögen beschlagnahmt, es kommt zur Ghettoisierung bis zur Massentötung.
„In Grodno und Lida sind zunächst in den ersten Tagen nur 96 Juden exekutiert worden. Ich habe Befehl gegeben, daß hier erheblich zu intensivieren sei.“
Die Lösung der Judenfrage
Ist die so genannte „Lösung der Judenfrage durch umfassenden Arbeitseinsatz der Juden“ geplant, so rückt anstelle der längerfristigen natürlichen Liquidierung nun die kaltblütig durchgeführte Massentötung. Ziel ist es, die Orte „judenfrei“ zu bekommen. Argumente für den kaltblütig geplanten Mord sind unter anderem, dass die Juden und die Führer des Bolschewismus eins seien, dass die Juden den Bolschewismus unterstützen, dass sie unter den Bolschewisten die besten Positionen gehabt haben, dass sie arrogant sind, zudem überheblich, dass sie sich weigern ihren verordneten Judenstern zu tragen, dass sie die öffentliche Ordnung gefährden, dass sie trotz etlicher Liquidierungen noch frech seien, dass sie ihr Judentum verschleiern, dass die Judenhäuser verseucht seien, dass sie Saboteure seien, dass Vergeltung geübt werden müsse.
„Angesichts dieses bisher einmaligen Vorgehen der Juden ist beabsichtigt, in bestimmten Dörfern die gesamten Juden zusammenzutreiben, sie zu vernichten und die Dörfer dem Erdboden gleichzumachen.“
Mord aus Ideologie, aus Heimtücke, aus reiner Mordlust und als Therapie für mangelndes Selbstwertgefühl. Die eigen empfundene Minderwertigkeit gegenüber den Juden, die darin zum Ausdruck kommt, dass sie als arrogant, überheblich und frech empfunden werden, wird mit dem Tötungsprozess erhöht.
Der Täterkreis
Der Täterkreis reicht von den Hauptverantwortlichen der Sonderkommandos, über die verantwortlichen politischen Eliten wie den Chefs der Ordnungs-, Sicherheits- und Deutschen Polizei, den Verantwortlichen in den Ämtern des Reichssicherheitshauptamts, den Amtschef, den Einsatznachrichtenführern, dem Führungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht, SS-Obersturmbannführer Rauff, Regierungsräten sowie dem Reichsführer der SS bis zu der „selbstreinigenden“ Bevölkerung, der Wehrmacht und derjenigen, die durch Unterlassung und schlicht durch Nichtstun die Massenmorde mit tragen.
„Es hat sich gezeigt, daß der polnische Teil der Bevölkerung die exekutive Tätigkeit der Sicherheitspolizei durch Erstattung von Anzeigen gegen jüdische, russische und auch polnische Bolschewisten unterstützt.“ […] „In Minsk ist nunmehr die gesamte jüdische Intelligenzschicht […] liquidiert worden.“ Die Bevölkerung „… lebte durch diese Maßnahmen sichtlich auf und weiß kaum, wie sie ihre Dankbarkeit bezeugen soll.“
In Kowno erschlägt die litauische Bevölkerung 2.500 Juden.
Die Wehrmacht hilft und beteiligt sich an Massentötungen wie unter anderem bei der Ermordung von 33.771 Juden in Kiew. Dort, wo sie selbst nicht mordet, führt sie den Kommandos immer wieder Juden zum Töten zu.
Massenmord als Quote
Fast jeder Einzelbericht weist eine kaltblütige Spur der Vernichtung auf. „Die Tätigkeit aller Kommandos hat sich zufriedenstellend entwickelt. Vor allem haben sich die Liquidierungen eingespielt, die jetzt täglich in größerem Maße erfolgen.“ Die Tötungsmeldungen tauchen wie beiläufige Alltäglichkeiten und Kontoauflistungen auf. Tötung wird als Arbeit und Tätigkeit deklariert, als Sonderbehandlung, Säuberung, Strafaktionen und Selbstreinigung.
Die Opfer sind Kommunisten, Funktionäre, Partisanen, sogenannte rassisch minderwertige und asoziale Elemente, Geisteskranke, Saboteure, sogenannte Arbeitsverweigerer und überwiegend Juden, vom Säugling bis zum Greis.
Die Zahlen reichen von Einzelexekutionen bis zu tausendfachem Mord und spiegeln ein Wettrennen um die besten Quoten wieder.
Töten als Erfolgsmuster
Das Töten offenbart sich als sozialpolitisches Instrument zur Vernichtung des Bolschewismus und zur endgültigen Lösung der Judenfrage. Morden als Handwerk, das seine menschenverachtende Eskalationsdynamik an Quoten zum Ausdruck bringt. Je höher die Quote, desto mehr werden die Mörder als tapfer und tadellos bezeichnet. Ein Wertesystem, das sich am Töten orientiert und Töten als Erfolgsmuster auf dem Weg eines übergeordneten ideologischen Ziels der Eroberung und Unterjochung des Ostraumes und der Vernichtung der Juden sieht.
Vermeintliche Notwehr und Notstand
Die Täter, soweit überhaupt im Einsatzgruppenprozess 1947 angeklagt und vor Gericht gestellt, haben sich auf die vermeintliche Notwehr und den Notstand berufen. Von einem Unrechtsbewusstsein fehlt jede Spur.
Die vermeintliche Notwehr gegen Juden als antisemitische Handlungsform, die sich letztlich im Mord an Säuglingen, Kindern, Jugendlichen, Alten, Frauen und Männern pervertiert.
Der Notstand als unbrauchbares Alibi einer nicht vorhandenen konkreten Handlungsanweisung zum Massenmord. Deutlich wird dieses an den Ereignismeldungen, die auf vereinzelte deutsche Offiziere verweisen, die sich der Beteiligung an den Verbrechen nicht nur verweigert haben, sondern die sogar Kriegsverbrecherprozesse initiiert haben.
Auch innerhalb der Bevölkerung bestand jederzeit die Möglichkeit Widerstand zu leisten und sich nicht aktiv an den Verbrechen zu beteiligen. Die Weigerung von Bevölkerungsgruppen Pogrome in Gang zu setzen und der polnische Judenschutz sowie die Einzelaktion des römisch-katholischen Pfarrers Jonas Gylys, der den inhaftierten Juden beigestanden hat, sind exemplarische Belege.
Zur Normalität der Täter und der Verurteilungspraxis
Sowie die Tötungsberichte wie ganz normale Geschäftsberichte weitergeleitet worden sind, so zeigt sich in der retrospektiven Betrachtung die Normalität der Täter und der gesellschaftlichen Verurteilungspraxis. Die Täter sind keine sich außerhalb der gesellschaftlichen Norm bewegenden Personen, sondern überwiegend Akademiker und gesellschaftlich gefestigt. Sie sind nach dem Krieg weitgehend in der Normalität wieder eingetaucht. Im Ulmer Einsatzgruppenprozess werden für tausendfachen Mord lediglich zehn Personen angeklagt. Ein Zeichen gesellschaftlicher Normalität. Für „gemeinschaftliche Beihilfe in gemeinschaftlichem Mord“ liegt die Bestrafung zwischen 3 bis 15 Jahren Zuchthaus bei Anrechnung der Untersuchungshaft. So erhält der Angeklagte Schmidt-Hammer für die gemeinschaftliche Beihilfe in gemeinschaftlichem Mord in 526 Fällen 3 Jahre Zuchthaus, ein Stück gesellschaftlicher Normalität. So ist der Hauptverantwortliche für den Massenmord durch Gaswagen Walther Rauff ein Mitarbeiter des neu gegründeten Bundesnachrichtendienstes. Ein Stück gesellschaftlicher Normalität.
Autorin: Soraya Levin
Erstveröffentlichung auf der Website LIPOLA
Klaus-Michael Mallmann / Andrej Angrick / Jürgen Matthäus / Martin Cüppers (Hrsg.): Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Band 1 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 20). WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 2011, 927 Seiten, ISBN 978-3-534-24468-3, EUR 79,95.