„Der Hauptmann“ – die Geschichte vom Henker vom Emsland
Die Liste der Kriegsverbrecher im Zweiten Weltkrieg ist lang und viele ihrer Namen sind uns wohl bekannt. Von eher geringer Bekanntheit ist die Geschichte vom Henker vom Emsland: Willi Paul Herold (1925 – 1946). Eben diese Geschichte, die sich in den letzten Tagen des Krieges zutrug, ist Gegenstand des Films „Der Hauptmann“ von Robert Schwentke (*1968).
Zwei Wochen vor Kriegsende an der nördlichen Westfront: Der fahnenflüchtige Gefreite Willi Herold (gespielt von Max Hubacher, *1993) ist auf der Flucht vor den Feldjägern. Ausgehungert und frierend schlägt er sich durch, bis er in einem liegen gebliebenen Auto eine Hauptmannsuniform findet. Er zieht die Uniform an und wird vom vorbeikommenden Gefreiten Walter Freytag (Milan Peschel, *1968) für einen echten Hauptmann gehalten, eine Rolle, in die er sich in den folgenden Tagen immer weiter hineinsteigert. Es wird eine Köpenickiade, die allerdings anders als das Spitzbubenstück ihres Namensgebers Friedrich Wilhelm Voigt (1849 – 1922) alles andere als erheiternd ist. Während der legendäre Hauptmann von Köpenick Voigt den Militarismus und die Obrigkeitshörigkeit des wilhelminischen Kaiserreichs ausnutzte, um einen kleinen Coup zu drehen und die Stadtkasse raubte, berauschte Herold sich an der Macht und missbrauchte sie in einem ohnehin schon völlig unmoralischen, von Hass und Gewalt zerfressenen System, das im Untergang begriffen war.
Die Lage vieler Soldaten, die genau das erkannt hatten, war kurz vor Kriegsende schlecht. Sie kämpften einen aussichtslosen Kampf, was viele zum Desertieren veranlasste, woraufhin sie – wie im Film auch gut dargestellt – sich von den eigenen und den feindlichen Truppen gejagt durchschlugen, indem sie von der Zivilbevölkerung stahlen, was dann wiederum zur Lynchjustiz führte. Einem solchen Lynchakt entkommt Herold zu Beginn des Films. Später, bereits in seiner Rolle des Hauptmanns, schlägt ihm und Freytag in einer Gaststätte wegen der Plünderungen durch desertierte Wehrmachtssoldaten zunächst der blanke Hass entgegen. Herold gibt daraufhin vor, die Schäden zu protokollieren, um die Menschen seitens des Reichs zu entschädigen. In derselben Nacht wird ein Soldat beim Plündern erwischt und die Dorfbewohner nötigen Herold, ihn hinzurichten. Noch hat Herold Gewissensbisse, doch sein Abstieg beginnt gerade erst.
Er sammelt weitere versprengte Soldaten um sich und gründet so die „Kampfgruppe Herold“. Durch sein autoritäres herrisches Auftreten kann Herold sich durch Kontrollen mogeln. Sein Gespinst aus Lügen führt ihn letztendlich in das Emslandlager Aschendorfermoor, wo er mit den Worten „Der Führer persönlich hat mir unbeschränkte Vollmachten erteilt“ vorgibt, er sei geschickt worden, um im Gefangenenlager für Ordnung zu sorgen. Dem kommandierenden SA‑Führer Schütte (Bernd Hölscher, * 1971), der sich ein militärisches Standgericht für viele der Insassen seines überfüllten Lagers wünscht, kommt der falsche Hauptmann gerade recht. Er selbst hätte sich als treuer und gehorsamer NS-Soldat nie getraut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, Herold hingegen gefällt sich in seiner machtvollen Position mit Vollmacht von Adolf Hitler (1889 – 1945) selbst. Doch der bürokratische Lagerleiter Hansen (Waldemar Kobus, * 1966) stellt sich zunächst quer und muss ausgetrickst werden. Hier zeigt der Film wunderbar auf, dass die gesamte Struktur und Hierarchie der NS-Diktatur nach dem Prinzip Divide et impera („Teile und Herrsche“) aufgebaut war: Hitler ließ die einzelnen Behörden von Staat, Partei und Militär in einem ständigen Gerangel um Zuständigkeiten miteinander konkurrieren, wodurch alle Entscheidungsgewalt im Zweifelsfall bei der Person zusammenlief, die allen Organisationen als oberster Befehlshaber vorstand: Hitler selbst. Da Herold aber vorgeblich in Hitlers Auftrag handelt und dies wegen des Kompetenzgeschachers auf die Schnelle nicht widerlegt werden kann, übernimmt er de facto die Kontrolle.
Er und Schütte richten daraufhin ein Massaker unter den Gefangenen an, das, obwohl nicht in aller Deutlichkeit gezeigt, durch seine schiere Länge quälend auf den Zuschauer wirkt. Während einige von Herolds Untergebenen seinen nun aufflammenden Sadismus teilen, tut Freytag sich schwer und ihm beginnt zu dämmern, dass er einem falschen Hauptmann folgt. Das stachelt den von seiner Macht berauschten Herold an, Freytag gezielt die Verübung von Gräueln zu befehlen. Herold ordnet als Belohnung für den „Erfolg“ einen „Bunten Abend“ an und die Offiziere feiern ausgelassen, wobei Herold es sich nicht nehmen lässt, zwei gefangene Schauspieler, die für Unterhaltung sorgen sollen, ebenfalls zu demütigen. Einen der beiden kann er aber für seine Morde einspannen, die er bis zur Vernichtung des Lagers durch die britische Luftwaffe fortsetzt. Damit ist der Machtrausch des „Schnellgerichts Herold“ keineswegs vorbei.
In einer Nachbarstadt ermorden sie den Bürgermeister, der die Alliierten mit einem weißen Banner willkommen („Welcome“) geheißen hatte, und feiern anschließend eine wilde Orgie, bei der Herold und Kipinski (Frederick Lau, *1989), der Herold von Anfang an durchschaut hatte, aber aus Gefallen an den Blutorgien mitgespielt hatte, beide Irmgard Pieper (Eugénie Anselin, *1992) umgarnen. Herold lässt Kipinski daraufhin foltern und erschießen. Am nächsten Morgen fliegt die Maskerade dann endgültig auf und Herold wird verhaftet.
Wären es nicht die Nazis, wäre er als Kriegsverbrecher verurteilt worden, doch stattdessen gibt es Fürsprecher bei der Anhörung, die sein beherztes Durchgreifen loben. Alles Weitere wartet Herold jedoch nicht ab und türmt ein weiteres Mal – diesmal aus seiner Zelle, aus dessen Fenster er sich abseilt. Dass Herold 1945 von der Royal Navy gefangen genommen und 1946 mit sechs Mittätern als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde, erfährt man aus dem Abspann, der im Anschluss zeigt, wie Herold mit seiner Truppe durch das heutige Görlitz fährt und marodiert.
„Der Hauptmann“ zeigt eine bisher in der künstlerischen Rezeption wenig beleuchtete Seite des Zweiten Weltkrieges: die verzweifelte Lage deutscher Soldaten bei Kriegsende, aber auch die daraus resultierenden Gräueltaten. Herolds blutige Köpenickiade hätte in einem anderen Militär als dem einer militaristischen Diktatur mit Kompetenzgeschacher wie dem NS-Regime kaum funktioniert, wobei sich auch die Frage stellt, ob jemand unter anderen Umständen sich überhaupt in so eine moralische Abwärtsspirale begeben hätte. Die Frage, ob Herold von Natur aus ein Sadist war oder sich bedingt durch die Umstände dazu entwickelte, überlässt der Film wie vieles der Deutung des Zuschauers. Überhaupt ist der Film recht nüchtern in seiner Darstellung, dramatisiert wenig, sondern lässt die Ereignisse für sich stehen. Dazu trägt sicherlich auch die Entscheidung bei, den Film wie etwa auch „Schindlers Liste“ in Schwarz-Weiß zu halten. So entsteht eine gewisse Distanz zum Geschehen, was vielleicht auch ganz gut ist, denn ein Film wie „Der Hauptmann“ sollte nicht zur Identifikation mit irgendeiner der handelnden Personen einladen.