Bertolt Brecht und sein kommunistischer … kaukasischer Kreidekreis
Ein kaukasischer Kreidekreis? Was mag das sein? Der deutsche Dramatiker und Dichter Bertolt Brecht (1898 – 1956) war der vielleicht prominenteste Gegner des NS-Regimes. Schon vor der Machtergreifung hatten SA und SS Vorführungen seiner Stücke gestört, sodass Brecht sich einen Tag nach dem Reichstagsbrand zur Flucht aus dem Deutschen Reich gezwungen sah. Aus dem Exil heraus verfasste er weiterhin Stücke, die das NS-Regime mal mehr und mal weniger subtil angriffen. Brechts politische und philosophische Ansichten standen in krassem Widerspruch zu denen der Nazis, war Brecht doch ein marxistischer Freigeist, der in dem von ihm selbst entwickelten epischen Theater Fragen der Ethik in den Mittelpunkt stellte und nicht die Figuren. Brechts Vorstellung nach sollte das Publikum sich nicht mit den Charakteren identifizieren, sondern diese mit einer gewissen Distanz beurteilen. Die bis dahin übliche Katharsis lehnte Brecht ab. Als zusätzliche Mittel der Entfremdung nutzte Brecht Gesangseinlagen, Rahmenhandlungen und eine starke Abstraktion des Geschehens durch sparsame Kulissen und Kostüme.
Der kaukasische Kreidekreis Zusammenfassung
So ist auch „Der kaukasische Kreidekreis“ von 1944/45 in eine Rahmenhandlung eingebettet: 1944 streiten sich in der Sowjetunion zwei Kolchosen um die Nutzung eines nun von den Nazis befreiten Stückes Land in Georgien: Auf der einen Seite steht die Ziegenzuchtkolchose Galinsk und auf der anderen die Obstbaukolchose Rosa Luxemburg. Das strittige Tal wurde vor dem Krieg von den Ziegenzüchtern bewirtschaftet, da die Nutzung des fruchtbaren Landes durch die Obstbauern jedoch mehr Ertrag für die Gemeinschaft verspricht, geben die Ziegenzüchter nach, woraufhin die Obstbauern ihnen zu Ehren ein Stück inszenieren, was nach Aussage des „Sängers“ aus dem Chinesischen stamme, aber für das kaukasische Publikum modifiziert worden sei. In der Tat findet sich bei Li Qianfu Xingdao (李潛夫 行道) (†1350) das Zaju „Hui Lan Ji“ (灰闌記) oder zu Deutsch „Kaukasischer Kreidekreis“, auf dem Brechts Stück demnach basiert, obgleich das westliche Publikum Brechts wohl eher Parallelen zum Salomonischen Urteil (1 Kön 3,16–28) gesehen haben dürfte. Vermutlich haben beide Erzählungen einen noch weiter zurückliegenden gemeinsamen Ursprung in einem indischen Jātaka (जातक,). Der „Sänger“ leitet das Stück im Stück wie folgt ein:
„In alter Zeit, in blutiger Zeit
Herrschte in dieser Stadt, »die Verdammte« genannt
Ein Gouverneur mit Namen Georgi Abaschwili.
Er war reich wie Krösus.
Er hatte eine Frau aus edlem Geschlecht.
Er hatte ein kerngesundes Kind.
Kein anderer Gouverneur in Grusinien hatte
So viele Pferde an seiner Krippe
Und so viele Bettler an seiner Schwelle
So viele Soldaten in seinem Dienste
Und so viele Bittsteller in seinem Hofe.
Wie soll ich euch einen Georgi Abaschwili beschreiben?
Er genoß sein Leben.“
(Kaukasischer Kreidekreis)
Doch nach einem Staatsstreich gegen den Großfürsten Grusiniens (vom russischen Грузия „Grusija“ abgeleitete altertümliche Bezeichnung für Georgien) werden die Gouverneure verfolgt und hingerichtet. Abaschwilis verwöhnter Gemahlin Natella gelingt die Flucht, doch als sie vor der Wahl steht, ihre kostbaren Kleider oder ihren neugeborenen Sohn Michel mitzunehmen, entfällt ihre Wahl auf die Gewänder. Die neuen Machthaber sind auf der Jagd nach dem Spross des verhassten Gouverneurs. Dessen hat sich die Magd Grusche Vachnadze angenommen. Sie flieht vor den Panzerreitern des Fürsten Kazbeki in die Berge, die Verfolger dabei dicht auf den Fersen. Einmal kommt es auch zur Konfrontation mit den Häschern des Fürsten, und so nimmt Grusche das Kind letztlich als ihres an und gibt es als solches aus.
Erst als Grusche erschöpft und kränkelnd bei ihrem Bruder Lavrenti ankommt, wähnt sie sich in Sicherheit. Allerdings ist dessen Frau Aniko fromm und argwöhnisch, weshalb Lavrenti schon kurz nach der Ankunft zu seiner Schwester sagt: „Hast du einen Vater für es? […] Ich dachte es mir. Wir müssen etwas ausfinden. Sie ist eine Fromme.“ So willigt Grusche trotz ihrer Verlobung mit dem Soldaten Simon Chachava in eine Heirat mit dem anscheinend sterbenskranken Bauern Jussup ein, um so das Kind amtlich zu legitimieren und dem Argwohn der Schwägerin zu entgehen. Doch dann endet der Krieg und Jussup stellt sich als Simulant heraus, der mit dem vorgetäuschten Sterbelager nur dem Dienst in der Armee entgehen wollte. Zudem erscheint auch Natella wieder auf der Bildfläche und erhebt wegen des Erbes Anspruch auf ihren und des Gouverneurs Sohn. Den will Grusche aber für sich behalten, was wiederum Simon veranlasst, Grusche wutentbrannt zu verlassen, obgleich sie ihm gegenüber beteuert, das Kind sei nicht das ihre.
Letztlich landet der Fall beim Dorfschreiber Azdak, einem einfachen, aber klugen Mann, der ohne Studium der Rechtswissenschaften, sondern einzig aufgrund seines gewitzten Verstandes im Zuge der Kriegswirren auf dem Richterstuhl gelandet ist und somit ein Armeleuterichter ist. Nachdem er die beiden Frauen und ihre Anwälte angehört hat, erklärt Azdak:
„Klägerin und Angeklagte! Der Gerichtshof hat euren Fall angehört und hat keine Klarheit gewonnen, wer die wirkliche Mutter dieses Kindes ist. Ich als Richter hab die Verpflichtung, daß ich für das Kind eine Mutter aussuch. Ich werd eine Probe machen. Schauwa, nimm ein Stück Kreide. Zieh einen Kreis auf den Boden. […] Stell das Kind hinein. […] Klägerin und Angeklagte, stellt euch neben den Kreis, beide! […] Faßt das Kind bei der Hand. Die richtige Mutter wird die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu sich zu ziehen.“ (Die Auslassungen „[…]“ betreffen Regieanweisungen.)
Während die Gouverneursfrau das Kind herrisch an sich reißt, lässt Grusche aus Mitleid los. Dadurch, dass sie das Kind lieber hergibt, als ihm Schmerz zuzufügen, erweist sie sich als die wahrhaft Mütterliche, weshalb Azdak ihr das Kind zuspricht und die Frau des Gouverneurs davonjagt und den fraglichen Nachlass des Gouverneurs der Dorfgemeinschaft zuspricht. Auch scheidet er Grusches Zweckehe, sodass sie nun den Soldaten Simon heiraten kann.
Kaukasischer Kreidekreis – Deutung
Brecht will im kaukasischen Kreidekreis – wie die Rahmenhandlung deutlich macht – die Problematik auch in Bezug auf Ökonomie und Soziologie verstanden wissen. Im Kommunismus gilt nicht nur, dass die Produktionsgüter (Land, Rohstoffe, Maschinen, Arbeitskraft) verstaatlicht werden und somit der Gemeinschaft gehören, sondern auch, dass sie im bestmöglichen Sinne für das Allgemeinwohl eingesetzt werden sollen. So ist es für die Gemeinschaft in der Rahmenhandlung vorteilhafter, das fruchtbare Tal zum Obstanbau zu nutzen und nicht für die Ziegenzucht. Übertragen auf die Arbeitskraft bedeutet dies zudem, dass ein jeder gemäß seiner Neigungen und Fähigkeiten (so wie Azdak als Richter) eingesetzt werden soll und nicht bloß nach amtlichen Qualifikationen, die mehr Aufschluss darüber geben, wie gut jemand in ihn gesetzte Erwartungen erfüllt, als darüber, wie geeignet er wirklich ist.
Bertolt Brecht: „Der kaukasische Kreidekreis“ in „Ausgewählte Werke in sechs Bänden – Stücke 2“, Suhrkamp Taschenbuch 3732, Frankfurt am Main
Siehe auch: Hörspiel des Stückes auf HR2: Kaukasischer Kreidekreis.