Ruta Sepetys: Und in mir der unbesiegbare Sommer. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Hamburg 2011.
Wie kann menschliches Leiden in der Kinder- und Jugendliteratur so dargestellt werden, dass es die jungen Leser nicht überfordert, zugleich aber dem geschilderten Gegenstand gerecht wird? Diese im Zusammenhang mit Darstellungen des Holocaust immer wieder aktuelle Frage gilt auch für Ruta Sepetys‘ neuen Roman Und in mir der unbesiegbare Sommer.
Hintergrund der Romanhandlung sind historische Zusammenhänge, die in Deutschland wenig bekannt sind: Nach der Okkupation der baltischen Staaten im Jahre 1940 und erneut nach der Reokkupation 1944 ließ die sowjetische Regierung Hunderttausende von Litauern, Letten und Esten nach Sibirien deportieren, um die Eigenständigkeit der baltischen Nationen zu brechen und deren Integration in die Sowjetunion zu erzwingen. Erst Mitte der 50er Jahre wurden diese Zwangsdeportationen, bei denen viele Tausend Menschen zu Tode kamen, beendet.
Die amerikanische Autorin Ruta Sepetys, deren Vorfahren aus Litauen stammen, hat die Geschichte der Deportationen mit Hilfe von Zeitzeugen und wissenschaftlichen Studien gründlich recherchiert. Aus der Perspektive der 15-jährigen Lina beschreibt sie die überstürzte Abreise aus Litauen, die wochenlange Bahnfahrt in Güterwagen durch Russland und schließlich das Leben im unwirtlichen Sibirien nördlich des Polarkreises. Bedrückend lesen sich die Schilderungen des Alltags der Deportierten, der von Hunger, Kälte, Zwangsprostitution, willkürlichen Erschießungen und Tod geprägt ist. Deutlich werden die Ängste und die Ohnmacht der Litauer angesichts der erlebten Willkür – aber auch das Bemühen, sich die Würde und den Überlebenswillen zu erhalten. So pflegen die Deportierten in Sibirien ihre Bräuche; Lina dokumentiert selbst unter widrigsten Bedingungen das Erlebte mit Hilfe von Zeichnungen; und schließlich heiratet sie nach der 12-jährigen Gefangenschaft und der Rückkehr nach Kaunas ihren Jugendfreund Andrius.
Sepetys‘ Roman besteht aus 86 kurzen Kapiteln. Zusammen mit der Beschränkung der Zahl der Protagonisten erleichtert diese Gliederung die Lektüre und unterstreicht die Konzentration auf die äußere Handlung. Dem entspricht die über weite Strecken sehr lineare, erst gegen Ende des Romans differenzierter gestaltete Zeichnung der Charaktere. Die Folge ist, dass selbst die Darstellung größter Brutalität den Leser letztlich nicht überwältigt – womit Und in mir der unbesiegbare Sommer die Grenzen realistischen Schreibens bei der Schilderung menschlicher Not nur bestätigt. Dass die Autorin authentisch und emotional packend formulieren kann, zeigt sie immer dann, wenn Lina sich während der Gefangenschaft in Rückblenden an ihre glückliche Kindheit und Jugend in Kaunas erinnert. Solange Sepetys normales Leben schildert, wird ihre differenzierte Darstellung von einer Anschaulichkeit bestimmt, die der Schilderung der Extremsituation der Deportierten fehlt, fehlen muss.
Trotz, vielleicht auch wegen der literarischen Schwächen ein lesenswertes Buch, das einen vielfach vergessenen Teil der europäischen Geschichte in Erinnerung ruft.
Autor: Tomas Unglaube
Ruta Sepetys: Und in mir der unbesiegbare Sommer. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Hamburg: Carlsen 2011. 304 S. Ab 14. 978-3-551-58254-6