„I’m Not Everything I Want to Be“ von Klára Tasovská feiert 2024 auf dem Berliner Filmfestival seine Weltpremiere. Die Autorin Klára Tasovská hat unter dem tschechischen Originaltitel „Ještě nejsem, kým chci být“ (deutsch: „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“) eine berückende Dokumentation über die queere Fotografin Libuše Jarcovjáková gedreht, die ihr Leben und ihr Umfeld ab den 1960er Jahren mit analogen Fotos und Tagebucheinträgen beschrieb.
Der Film ist absolut dokumentarisch, er erzählt also das Leben von Libuše Jarcovjáková so, wie es ab 1968 wirklich verlaufen ist. In jenem Jahr war in der Tschechoslowakei der sogenannte Prager Frühling durch Truppen des Warschauer Pakts (dem kommunistischen Pendant zur NATO) niedergeschlagen worden, darunter hauptsächlich Streitkräfte der Sowjetarmee, aber auch Truppen der ostdeutschen NVA sowie aus Polen, Ungarn und Rumänien. Die Kommunistische Partei und die Staatsführung der Tschechoslowakei hatten in den ersten Monaten des Jahres 1968 unter Alexander Dubček ein Demokratisierungs- und Liberalisierungsprogramm beschlossen, das nach Ansicht der Sowjetführung und ihrer Verbündeten die Tschechoslowakei aus dem Ostblock hätte lösen können. Daher rollten ab dem 21. August 1968 die Panzer des Warschauer Pakts durch Prag und das ganze Land. Sie schlugen die Bewegung nieder und entmachteten Dubček. Anschließend setzte eine gigantische Repressionswelle ein, die noch von (tödlichen) stalinistischen Methoden geprägt war. Zu jenem Zeitpunkt war die Pragerin Libuše Jarcovjáková 16 Jahre alt. Sie spürte, dass sie sich eher zu Frauen als zu Männern hingezogen fühlte, suchte nach ihrer sexuellen Identität und folgerichtig auch nach Möglichkeiten, diese auszuleben. Homosexualität war in der Tschechoslowakei seit 1962 kein Straftatbestand mehr, durfte aber nicht offen gezeigt werden. Es entwickelte sich eine Grauzone wie der Prager T-Club, in der sich vor allem Schwule trafen, der aber auch für die übrige queere Szene zum Treffpunkt wurde. Dort verkehrte Libuše Jarcovjáková häufig und fotografierte sehr viel. In diesem Club geschah ein Mord. Ab diesem Zeitpunkt interessierte sich die Kriminalpolizei für die Fotos der jungen Frau. Im Sog der Ermittlungen stellte diese fest, wie repressiv das Regime mit queeren Menschen umgehen konnte. Ihre persönliche Suche nach Emanzipation hatte unter diesen Umständen ihren Platz verloren. Dort setzt der Dokumentarfilm ein.
Libuše Jarcovjáková blieb zunächst in ihrer Heimat. Nach wie vor fotografierte und schrieb sie über das Prager Nachtleben, über sexuelle Minderheiten und andere marginalisierte Menschen sowie über sich selbst. Sie dokumentierte unter anderem auch das Leben der Roma und der vietnamesischen Gastarbeiter in ihrer Heimat. Dabei lebte sie eher hedonistisch und besuchte fast jeden Abend den T-Club, der eine Insel der Nonkonformität war. In den frühen 1980er Jahren wurde die kommunistische Staatsführung in der Tschechoslowakei institutionell homophob, eine Entwicklung, die seit den 2020er Jahre auch in Russland zu beobachten ist. Queere Menschen wie Libuše Jarcovjáková gerieten zunehmend unter Druck. Im Jahr 1985 ging die inzwischen 33-Jährige deshalb eine Scheinehe mit einem Westberliner ein und konnte auf diese Weise legal nach Westberlin ausreisen. Dort setzte sie ihre Arbeit fort, war nach einem Verkehrsunfall durch einen längeren Krankenhausaufenthalt länger gehandicapt und zog anschließend nach Tokio, wo ihr eine Karriere als Modefotografin gelang. Sie kostete eine Weile den Kapitalismus mit vollen Taschen aus, wandte sich dann aber von der Konsumgesellschaft ab und zog wieder nach Westberlin. Dort schlug sie sich in einem Kino als Putzkraft durch, fotografierte aber wieder wie ehedem nach ihrem eigenen Gusto. Libuše Jarcovjáková hatte sich seit frühester Jugend als Künstlerin verstanden, die ihre Inspiration aus der repressiven Ausgrenzung in einem stalinistischen System bezog.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Umbruch in ganz Osteuropa lebte die Fotografin noch drei Jahre in Berlin und zog dann 1992 wieder nach Prag, wo sie ihre Identitätssuche fortsetzte. Diese ist vielleicht immer noch nicht abgeschlossen. Das führt zum Titel des Films: „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“. Als sie vor wenigen Jahren die Filmemacherin Klára Tasovská traf, erzählte sie ihr mit ihren eigenen Fotografien und Tagebucheinträgen von ihrem Leben. Daraus entstand dieser zutiefst berührende Dokumentarfilm, in dem die Weltpolitik wie ein grauer Schatten über den Protagonisten schwebt, denen es aber vorwiegend um ihre Körperlichkeit, ihre Beziehungen, ihre Gefühle und ihren alltäglichen Kampf geht. Die Schwarz-Weiß-Fotografien Jarcovjákovás aus den 1960er und 1970er Jahren hat Klára Tasovská zur subjektiven Erzählung der Fotografin und punktuell eingesetzter Musik rhythmisch arrangiert. Zu den Fotos gehören sehr viele Freundes- und Selbstporträts, aber auch Reisefotografien und urbane Aufnahmen, sodass unter anderem ein Stück Stadtgeschichte von Prag, Westberlin und Tokio enthalten ist. Klára Tasovská ist es gelungen, mit diesem Arrangement eine chronologische Filmerzählung zu schaffen, was zur Faszination des Dokumentarfilms beiträgt. Nicht vergessen werden darf der professionelle Hintergrund von Libuše Jarcovjáková: Sie hat an der Prager Film- und Fernsehschule studiert und unterrichtet bis heute Fotografie an der Prager Hochschule für Grafikdesign.