Der Berlinale-Beitrag A Bit of a Stranger – von Svitlana Lishchynska ist ein 90-minütiger Film in dokumentarischer Form. Im Mittelpunkt stehen vier miteinander verwandte Frauen, die untereinander direkte Nachkommen sind. So gesehen fügt sich Svitlana Lishchynskas Filmbeitrag sanft in die Berlinale-Sektion „Generation“ ein. Dennoch wirft er vordergründig einige der brennendsten Fragen des aktuellen Zeitgeschehens auf.
Svitlana Lishchynska ist eine ukrainische Filmschaffende aus Mariopol, die bereits als ihre Heimatstadt noch russisch war für das Fernsehen arbeitete. Sie schrieb für den Film A Bit of a Stranger das Drehbuch und führte auch Regie. Darüber hinaus ist sie in der dokumentarischen Erzählung die Hauptdarstellerin. Der Film erschien im Januar 2024 und wurde nach einer ersten Aufführung im Baltikum bei den 74. Internationalen Filmfestspielen in Berlin einem größeren Publikum vorgestellt. Am 20 Februar 2024 lief A Bit of a Stranger in Anwesenheit der Regisseurin in der Sektion Panorama auf der Berlinale. Nur vier Tage später jährte sich der Beginn der Meldungen über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zum zweiten Mal. Svitlana Lishchynska begibt sich mit ihrem Film auf eine Reise in die eigene Vergangenheit und reflektiert über ihre Identität als russischsprachige Ukrainerin aus Mariupul. Ihr Film zeigt, was in den Nachrichten nicht zu sehen ist. Vier Generationen ukrainischer Frauen werden in A Bit of a Stranger von Svitlana Lishchynska vorgestellt. Es geht darum, als was sie sich nach der politischen Wende in ihrer Heimat identifizieren.
Vier Frauenfiguren kommen aus dem kriegszerstörten Mariupol. Die Filmemacherin Svitlana Lishchynska ist eine von ihnen, und die Geschichte ist oft um ihre Sichtweise herum aufgebaut. Das verleiht dem Film eine auto-ethnografische Qualität. In ihrer Erzähltechnik mischt sie Archivmaterial aus den letzten Jahrzehnten mit aktuellen Bildern, die nach der russischen Invasion aufgenommen wurden. Die anderen drei Frauen sind ihre Tochter Alexandra (Sasha), ihre Enkelin Stefania und ihre Mutter Valentina (Valay).
Die Tochter der Filmemacherin ist bei ihrer Großmutter in Mariupol aufgewachsen. Svitlana Lishchynska zog in den 1990er Jahren auf der Suche nach Karrierechancen nach Kiew, wo sie schließlich beim Fernsehen arbeitete. Es gibt keine Erklärung für ihre Entscheidung. Die Gefühle der Verlassenheit und Lieblosigkeit, die die Frauen in ihrer Familie erleben, werden als reines Schicksal behandelt. Die Nähe zwischen der Sowjetunion und dem heutigen Russland ist keine einfache Angelegenheit. Der Familie fehlt das Gefühl der Zugehörigkeit, vielleicht wegen der vielen generationenübergreifenden Brüche und des Scheiterns von Ehen sowie des Fehlens einer starken männlichen Figur. Putins Macho-Persönlichkeit bleibt für einige Ukrainer attraktiv, vor allem in Mariupol.
Es gibt einige sehr intime und ergreifende Momente: Aufnahmen der jungen Sasha, die im russischen Fernsehen die russische Hymne singt, bevor sie abrupt von ihrer Großmutter unterbrochen wird; Sasha und Stefania besuchen Svitlana in Kiew, beschließen aber plötzlich umzukehren; Sasha erklärt, dass sie Russen mag und sich wie eine solche fühlt
Die junge Frau ändert ihre Meinung, nachdem ihre Stadt bombardiert wurde. Die Bilder zeigen die unvorstellbaren Schäden, die Mariupol zugefügt wurden. Danach sehen wir sie in London. Sie ist mit einem Patenschaftsvisum in das Vereinigte Königreich gekommen. Die Ironie des Schicksals ist glasklar: Eine Ukrainerin, die sich zuvor als Russin identifiziert hatte, nutzt den Sonderstatus, der ukrainischen Flüchtlingen vorbehalten ist, um das Land zu verlassen. Sie scheinen sich in einem komfortablen Haus in der britischen Hauptstadt niedergelassen zu haben. Sie laden Mutter und Oma ein, sie zu besuchen oder vielleicht sogar zu ihnen zu ziehen. Aber nicht alles ist rosig. Sasha und Stefania stellen ihre Identität, ihre Entscheidungen und ihre Weltanschauung in Frage, als sie beginnen, Englisch zu lernen,
Die Sprache ist einer der interessantesten Aspekte von A Bit of a Stranger. Svitlana möchte ukrainisch sprechen, und das ist ihre bevorzugte Sprache in Kiyv, sogar in den Fitnesskursen. Die nationalen Nachrichten sind auf Ukrainisch. Zurück in Mariupol sieht ihre Familie russisches Fernsehen, und Russisch ist die Sprache, die sie benutzt, um mit ihnen zu kommunizieren. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, sieht die kleine Stefania Ukrainisch nicht als ihre Muttersprache an. Für Zuschauer, die mit dem Unterschied zwischen den beiden slawischen Sprachen nicht vertraut sind, wäre es von Vorteil, wenn die Untertitel gekennzeichnet wären (z. B. ein Farbcode für Russisch und ein anderer für Ukrainisch).
Svitlana bringt ihre Mutter nach Warschau, damit die ältere Frau einen Flug nach London nehmen kann. Dann kehrt sie nach Kiyv zurück. Trotz der zunehmenden Gefahren und der relativen Sicherheit, die ihr ein Zufluchtsort in London bieten könnte, setzt sie sich mit ganzem Herzen für ihre Heimat und ihre nationale Identität ein. Ein mutiger Film, der einen Beitrag zur Debatte über den Russisch-Ukrainischen Krieg leistet. Die unvermeidlichen Folgen des Krieges sind weit verbreitete Zerstörung, Armut und der Zusammenbruch der kollektiven Psyche.