Der Titel überrascht. Der Antisemitismus bedroht „uns alle“? Wird in der öffentlichen Debatte in Deutschland angesichts judenfeindlicher Straftaten vor zunehmendem Antisemitismus gewarnt, dann fehlt selten der Hinweis auf die Schoah und die Verantwortung für den Massenmord in deutschem Namen. Fast immer wird daher Antisemitismus mit „Judenhass“ synonym verwendet. So gesehen würde der Antisemitismus doch wohl eher jüdische Menschen bedrohen.
Der evangelische Religionswissenschaftler Blume greift weiter. Zunächst definiert er „Semitismus“. Der Begriff wird auf Noahs Sohn Sem zurückgeführt, Stammvater des Abraham. Blume setzt „Sem“ mit der Verbreitung des Alphabets gleich, einer Revolution in der geistigen Entwicklung der Menschheit, die er „Semitismus“ nennt. „Im Gegensatz zu immer noch verbreiteten Auffassungen bildet der Semitismus (…) nie eine ‚Rasse‘, sondern immer eine vielgestaltige mythologische Tradition auf Basis des Lesens, in die Frauen und Männer eintreten konnten (und können).“ (S. 181) Sem wird so als mythologischer Vorfahr partizipativer Ethik gesehen, „Semitismus“ beschreibe daher keine „Rasse“, zumal Menschenrassen bekanntlich biologisch nicht existieren. Ohne Alphabet keine für alle les- und schreibbare Schrift, ohne eine solche Schrift keine demokratische Gesellschaft. Das Alphabet ermögliche eine lineare Zeitvorstellung, während etwa Rechtsextremisten zu einem zirkulären Zeitverständnis neigten.
Blume begründet seine Thesen religionswissenschaftlich, historisch, linguistisch und philosophisch. Semitismus bedeutet die Durchsetzung der Menschenrechte, die Begründung von Grundwerten, wissenschaftlicher Verfahren sowie der Forderung nach einem Urteil erst nach Analyse, kurz einer demokratischen, partizipativen Gesellschaft i.S. des deutschen Grundgesetzes.
Jede rassistische, geistfeindliche, antidemokratische Gruppierung – die nach Ansicht des Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg immer antisemitisch ist, auch wenn sie sich nicht explizit gegen Juden richtet – bedient sich dagegen gängiger Vorurteile und schürt diese. Antisemitismus funktioniert bekanntermaßen ganz ohne die Existenz von Juden. Frappierend, wie Zitate aus „Mein Kampf“ die Strategien heutiger Rechtsextremisten erhellen. Diese bevorzugen mündlich vorgetragene Parolen, gelehrige Schüler des Jahrhundertverbrechers: „Die Macht aber, die die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Wortes.“ (Hitler, zit. Bei Blume S. 99). Die antisemitischen Verschwörungsmythen (Blume lehnt „Verschwörungstheorie“ ab, da es sich nicht um Theorien im wissenschaftlichen Sinne handelt) bedienen sich immer gleicher Konstrukte. Was neu und gefährlich ist, sind die „neuen Medien“, mit denen die Parolen der Volksverhetzer grenzenlos verbreitet werden. Von „Wir werden sie jagen!“ bis zum Mord an einem demokratischen Politiker oder zu einem Mordanschlag auf eine Synagoge ist ein kleiner Schritt.
Obgleich nicht frei von Wiederholungen, ist das faktenreiche Buch ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.
Autor: Friedhelm Wolski-Prenger
Blume, Michael: Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern, Ostfildern 2019: Patmos, 208 S. Gb.19,00