Zwischen allen Stühlen. Die schonungslose Rechenschaft und Anklage der Susanne Kerckhoff
Ähnlich konsterniert wie Hannah Arendt 1950 bei ihrem Besuch nach dem Krieg in Deutschland, so klingt auch Susanne Kerckhoff, wenn sie 1947 berichtet: „Ich habe nicht einen schuldbewussten Nazi angetroffen, nicht einen, nicht einen einzigen! Entweder waren sie gar keine Nazis, oder sie sind, wie es dem charakterfesten deutschen Manne geziemt, stolz darauf, Nazi gewesen zu sein und es zu bleiben, ,bis mal wieder bessere Zeiten kommen!‘“ Die Frau, die dies in einem Brief an einen fiktiven jüdischen Freund in Paris schreibt, hat ihre schriftstellerische Karriere in Nazi-Deutschland begonnen. Ihr Werdegang ist mindestens so interessant wie die dreizehn Briefe an den Freund, der es aus Nazideutschland früh ins Exil schaffte und angeblich in Paris lebte. Das Buch mit den Briefen veröffentlichte Kerckhoff 1948 im Berliner Wedding-Verlag.
Susanne Kerckhoff wurde 1918 in Berlin als Tochter der Cembalistin Eta Harich-Schneider und des Schriftstellers Walther Harich geboren. Wolfgang Harich ist der jüngere Halbbruder aus der zweiten Ehe des Vaters. Kerckhoff blieb in Nazideutschland und begann eine Karriere als Schriftstellerin und Lyrikerin. 1935 veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht in der Illustrierten „Die Dame“. Bis zum Kriegsende folgten Romane, die im weitesten Sinne die Emanzipation einer jungen Frau unter anderem als Künstlerin im bürgerlichen Milieu behandeln. Die Titel Tochter aus gutem Hause (Berlin 1940), Das zaubervolle Jahr (Dresden 1941 und Berlin 1942) sowie In der goldenen Kugel (Dresden 1944) lassen eher Unverfängliches und die Zensur durch Reichsschrifttumskammer mit Leichtigkeit umschiffende Unterhaltungsliteratur vermuten. Dennoch stand Kerckhoff geistig in Opposition zu den Nazis und leistete im Verborgenen Hilfe für jüdische Menschen. Sie war sich völlig im Klaren über das verbrecherische NS-Regime und dessen Todesfabriken und nahm nach dem Krieg politisch Einfluss, um eine Wiederholung zu verhindern. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebte sie in Niedersachsen und trat der SPD bei, die sie enttäuscht wieder verließ. Nach der Trennung von ihrem Mann, in dessen Obhut die Kinder blieben, lebte sie in Ost-Berlin, wo sie Mitglied in diversen gesellschaftlichen Organisationen und auch der SED wurde. Kerckhoff arbeitete neben ihrer schriftstellerischen Karriere als Feuilleton-Redakteurin für die „Berliner Zeitung“, zuletzt sogar in leitender Funktion. In rascher Folge erschienen ein Roman und zwei Gedichtbände. Ihr offener Brief an den antifaschistischen Autor Nico Rost in der „Berliner Zeitung“, dem sie antipolnischen Ressentiments bei der Schilderung von KZ-Häftlingen im Roman Goethe in Dachau vorwarf, wurde vehement und auch sehr polemisch von Stephan Hermlin kritisiert. Letzterer bereute 1994 in einem Gespräch mit der Germanistin Monika Melchert die Härte seine Kritik, zumal er eigentlich Kerckhoffs ehrlich antifaschistische Haltung sehr geschätzt habe.
Die Berliner Briefe sind das letzte Werk von Kerckhoff, das noch kurz vor ihrem Freitod 1950 in der DDR erschien. In den dreizehn Briefen an den fiktiven jüdischen Freund in Paris geht sie mit sich und den Deutschen ins Gericht. In einer Vorbemerkung schreibt sie: „In diesen Briefen spiegeln sich Ratlosigkeit und Hoffnung. Ein Mensch bemüht sich, innerhalb der gegebenen Situation über das politische Woher und Wohin Rechenschaft abzulegen.“ Selbstanklagend kritisiert sie die Passivität, das Wegschauen- und ducken: „Es gab ganz andere Menschen – aber ich gehöre nicht dazu. Ich habe während der zwölf Jahre nicht unter der selbstgewählten Geißel eines illegalen Kämpfertums gelebt …“. „Die rücksichtlose Kritik an meiner persönlichen Haltung setzte erst nach dem Kriege ein.“ Direkt thematisiert sie die „Judenfrage“: „Theoretisch bin ich keine Philosemit. Ich halte die Juden nicht für das Salz der Erde. Ich halte sie für schwach und stark im Guten und im Bösen, wie alle Menschen, und finde einen Philosemitismus ebenso absurd, ja verwerflich, wie Antisemitismus.“ Sie teilt aus gegen die Restaurationspolitik im Westen wie auch die Haltung in der sowjetischen Zone, sich als antifaschistisch fundiert für das bessere Deutschland zu halten, obwohl doch die Bevölkerung ebenso stark in das Nazi-Regime involviert war. Sie beklagt ebenso wie Hannah Arendt, dass sich die Deutschen vor allem selber bemitleiden und zur Empathie mit den Opfern des Faschismus nicht fähig sind. Die Atmosphäre der erbitterten ideologischen Kämpfe, die nur Schwarz und Weiß zuließen, das Klima der Verdächtigungen unter Kommunisten enttäuschten sie zunehmend und sind mit verantwortlich für Kerckhoffs Suizid.
So pathetisch und manchmal auch fremd die Sprache von Kerckhoff in ihren Briefen an vielen Stellen ist, so mutig ist die klare Positionierung frei von Scheuklappen, die auch die eigene Person nicht verschont.
Autor: Matthias Reichelt
Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe. Ein Briefroman. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 2020, 20 €