Studie: Wie wurde Italienischer Faschismus in der Weimarer Republik wahrgenommen?
Matthias Damm: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik; Reihe Extremismus und Demokratie, Band 27, Baden-Baden 2013.
Den Anfang und das Ende der Weimarer Republik bestimmten gesamtgesellschaftliche Zusammenbrüche tragfähiger Konzeptionen für die dauernde Errichtung und Erhaltung eines demokratischen Gemeinwesens. Der militärischen Kapitulation des Deutschen Kaiserreiches folgten weit reichende politische, wirtschaftliche und finanzielle Nachkriegswirren. In ihnen reflektierten sich nicht nur die harten Bedingungen des Versailler Vertrages mit den schier unermesslich erscheinenden (insbesondere französischen) Reparationsforderungen der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, sondern auch das unausgewogene Verständnis über das „Wie“ und „Wohin“ der parlamentarischen Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit durch die Parteien. Als der Staat mit seinen Notstandsverordnungen 1932 auf Dauer unregierbar zu werden schien, ein Wahlaufruf zum Reichstag den nächsten jagte, erfolgte durch Hindenburgs Auftragserteilung zur Regierungsbildung die Machtübergabe an Hitler und damit erfüllte sich das Ziel der nationalsozialistischen Bewegung. Welche Rolle in diesem Sachverhalt die Vorbildwirkung des italienischen Faschismus und des „Duce“ Benito Mussolini darin spielte, verfolgt mit einer Publikationsauswertung in seiner an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz eingereichten Dissertation Matthias Damm.
Zum Thema liegen umfangreiche Darstellungen vor. Was die Studie Damms auszeichnet, ist die Synthese der vielfältigen politischen Strömungen und die Analyse unterschiedlicher Positionen, zum Teil diametraler Ansichten, innerhalb einer politischen Richtung. Die breite Fächerung des Referenz-Spektrums durch Selbstdarstellung der Faschisten in Deutschland, kommunistischer und sozialdemokratischer Interpretation, den Sichtweisen der bürgerlichen Mitte und des Katholizismus, der politischen Rechten sowie der Nationalsozialisten kann für spätere Forschungsvorhaben als Materialquelle dienen. Ausgewertet wurden neben Periodika überregionale Tageszeitungen, Schriften, die sich an ein italophiles Publikum wandten und Publikationen, welche signifikant für eine politische Strömung sind.
Wenig erforscht waren bisher die Ansichten im Milieu der „bürgerlichen Mitte“. Damm zählt dazu „alle Personen und Gruppen, die sich weder auf die Arbeiterbewegung beriefen noch radikale rechte Ansichten vertraten“ (S. 27). Dass auch hier die Grenzen fließend sind, wird an Wilhelm Marx und Franz von Papen deutlich, die zwar beide dem katholisch dominierten Zentrum angehörten, aber konträre Ziele verfolgten. Ein gleiches gilt für die Deutschnationale Volkspartei und die Deutsche Demokratische Partei, welche nach dem Tod Stresemanns nach rechts driftete. Als Diskussionsgrundlage für die Repräsentierung der Meinungsvielfalt im bürgerlichen Umfeld dienten dem Autor neben dem Berliner Tageblatt, die Frankfurter und Kölnische Zeitung.
Der Berichterstatter der Kölnischen Zeitung beschrieb Mitte 1923 in seinem umfassenden Beitrag „die Eingliederung des Faschismus in den Staat“ (S.174) in der Mussolini zwischen zwei Seiten laviere. Im Verhalten des „Duce“ erkannte er vermeintlich dessen Stehen am Scheideweg zwischen der Rückkehr zum liberalen Staat und Parlament oder dem geplanten Aufbau eines „fascistischen Staates“. Zu dieser Zeit beherrschte Zwiespältigkeit die deutsche Rezeption der innerpolitischen Verhältnisse Italiens. Einerseits lobte die bürgerliche Presse die Politik wegen ihres Kampfes gegen das Verbrecherunwesen, Verhinderung der Anarchie durch den erwarteten Bürgerkrieg und die Vertreibung des „Gespenstes Bolschewismus“, verurteilte aber andererseits die wuchernde Korruption in den faschistischen Gremien und Behörden, die Gewalt und Beschränkungen der persönlichen Freiheit. Dem Faschismus fehle es am Programm, einer Staatslehre und besitze außer Mussolini keine Führerpersönlichkeit. Die Partei „meint noch immer in der Verteidigung zu handeln, selbst wenn seine Gegner völlig entwaffnet sind“ (S. 179).
Aus eigenem Erleben analysiert der liberale Historiker Guglielmo Ferrero (1871 bis 1942), der sich 1925 weigerte, unter dem Druck der „Schwarzhemden“ auszuwandern, und deshalb unter Hausarrest gestellt wurde, das Zeitgeschehen. In seinem Buch „Demokratie oder Terror“ (Stuttgart 1924) kennzeichnet er Ideologie und ihre Vertreter als „Geschöpfe ihrer Zeit“. Als Quellen der Bewegung nennt er Nationalismus, Wunsch nach Eroberung, Verarmung des Mittelstandes, Besitzstandswahrung der Reichen sowie deren Machtinteressen, gekränkten Bürgerstolz und Sehnsucht nach Ordnung, ungenügende politische Bildung, den Verlust der staatlichen Autorität und der politischen Kaste, die „geistigen Schäden des 19. Jahrhunderts: der Nietzscheanismus, Imperialismus, Immoralismus, das Antichristentum, die in der Schwüle der Zeiten in Gärung gerieten“ (S. 183). – Eine treffende Bestandsaufnahme, welche auch für die autoritären Regime zwischen Polen und Portugal, Finnland und Griechenland zutrafen. Im deutschen Bürgertum wurden seine Ansichten nicht allgemeine Grundlage der Faschismus-/ Nationalsozialismusbetrachtungen.
Ein wesentlicher Faktor für die Unterschätzung der totalitären Gefahr bildete das deutsche Mussolini-Bild. Selbst der liberale, jüdische Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, zeichnete nach der Audienz beim „Duce“, den er bereits durch einen Besuch Benito Mussolinis in Berlin vor dem „Marsch auf Rom“ kannte, ein positives Portrait des Diktators (Schieder, Wolfgang: Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce; München 2013; Seiten 220 bis 230). Die Differenz changiert zwischen der Behauptung der „Duce“ sei „auch Demokrat – allerdings ein autoritärer Demokrat“ und „der Faschismus könne keine moralische Ordnung schaffen“ (S. 201). Wahrgenommen wurden im europäischen Ausland die „Erfolge“ des Faschistenführers wie das Konkordat, die Carta del Lavoro und zeitweise die pazifistische Außenpolitik, der Vorstoß zur Lösung der Kriegsschuldfrage, der fehlende Antisemitismus, erfolgreiche Deflationspolitik und …, aber nicht die Kriegsverbrechen und Terror in den besetzten Kolonien (Libyen, später Abessinien und Albanien), die schrittweise Ausschaltung der Opposition und die weitere soziale Verelendung der Werktätigen (Kurella, Alfred: Mussolini ohne Maske; Berlin 1931).
Im letzten Abschnitt „Ausblick – Faschismus, Totalitarismus, Desiderate“ referiert Matthias Damm zusammenfassend die Interpretationen über den Faschismus und seiner Nachwirkung in historischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive. Der Rezensent teilt die Ansicht des Autors über die chaotischen Zustände des politischen Systems in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Italien. Zu unterstützen ist die Feststellung Damms, dass die italienische Vergangenheitsbewältigung mangelhaft ist und es der Aufarbeitung bedarf wie der Standpunkt, dass diese Zustände nur aus deren Fehlen erklärbar sind. Immer noch wähnt sich Italiens öffentliche Meinungsbildung in der Opferrolle durch die Wehrmachtsbesetzung. Die Grundlagen für die Zeit zwischen 1943 und 1945 schuf die faschistische Staatsführung selbst. Dass nach 1945 die antifaschistischen Ruhmestaten der Kommunisten jahrzehntelang zentraler Bestandteil der Publizistik war, ist aus deren politischer Dominanz im politischen Zusammengehen mit den Christdemokraten gewachsen. Aus diesem (Un-) Geist und der Unfähigkeit stabile Regierungen zu bilden, regierte Silvio Berlusconis Marionettentheater und speist sich das Auftreten der Partei des Populisten Beppe Grillo in den jüngsten italienischen Parlamentswahlen.
Wie für alle anderen (europäischen) autoritären, totalitären oder faschistoiden Regimes der Vor- und Nachkriegszeit wird es notwendig sein, ihre betonte Opferrolle zu überdenken und sich der Wirklichkeit und Tatsachen ihrer Vergangenheit zu stellen. Dazu trägt Matthias Damm mit seiner vergleichenden Darstellung und Rezeption des Faschismus während der Weimarer Republik bei. Er stößt damit hoffentlich die differenzierte historische Betrachtung an. Sie kann damit wesentlich dazu beitragen, den Kampf gegen den heutigen wie morgigen Links- und Rechtsextremismus wirkungsvoll mit Argumenten zu bekämpfen. Um Demokratie muss gerungen werden, was uns das Beispiel Deutschland 1933/45 und 1949/89 mit seinen beiden Diktaturen gleichnishaft vor Augen führt.
Autor: Uwe Ullrich
Damm, Matthias: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik; Reihe Extremismus und Demokratie, Band 27, Baden-Baden 2013; 424 Seiten, 64 Euro