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Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biographie. München: Carl Hanser 2010, 496 Seiten, ISBN 978-3-446-23505-2, 24,90 EUR. |
Als Sophie Scholl am 22. Februar 1943 zusammen mit ihrem Bruder Hans und dem gemeinsamen Freund Christoph Probst im Anschluss an einen Schauprozess in München-Stadelheim hingerichtet wurde, war sie gerade einmal 21 Jahre alt. Vielleicht auch wegen ihres fast noch jugendlichen Alters gehört Sophie Scholl zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Weißen Rose heute zu den bekanntesten Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus. Zahllose Straßen und Schulen wurden nach ihr benannt. Dass diese bewundernswerte Persönlichkeit zugleich auch eine ganz normale junge Frau mit Sehnsüchten und voller Selbstzweifel war, zeigt Barbara Beuys in ihrer neuen Biografie von Sophie Scholl.
Auf 460 Seiten stellt Barbara Beuys äußerst präzise, vielfach Tag genau die Entwicklung von Sophie Scholl dar. Und sie macht mehr: Indem die Autorin die Entwicklung ihrer Protagonistin in die Geschichte der Familie Scholl einbettet, gibt sie zugleich einen Einblick in deren Herkunftsmilieu und zeigt so Zusammenhänge auf, die für das Verständnis von Sophies Handeln wichtig sind. Detailliert geht die Autorin auf das liberal-protestantische Elternhaus und die Geschwister ein und verweist dabei immer wieder auf die Bedeutung des Zusammenhalts der Familie für Sophie Scholl. Präzise belegt Beuys, dass sich Hans und Sophie Scholl intensiver und länger, als bislang angenommen, für den Nationalsozialismus begeisterten, während die Eltern ihre Kinder hiervor von Anfang an warnten. Ebenso ausführlich stellt Beuys die Bedeutung der Religion für Sophie Scholl dar und zeigt, wie diese spätestens seit ihrem 17. Lebensjahr darum rang, ein Leben in Einklang mit Gott zu führen. Genau zeichnet die Autorin nach, welche Bibelstellen und welche religiösen Schriften Sophie gelesen hat und welchen Einfluss diese auf ihre persönliche wie politische Entwicklung hatten. Anschaulich schildert Beuys, dass und warum Sophie Scholl trotz ihrer Liebe zu dem Berufsoffizier Fritz Hartnagel, der an der Front kämpfte, eine Niederlage der Wehrmacht herbeisehnte und deshalb auch rigoros jede Hilfe für die an der Ostfront kämpfenden deutschen Soldaten ablehnte. Schließlich erläutert Beuys eingehend die Bedeutung von Literatur, Kunst und Musik für Sophie, die ihr nicht nur eine willkommene Ablenkung gegenüber dem als geistlos empfundenen Alltag in Schule und Reichsarbeitsdienst waren, und führt zum Beispiel präzise auf, welche Bücher – namentlich die der sogenannten inneren Emigration und der Kirchenväter – Sophie Scholl wann las. So gibt Beuys einen sehr genauen Einblick in das geistige Milieu, das auf ihre Protagonistin einwirkte und mit dem diese sich auseinandersetzte.
Insgesamt zeichnet Barbara Beuys das Porträt einer jungen Frau, deren aktiver Widerstand gegen den Nationalsozialismus sich aus einer Vielzahl von Quellen speiste. Zugleich zeigt sie uns auch eine Sophie Scholl voller Widersprüche, hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Verstand, Vernunft und Religion, Sexualität und Askese, Bindung und Freiheitsdrang. Die nüchterne Sprache trägt dazu bei, jede Heroisierung zu vermeiden. Die Autorin vermittelt dabei kein grundlegend neues Bild von Sophie Scholl, wohl aber – gemessen an früheren Veröffentlichungen – ein sehr viel detaillierteres. Dies gilt insbesondere für die Informationen über das Elternhaus, Sophie Scholls zeitweise Begeisterung für den Nationalsozialismus und ihre intensive Beschäftigung mit religiösen Fragen.
Der Autorin kam bei ihrer Arbeit zugute, dass sie nicht nur auf bereits veröffentlichte Dokumente und Darstellungen zurückgreifen und eine Vielzahl von Zeitzeugenberichten heranziehen konnte. Erstmals hat sie systematisch vor allem den im Münchner Institut für Zeitgeschichte erhaltenen Briefwechsel zwischen den Mitgliedern der Familie Scholl und ihren Freunden sowie die überlieferten Tagebücher von Sophie Scholl und ihrer älteren Schwester Inge ausgewertet. Positiv fällt in diesem Zusammenhang ins Gewicht, dass Beuys auf Spekulationen verzichtet und Forschungslücken klar benennt.
Das Ergebnis von Barbara Beuys intensiven Recherchen – das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst allein elf Seiten; leider wird auf Einzelnachweise in Form von Anmerkungen verzichtet – ist die anschaulich formulierte Darstellung der Entwicklung einer jungen Frau insbesondere in den Jahren 1937 bis 1943. Wer nur etwas über die aktive Widerstandskämpferin Sophie Scholl erfahren möchte, wird vielleicht enttäuscht sein, denn die Schilderung der eigentlichen Widerstandshandlungen nimmt lediglich einen kleinen Teil des breit angelegten Porträts ein. Wer sich aber für Motive und Hintergründe interessiert, erfahren möchte, warum jemand sich vom Nationalsozialismus löst und Widerstand leistet, und die notwendige Geduld für diese umfangreiche Lektüre aufbringt, lernt durch Barbara Beuys Biografie eine junge Frau kennen, die uns in ihrer Widersprüchlichkeit nahe ist und zugleich bis heute aufgrund ihrer Klarheit als Vorbild taugt.
Autor: Tomas Unglaube