Ferenc Török zeigt in seinem großartigen Spielfilm „1945“ Ungarn nach der Befreiung. Er ist selbst in Budapest 1971 geboren und hat an der University of Theatre and Film Arts sein Studium der Film- und Fernsehregie in Budapest abgeschlossen. Seine Filme gewannen mehrere Preise und wurden auf einer Vielzahl internationaler Festivals präsentiert. Er ist seit 2007 Mitglied der europäischen Filmakademie. Zudem wurde Ferenc Török mit dem ungarischen Béla-Balázs-Preis und dem Pro Cultura Urbis für besondere Verdienste in der Filmkunst ausgezeichnet.
„1945“ ist ein intelligenter Film mit einem schwierigen Thema, das eine Übergangszeit in der ungarischen Geschichte mit Feingefühl darstellt. Ferenc Török nimmt „1945“ mit einer auffälligen Schwarzweißlinse auf. Es ist ein packendes Periodendrama, das einen frischen und intelligenten filmischen Zugang zu einem schwierigen Thema bereitstellt und dadurch an die Nischenkunsthistoriker appellieren möchte. Dabei hat “Menemsha Films” bereits die nordamerikanischen Rechte für den Film aufgeschnappt.
Alles geschieht im August 1945 in einem ungarischen Dorf. Es ist eine Zwischenzeit: Die alte Macht ist noch da und die neue versucht sich gerade zu etablieren. Je nach Sichtweise stellen drei Rotarmisten die Besatzer oder Befreier dar, wenn sie in ihrem Geländewagen herumfahren. Der Großbauer Szentes wird von einem aufrührerischen Landarbeiter herausgefordert, als der aus dem Krieg zurückkam. Er wird weiterhin als streng jovialer Patriarch respektiert und genießt noch das überkommene Ansehen, wobei er durch seinen Besitz zusätzliche Macht innehat. Unter anderem gehören ihm die Drogerie des Dorfes und die Felder. Der Vorsteher des entfernten Bahnhofs, sowie der Gendarm sind ebenso seine Untertanen und wenn sich Szentes über das Radio in der Dorfkneipe ärgert, wird der Apparat selbstverständlich abgeschaltet.
Die nüchternen Fremden, der weißbärtige Hermann Sámuel und sein Sohn, die gespielt werden von Iván Angelus und Marcell Nagy, kommen an einem Tag, der bereits mit Spannung gefüllt ist. Der junge Apothekermanager Arpad (Bence Tasnádi), der Sohn des heimischen Notars István (Péter Rudolf) ist gerade dabei, das hübsche Bauernmädchen Kisrózsi (Dóra Sztarenki) zu heiraten. Obwohl Kisrózsi ihren früheren Verlobten Jancsi (Tamás Szabó Kimmel) ausgeliefert hat für die Chance, sich der Bourgeoisie anzuschließen, ist sie offenbar immer noch von Jancsis Männlichkeit und muskulösem guten Aussehen angezogen. Arpads drogensüchtige Mutter Anna (Eszter Nagy-Kálózy) ist nicht glücklich darüber, dass ihre künftige Schwiegertochter mehr vom Einkommenspotenzial der Drogerie angezogen wird als von der Liebe ihres Sohnes. Unterdessen lauern sowjetische Soldaten auf Kriegsbeute und fragen sich, wie sie sich durch das tägliche Geschäft der Besatzungen im Dorf bereichern können.
Der Sámuels Prozess in „1945“ ähnelt einer Leichenbestattung, bei dem die menschenwürdige Familie schweigend hinter der von Suba gefahrenen Pferdekarre geht. Ihre Kavalkade zieht förmlich alle Blicke auf sich, von den Stationsherren und István über die Arbeiter, die auf den Feldern ernten und den Männern, die in den Kneipen trinken bis zu den Frauen, die das Hochzeitsmahl vorbereiten. Schließlich wurden die Gründe, warum das Erscheinungsbild so viel Bestürzung erzeugt, zwingend aufgedeckt. Für einige, wie zum Beispiel den Säufer Bandi (József Szarvas), ist die Reue überwältigend. Während andere, wie z. B. die Frau von Bandi (Ági Szirtes), die fest entschlossen war, ihr bequemes neues Zuhause und die feine Einrichtung, einschließlich der traditionellen jüdischen Kandelaber und hebräischen Kunst zu behalten, jede mögliche moralische Bedenken übersteigen. Aber der zunehmend umkämpfte István ist der, der am meisten zu verlieren hat. Die Nachricht über Überlebende des Völkermords bringt einige Unruhen ins Dorf, denn schließlich weiß jeder: Wer noch vor der allgemeinen Verschleppung die Juden aus dem Dorf auf Szentes Befehl denunziert hat, hat auch deren Haus mit Einrichtung als Belohnung bekommen. Szentes selbst hat sich den Hauptgewinn gesichert, die Drogerie.
Für diejenigen, die ihre europäische Geschichte kennen, ist es kein Spoiler zu sagen, dass viele Dorfbewohner in Ungarn und anderswo von der Deportation ihrer jüdischen Nachbarn profitierten. Regisseur Török und Co-Autor Gábor T. Szántó, auf dessen gefeierter Kurzgeschichte „Heimkehr“ dieses Drehbuch von „1945“ basiert, konzentrieren sich auf den Blickwinkel der Einheimischen, von denen fast alle, darunter auch der Priester (Béla Gados), Anteil haben an den Geheimnissen der erworbenen Gewinne.
Nichts in der früheren Filmographie von Ferenc Török lässt seine hier anwesende Virtuosität vorhersagen. In einem Film mit überraschend geringen Dialogen ermöglicht „1945“ eine feine Schauspieldarstellung, einschließlich des realen Ehepaars Rudolph und Nagy-Kálózy, der Gewissensbemühungen und der überzeugenden Darbietung des Dorflebens. Die Schlüsselwirkung hat außerdem die hervorragende Verkleidung des Veteranen DP Elemér Ragályi. Die Nahsicht der Rasur von István mit einem geraden Rasiermesser schafft einen anhaltenden Ton des bevorstehenden Schicksals, während das wunderschön komponierte Bild dabei oft durch Leinenvorhänge, Fenster, Türen und Zäune umrahmt wird und das visuelle Interesse zusätzlich steigert. Die spärliche Melancholie verdient ebenso einen Lobpreis.
Ferenc Török setzt auf kleine Gesten in seinem Film „1945“, welche die sozialen Verhältnisse und gleichzeitig ihren Zerfall bloßlegen. Dabei ist die Handlungszeit eng umrissen und dramaturgisch klug. Innerhalb der wenigen Stunden bleibt alle Zeit der Welt vom Morgen bis zum frühen Nachmittag, alle Figuren zu zeigen und jeder einzelnen dabei die eigene Entwicklung zu geben, die letztendlich auch auf die Entwicklung der anderen Figuren einwirkt. Gleichzeitig ist die Anlage der Handlung von größtem Reichtum und größter Ökonomie. Für die Bilder gilt dasselbe. Die Stimmung sommerlicher Hitze, sowie die sozialen Verhältnisse lassen sich in einem strengen Schwarzweiß erfahrbar gestalten. Die Tatsache, dass in Viktor Orbáns Ungarn dieser antifaschistische Film entstanden ist, wirkt als eine Art Wunder. Schon seit langem war im Kino eine so genaue, ästhetisch reiche und spannungsvolle Darstellung politischer und sozialer Vorgänge nicht mehr zu sehen.
1945 – von Ferenc Török
Ungarn 2017
Ungarisch
91 Min · Schwarz-Weiß
Berlinale: Sektion Panorama