Das Versagen der deutschen Justiz bei NS-Prozessen – Ein Richter zieht Bilanz
In der Gegenwart erklärt der Bundestagsfraktionsvorsitzende einer Partei mit erheblicher Wählerschaft die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten für einen „Vogelschiss“, eine andere Führungsfigur derselben Partei fordert eine „180-Grad-Wende in der deutschen Erinnerungspolitik“. Ein publizistisches Dauerfeuer dieser und anderer Rechtsparteien richtet sich gegen Juden, Muslime, „Fremde“, Journalisten oder demokratische Politiker. Angesichts einer Vielzahl von Morden und anderer Verbrechen von Rechtsextremisten in den letzten Jahren, von denen nicht wenige auf neonazistische Hetze zurückzuführen sind, ist es von erheblicher Bedeutung, an die Verbrechen der Nazidiktatur und an besonders grausame Verbrechen in Hitlers per se verbrecherischem Krieg zu erinnern.
Die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen von 1933 bis 1945 ist Thema einer Vielzahl von historischen oder politikwissenschaftlichen Publikationen. Karl-Heinz Keldungs, ehemaliger Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, unternimmt es, die Verfahren umfassend aus juristischer Sicht vorzustellen.
Dazu arbeitet Keldungs 70 Jahre Prozesse gegen NS-Täter auf, die in Vernichtungslagern, bei den Einsatzgruppen, der sogenannten Euthanasie und als Kriegsverbrecher an Massenmorden beteiligt waren. Zu den schlimmsten Kriegsverbrechen gehören neben vielen anderen die Auslöschung von Bewohnern und die Zerstörung von Ortschaften wie etwa des tschechischen Lidice oder des französischen Oradour-sur-Glane.
Dargestellt werden u.a. die alliierten Nürnberger Prozesse und die daran anknüpfenden Folgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichtshöfen. In diesen und anderen frühen Verfahren wurden harte Urteile gefällt, vor allem gegen die NS-Führung und Hauptkriegsverbrecher. Auch in ehemals besetzten Ländern wurden die Haupttäter mit dem Tod oder mit langer Haft bestraft. Als Beispiel aus Israel wird der Prozess gegen den Hauptorganisator der Schoa, Adolf Eichmann nachgezeichnet, der mit dem in zweiter Instanz bestätigten Todesurteil endete. (S. 378 ff.)
Bundesdeutsche Gerichte dagegen urteilten in vielen Fällen bis in die 1980er Jahre unfassbar milde oder sprachen die Angeklagten frei. Dazu wurden u.a. Notstands- oder Putativnotstandslagen angenommen oder – wie im Falle von SS-Angehörigen oder Polizisten – ungerechtfertigterweise Militärstrafrecht angewendet. Strafmildernd wurde rechtsmissbräuchlich auch die Jugend von (erwachsenen) Tätern oder die „Verstrickung in ein System der Gewaltherrschaft“ angeführt. „Nicht wenige Landgerichte haben als Strafmilderungsgrund berücksichtigt, dass die jahrelange NS- Propaganda gegen Juden, Sinti und Roma und andere Staatsfeinde die Hemmschwelle der SS- Schergen gegenüber (…) Häftlingen bei der Begehung von Straftaten auf ein Mindestmaß herabgesetzt hat.“ (S. 441) Nationalsozialistische Propaganda wurde damit zum Milderungsgrund.
Keldungs bewertet die Vielzahl der milden Urteile sowie die genannten und andere dazu herangezogenen Rechtfertigungs- oder Strafmilderungsgründe als falsch. Dass es sich bei der Tötung von Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung oder Widerstandskämpfern um Mord handele, sei evident. Wer aus nationalsozialistischer „Einstellung heraus Menschen tötet oder sich zur Tötung bestimmen lässt, handelt aus niedrigen Beweggründen und begeht damit Mord.“ (S. 408) Die Täter konnten sich Keldungs zufolge – anders als in vielen Verfahren angenommen – nicht darauf berufen, nur Ausführende gewesen zu sein. Auch Angst vor Strafe bei Verweigerung der Beteiligung an Massenmorden (Putativnotstand) zähle nicht. Als schlimmste bekannte Konsequenz bei der Weigerung, an Massenerschießungen teilzunehmen, sei eine Strafversetzung an die Front erfolgt.
Als Gründe für die häufige Milde gegenüber Massenmördern werden u.a. die Sozialisation vieler Richter in der Zeit des Nationalsozialismus oder die Angst vor Revisionen vor höheren Gerichten angeführt.
Keldungs‘ Buch ist lesbar geschrieben. Es gelingt dem Autor, die juristischen Bewertungen so zu formulieren, dass sie auch für Nichtjuristen verständlich werden. Das gilt auch für den Schluss des Buches: „Auch wenn es viele richtige und gerechte Urteile gab, muss der bundesdeutschen Justiz Versagen bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen vorgeworfen werden.“ (S. 459)
Autor: Friedhelm Wolski-Prenger
Keldungs, Karl-Heinz: NS-Prozesse 1945-2015. Eine Bilanz aus juristischer Sicht. Düsseldorf 2019, 512 S., geb. m. Leseband, € 34,9