Der Brief Edith Steins an Papst Pius XI. ist ein zeit- und kirchenhistorisches Dokument ersten Ranges. Was die gelehrte Husserl-Schülerin und angehende katholische Ordensfrau des Karmel zum Anbruch der Nacht über Deutschland nach Rom schrieb, ist brisant und in jeder Hinsicht prophetisch.
Leider war der Brief siebzig Jahre lang der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Der Vatikan hielt ihn für verschollen. Edith hatte keine Abschrift hinterlassen. Erst im Zuge der Teilöffnung des Päpstlichen Geheimarchivs für die NS-Forschung (2003) wurde der Brief entdeckt und konnte veröffentlicht werden.
Dr. phil. Edith Stein war im Frühjahr 1933 dreiundvierzig Jahre alt und eine angesehene Wissenschaftlerin auf philosophischen, theologischen und pädagogischen Gebieten. Sie war nicht nur als Philosophin bekannt, sondern war auch als pädagogische und theologische Referentin über die Landesgrenzen hinaus geschätzt. Auf theologischem Gebiet zum Beispiel hatte sie sich mit diversen Übersetzungen und Kommentierungen, vor allem mit dem begonnenen Opus zu Thomas v. Aquin, auch in kirchlichen Kreisen einen Namen gemacht.
Vor gut elf Jahren war sie nach eigener Aussage als Atheistin aus ehemals streng gläubigem jüdischem Elternhaus zum christlichen Glauben konvertiert. Am 1. Januar 1922 hatte sie sich taufen lassen und war Mitglied der katholischen Kirche geworden. Ihren jüdischen Wurzeln blieb sie aber stets verbunden.
Der damalige Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli – der spätere Pius XII. – kannte Edith Stein und ihr Arbeit. Einmal waren sie sich persönlich begegnet, als Pacelli noch Nuntius in Deutschland war. Er war zu einem Jubiläumsbesuch nach Speyer gekommen (700 Jahre St. Magdalena), wo er von Edith Stein begrüßt wurde. Sie war ausgewählt worden, den Nuntius im Namen des Lehrkollegiums willkommen zu heißen.
Schon im März 1933 beurteilte Edith Stein die neue NS-Regierung äußerst kritisch. Alarmiert durch die ersten antisemitischen Ausschreitungen, die von den NS-Machthabern angezettelt wurden, wollte sie Rom zum Einschreiten bewegen.
Den Papst alarmieren
Edith Stein fasste den Plan, eine Privataudienz bei Papst Pius XI. zu erwirken. Sie wollte seine Heiligkeit von Angesicht zu Angesicht über die Lage in Deutschland informieren und beschwören, eine Enzyklika oder wenigsten eine päpstliche Verlautbarung gegen den aufblühenden gewaltsamen Antisemitismus zu veröffentlichen.
Nachdem Edith in Rom sondiert hatte, ob es irgendeine Möglichkeit gebe, beim Papst eine Privataudienz zu bekommen, musste sie sich das ambitionierte Vorhaben rasch aus dem Kopf schlagen. Man ließ sie wissen, dass es ganz und gar aussichtslos sei, den Papst zu sprechen, besonders in diesem „Heiligen Jahr“ 1933. Allenfalls könne sie in einer Pilgergruppe einer allgemeinen, stummen Audienz beiwohnen.
Ob Edith in Rom eigenmächtig nachgefühlt hatte oder den Weg über die Nuntiatur in Berlin nahm oder Kontakte in der Erzabtei Kloster Beuron nutzte, ist nicht bekannt.
Die bürokratische Abwehr in Rom enttäuschte Edith Stein. Das Argument, es sei gerade das „Heilige Jahr der Erlösung“ und der Papst habe schlicht keine Zeit für solche Privataudienzen, wollte sie nicht akzeptieren. Ausgerechnet dieses „Heilige Jahr“ zur Feier Erlösung durch den jüdischen Messias Jesus Christus vor genau 1900 Jahren war für Edith Stein so geeignet wie kein anderes, um die neue Judenverfolgung mitten im christlichen Europa vom Stellvertreter des Jesus von Nazareth zum Thema ersten Ranges zu machen.
Rasch fasste sie den Entschluss, dem Papst wenigstens einen persönlichen Brief zu schreiben. Wenn sie schon nicht empfangen werde, könnte sie vielleicht erreichen, dass Pius XI. einen Brandbrief von ihr auf den Schreibtisch bekäme.
Edith Stein wandte sich an Erzabt Raphael Walzer von Kloster Beuron. Der Abt war seit Jahren ihr geistlicher Begleiter, und er kannte Kardinalstaatssekretär Pacelli sehr gut. Er könnte ihren Brief direkt in den Apostolischen Palast lancieren.
Als Edith zu den gewohnten geistlichen Exerzitien in der Passionswoche Anfang April nach Beuron kam, übergab sie Abt Walzer einen verschlossenen Umschlag mit dem Schreiben an Pius XI. Pater Walzer erklärte sich bereit, den Brief mit einem befürworteten Begleitschreiben an Staatssekretär Pacelli zu senden. Nach allem was man weiß, hat der Erzabt nicht darauf bestanden den Text vorher zu lesen und abzusegnen. Er schicke den Brief original verschlossen nach Rom.
Staatssekretär Pacelli übergab den Brief „pflichtgemäß“ – wie er sich ausdrückte – Papst Pius XI. Dieser konnte den Brief original lesen, da er ziemlich gut deutsch verstand. Edith Stein hatte den zweiseitigen Brief fein säuberlich auf Schreibmaschine getippt. Sie unterschrieb mit „Dr. Editha Stein“ und der Berufsbezeichnung. Ein Datum fehlt; vermutlich war es der 8. oder 9. April 1933. Sie hatte den Brief in Münster geschrieben, kurz vor ihrer Abreise nach Beuron, wo sie üblicherweise die Karwoche und die Osterfeierlichkeiten miterlebte.
Ein prophetischer Brief
Edith Stein argumentierte scharf und schlug einen dringlichen Ton an. Geradezu beschwörend legte sie die Finger auf genau jene wunde Stelle, die für die Kirche bedrohlich war, tödlich bedrohlich: der gewaltsame Antisemitismus eines Staates.
Wenn dazu noch länger geschwiegen werde, sei „das Schlimmste für das Ansehen der Kirche“ zu befürchten. Das schrieb sie bereits Ende März 1933! Offensichtlich leuchteten bei ihr schon seit vier Wochen alle roten Warnlampen. Sie hatte die Hoffnung, dass auch im Vatikan rote Lampen brennen würden. Konnte der Stellvertreter des Juden Jesus Christus noch einen Augenblick zögern, entsetzt aufzustehen und die Judenverfolgung in NS-Deutschland zu brandmarken?
Ein „Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut“ habe begonnen! Dieser Frevel sei eine Schmähung Jesu Christi, der Jungfrau Maria und aller Apostel. Dieses Argument wirkt wie ein Faustschlag auf die theologisch wie diplomatisch empfindlichste Stelle der Kirche. Edith Stein wollte mit diesem dritten Argument den Papst endgültig alarmieren.
Zuvor hatte sie humanitär und politisch argumentiert. Das schreckliche Geschehen in den letzten Wochen spräche jeder Gerechtigkeit, Menschlichkeit und simpler Nächstenliebe Hohn, so Stein entrüstet. Die Machthaber der jetzigen Regierung hätten seit Jahren den Judenhass gepredigt, und nun sei die Saat aufgegangen. Die Regierung habe verbrecherische Elemente sogar bewaffnet, um über Juden herzufallen. Dazu komme die unerträgliche Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt. Die öffentliche Meinung werde geknebelt und manipuliert, wie es der Regierung gerade passe. Und diese nenne sich auch noch christlich! Eine offene Häresie!
In Rom solle man sich nicht der Illusion hingeben, durch ein Schweigen den Frieden mit dieser Regierung auf Dauer erkaufen zu können. Die NS-Regierung ist in ihrem Wesen durch und durch antichristlich und judenmordend. Diplomatisches Kalkül gegenüber diesen Machthabern sei nicht nur nutzlos, sondern verbiete sich von selbst.
Besonders tragisch für Edith Stein war, dass Rom gleichzeitig zu ihrem Brandbrief Verhandlungen über ein Reichskonkordat mit Hitler aufnahm. Mit dem Konkordat wollte man erreichen, was Edith für eine Illusion hielt, nämlich Frieden zwischen dem NS-Staat und der Kirche. Noch bevor eine Zeile des Konkordats geschrieben war, ahnte Edith, was der Vatikan Berlin anbieten werde: Rückzug der Kirche in den rein religiös-seelsorgerlichen Bereich der eigenen Mitglieder und Verzicht auf jedwede Einflussnahme auf die Politik der Regierung (keinen „politischen Katholizismus“ mehr). Fortan wurde der alte staatliche Paragraph des sogenannten „Kanzelmissbrauchs“ aus den Zeiten des Kulturkampfes auch von kirchenamtlicher Seite festgeschrieben. Wenn sich zuvor einzelne Bischöfe oder Pfarrer in ihrem Gewissen gedrängt fühlten, ungerechte, inhumane Aktionen der Regierung anzuprangern, war das Kirchenrecht, war der Vatikan, auf ihrer Seite. Mit dem Reichskonkordat änderte sich das. Jetzt war jeder Bischof und sein Klerus verpflichtet, die NS-Regierung zu achten und jeden Schaden zu verhüten trachten, der das Wohl des Volkes gefährdet (Art. 16). Selbstredend war es Angelegenheit der Regierung zu bestimmen, was das Wohl des Deutschen Volkes bedrohte – z.B. die Juden.
In ihrem Brief nahm Edith Stein kein Blatt vor den Mund, als sie den Papst vorrechnete, dass tausende Katholiken in Deutschland und noch mehr auf der ganzen Welt auf ein Wort der Kirche warten würden. Zwei Sätze vor diesem Weckruf formulierte Edith den bemerkenswerten Satz: Die Verantwortung für die jüdischen Opfer falle auch auf jene, die dazu schweigen. Das musste Pius XI. und seinem Kardinalstaatssekretär Pacelli, dem Nachfolgerpapst Pius XII., wie ein Fanal aus einer anderen Welt klingen.
Mitschuld wegen Schweigen! Mitschuld in Rom für die toten und verfolgten Juden in Deutschland!
Was Edith Stein hier dem Papst vorhielt, ist ungeheuerlich. Es ist weit weg vom üblichen diplomatischen und frommen Sprachgebrauch gegenüber dem Stuhl Petri. Mitverantwortlich zu sein an der Verfolgung und Tötung von Menschen gehört mit zu den schwersten ethischen Vorwürfen in der kirchlichen Moraltheologie.
Man mag einwenden, dass Edith Stein ihren Brief in einer aufgeheizten, tödlichen Atmosphäre schrieb und dass ihre Formulierungen nicht so drastisch genommen werden dürfen, wie sie dastehen. Dagegen sprechen die argumentative Diktion des Briefes und die Autorin selbst. Edith Stein war philosophisch-theologisch exzellent gebildet und pädagogisch beschlagen. Sie war äußerst loyal gegenüber der Kirche und dem Heiligen Stuhl. Es ist abwegig anzunehmen, dass sie den Papst unbedachte Worte vorhielt, Worte, die sie so nicht meinte oder deren Tragweite sie nicht ermessen hatte.
Allein schon die Rückschau Schwester Benedictas, so der Ordensname Edith Steins, auf ihren Brief nach fünf Jahren Klosterklausur zeigt anderes. Sie stand uneingeschränkt zu ihrem Brief. Sie hatte nichts geschrieben, was sine ira et studio und bei kirchendiplomatischem Licht gesehen ungerechtfertigt oder nur unbedacht war.
Sr. Benedicta bedauerte sehr, dass Rom in keiner Form reagiert hatte – außer einem allgemeinen Segen für sie und ihre Angehörigen einige Zeit später. Vielleicht habe der Papst nach 1933 mehrmals an ihre Worte gedacht, sinnierte sie. Denn neben der Judenverfolgung habe auch der von ihr vorausgesagte NS-Kirchenkampf begonnen. Spätere Äußerungen zu ihrem Brandbrief gegen das Schweigen der Kirche zur Judenverfolgung sind von Sr. Benedicta nicht bekannt.
Vier Jahre später klagte Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Mit brennender Sorge (1937) die NS-Machthaber an, die seit damals ausgestreckte Hand immer wieder zu beißen. Von Wahrung der Rechte der Kirche könne man beim besten Willen nicht reden. Ständig würde Berlin vertragliches Recht brechen oder umdeuten. Unter der Ideologie des Nationalsozialismus könne die Kirche ihre seelsorgerlichen Aufgaben nicht ungehindert ausüben.
Was sich im täglichen Leben dieses Volkes abspielte, jenseits der kirchlichen Glaubenswelt, war kein Thema in der Enzyklika. Interessierte Leser in der ganzen Welt erfuhren nichts darüber, wie sehr das NS-Regime durch polizeiliche Willkür terrorisierte, alle möglichen Leute ohne Verfahren in KZs verschwinden ließ und die Juden als Untermenschen zunehmend verfolgte.
Das, was Edith Stein so am Herzen lag, der Aufschrei des Stellvertreters Christi gegen die Gewalttaten am alten Volk Gottes, war der päpstlichen Enzyklika nicht mal ein Wort wert. Der Text macht einen großen Bogen darum. Für Kritik am schreienden Unrecht im NS-Staat sah man im Vatikan kein Mandat.
Wer schweigt, macht sich mitschuldig! Dieses Verdikt Edith Steins schon zu Beginn der Judenverfolgung 1933 gilt mehr denn je im Angesicht der Vernichtungslager, der Hungerghettos und der Killing-Fields in Osten.
Miterlebt hatte Edith Stein das Kriegsende nicht mehr. Sie wurde selbst ein Opfer des Holocaust. Ende 1938 war sie aus Köln ins vorerst sichere Holland (Kloster Echt) „geflohen“. Als nach der deutschen Besatzung auch dort die Juden verfolgt und deportiert wurden, bemühte man sich, für sie und ihre Schwester Rosa um eine Ausreise in die Schweiz. Dort blieb der Antrag jedoch lange liegen. Kurz nach der Verhaftung und dem Abtransport nach Auschwitz der Geschwister Stein (Anfang August 1942) kam ein ablehnender Bescheid aus der Schweiz. Zwei Wochen später wurde er nach Widerspruch zurückgenommen und die Einreise in die Schweiz genehmigt. Doch das war zu spät. Schwester Benedicta und ihre Schwester Rosa sind gleich am Ankunftstag in Auschwitz (9. August) ins Gas gekommen.
Ob es Edith Stein getröstet hätte, dass sie bald als Vorzeigeheilige zu Ehren der Altäre erhoben und neue Schutzpatronin Europas werden würde? – und dass sie zur andauernden Zierde des Petersdoms mit einer über fünf Meter hohen Statue aus weißem Carrara Marmor unter päpstlichen wie internationalen Ehren in den Vatikan einkehren würde?
Jetzt ist sie jedenfalls dort, wo sie nach 1933 immer hin wollte, um prophetisch zu warnen und Handeln anzumahnen.
Autor: Dr. theol. Klaus Kühlwein
* Edith-Stein-Brief im Päpstlichen Geheimarchiv (ASV):
Archivio della Congregazione degli Affari Ecclesiastici Straordinari, Germania, 4. Periodo, Pos. 643, Fasc. 158, Bla 16r-.17r.
Literatur
Beckmann-Zöller, Beate: Edith Stein als »Prophetin« und Mahnerin der Päpste Pius XI. und Pius XII. und die Bedeutung der Versöhnung mit dem Judentum für die Einheit der Kirche, in Edith-Stein-Jahrbuch Bd. 17 (2011), Würzburg 2011, S. 18-42.
Edith-Stein-Archiv“: http://www.karmelitinnen-koeln.de/.
Feldmann, Christian: Edith Stein, 2. Aufl., Reinbek (Rowohlt-TB), 2004.
Herbstrith, Waltraud: Edith Stein – Jüdin und Christin. Ein Portrait, 4. Aufl., Oberpframmern (Verlag Neue Stadt) 2004.
Neyer, Maria Amata OCD: Der Brief Edith Steins an Pius XI.: in: Stimmen der Zeit, Bd. 221 (2003), Heft 3, S. 147-150.
Schlafke, Jacob: Edith Stein. Dokumente zu ihrem Leben, Köln 1980.