Joshua Sobol: Der Kaufmann von Stuttgart. Uraufführung in Stuttgart, Altes Schauspielhaus (Mai 2013)
Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr (1954) schlägt sich der israelische Theaterautor Joshua Sobol mit der Hinrichtung des Joseph Süß Oppenheimer herum. Eine in Stuttgart bisher verschlafene Untat. Je unklarer, desto besser für die Vermarktung. Und nur noch darum geht es der Medienindustrie.
Gehenkt wurde der Heidelberger Finanzberater und Händler auf dem Stuttgarter GALGENBUCKEL, im Jahr 1738. Sechs Jahre lang blieb die Leiche hängen, ein im Wind schaukelndes Skelett, hoch droben in einem Käfig. Für jeden Passanten an der Straße nach Ludwigsburg ein unmissverständliches Versprechen, was man in diesem Land erwarten musste, falls man den patrizischen Kreisen nicht passte. Die Drohung reichte nicht nur für Juden, auch für Landstreicher, Obdachlose, Hausierhändler, Zigeuner und sonstige Außenseiter, Rebellen sowieso, bäuerliche wie städtische. Zehn Prozent der Leute lebten damals auf den Straßen, in Wäldern, Verstecken, auf der Flucht. Ein Leben lang illegal. Carl Eugen, der nächste Herzog, griff 1744 durch, bei der Säuberung des Galgens. Als erste Amtshandlung befahl er, das Schreckgespenst des Judenhasses am Fuße des Galgens zu verscharren. Die Regierungsräte und Patrizier (Ehrbarkeit) sahen den Verzicht auf die Drohgebärde nicht gerne. Württemberg war pietistisch, die Juden waren die Erbfeinde, seit der Kreuzigung des Jehoschua von Nazareth.
Seitdem schreiben deutsche Federn flott gegen den toten Juden, in ererbter Abneigung. In der ersten Erzählung „Jud Süß“ (1827), jung geschrieben vom Stuttgarter Märchendichter Wilhelm Hauff, schlug der alte Hass nach knapp 90 Jahren wieder durch – und siegte auf der ganzen Linie, bis heute. Von Widerspruch keine Rede, 275 Jahre lang. Warum und von wem Süß gehenkt worden war, ist in Württemberg bis heute so klar wie ein Nebeltag auf der Schwäbischen Alb. Herrlich anzusehen, dieser Tote, zwölf Meter über dem Talkessel. Am höchsten Galgen des Deutschen Reiches, worauf die Stuttgarter stolz waren. So hätte es bleiben können. Doch da fuhr der Roman „Jud Süß“ (1925) von Lion Feuchtwanger dazwischen. Nach Verlagsangaben angeblich in drei Millionen Exemplaren verkauft, inklusive Übersetzungen. Absolut nicht glaubwürdig. Der nächste Schritt im MEDIENZIRKUS: der Nazifilm „Jud Süß“ von Veit Harlan (1940). Die Herrenmenschen lockten damit 22 Millionen Zuschauer ins Kino, mindestens genauso viele in die übersetzten Fassungen in allen Ländern, die von deutschen Armeen geknechtet wurden, also fast in ganz Europa. Der größte finanzielle Erfolg von Goebbels‘ Filmwirtschaft. Dieser „Jud Süß“-Film macht noch heute im nachwirkenden NS-Kulturerbe den lebendigsten Teil aus. Eine tödliche Geschichtsfälschung, die den nachgeborenen Generationen im Magen liegen geblieben ist. Öffentlich darf das LÜGENWERK nicht gezeigt werden, nötig ist eine geschlossene Sonderveranstaltung mit wissenschaftlicher Einführung. Welcher Filmfan will sich das antun?
Mit all seinen Hintergründen, Akteuren und brachialen Rechtsbrüchen wäre der Justizmord von 1738 seit 1998 besser zu verstehen: dank einer Biografie, die sich erstmals komplett durch die 30.000 Seiten Gerichtsakten hindurch gefressen hat (Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer. 479 Seiten). Von diesem Wissen ist auf den Theaterbühnen auch nach 14 Jahren nichts angekommen. Im Gegensatz zum Publikum, das unermüdlich Fragen nach dem Ermordeten stellt, wollen die Dramatiker nicht wissen, was wirklich geschah. Sei alles bloß Geschichte, kalter Kaffee, im besten Fall Mythos. An historischer Wahrheit sei nichts zu verdienen, sagen die Herren an der Kasse.
Joshua Sobol erhielt 2009 vom Fernsehregisseur Dieter Wedel den Auftrag, bei den Nibelungenfestspielen in Worms den hingerichteten Süß zu präsentieren. Ein geschickter Schachzug, einen Israeli zu beauftragen: ein wohlmeinender Schutzschild. Jude: ja, aber kein deutscher. Israeli: gut, aber keiner mit historischen Kenntnissen oder gar Ambitionen in solche abwegige Richtung. Wäre geschäftsschädigend, das Publikum bliebe aus, glaubte Wedel. Bekannt ist Sobol als ein schneller Schreiber. Nach wenigen Wochen schickte er nach Worms eine durch und durch israelische Fassung. Der Staat Israel als die einzige progressive Kraft im Nahen Osten, die auf die antisemitische Gegenwehr der palästinensisch-arabischen Umgebung stoße. Israelischer Fortschritt gegen arabische spätfeudale Reaktion. Warum die Kriege im Vorderen Orient ausgerechnet der Heidelberger Jude Süß und schon im Jahr 1738 büßen musste, ist beim besten Willen nicht zu verstehen. Dieter Wedel, auf die Sensationsgeilheit des Fernsehpublikums abonniert, verlangte von Sobol mehrfach Überarbeitungen. Nach der vierten griff Wedel durch und schrieb selber ein neues Stück, das im Sommer 2011 herauskam. Auf den Plakaten erschien Dieter Wedel als Mitautor, an zweiter Position, nach der Umarbeitung 2012 sah sich Sobol auf den zweiten Rang verdrängt. Dem Thema Mord an Süß Oppenheimer haben alle Bearbeitungen nicht gut getan. Das Justizgeschehen wurde nie verständlich, aber das interessierte die Festspielleitung erklärtermaßen ja auch nicht. Im Vorfeld hatten die Theatermacher die genannte Biographie bekommen, samt ähnlichem historisch gesichertem, neuem Material. Alles ein Schlag ins Wasser. Beim Kontakt mit dem Dramaturgen bekam der Geschichtsausgräber eingeschenkt: Die rechtlichen Verwickelungen des ganzen Justizmordes, die differenzierten Motive der Mordrichter, all das müsse ausgeklammert bleiben. Interessiere das Publikum nicht. VIEL ZU SCHWIERIG. Damit verlor das Geschehen seine Verankerung bei den damals herrschenden Politikern. So macht man moderne Medienmärchen.
2012 schritt Wedel auf diesem Irrweg weiter. Herausgekommen ist eine ärgerliche Mischung: einerseits antinazistisch, also korrekt, aber auch ein Hassstück auf Kosten von Joseph Süß. Die Hetze des Nazireichs gegen Juden wurde mit auf die Wormser Bühne geholt. Um den Geschmack des Boulevards zu bedienen, stemmte sich Süß auf der Bühne gegen einen von Wedel neu gebastelten Nazifilm. Eine mordsüchtige Nazibande agierte auf einem Filmstreifen am rechten Rand der Bühne. Man hätte glauben können, es handle sich um den damaligen Stuttgarter Judenhass, nach dem Motto: DAS VOLK STEHT AUF. Damit begegnen wir einem alten Versatzstück des deutschen Antisemitismus, wie es Lion Feuchtwanger dem Nazi Veit Harlan weitergegeben hat, zu besichtigen im Film „Jud Süß“ (1940). Es rächt sich, wenn die Theaterleute die Geschichte nicht studieren, sondern lieber von anderen Schauerstücken abschreiben. Die „Jud Süß“-Verarbeitung auf dem Theater und in Büchern ist eine endlose Geschichte von denkfaulen, bequemen, geschichtsfernen ABSCHREIBERN. Damit kann man in dieser Branche weit kommen. Der parallele Nazifilm auf der Wormser Bühne 2012 schlug aufdringlich über den Zuschauern zusammen. Süß erscheint als bereits todgeweiht. Die Zuschauer wissen, worauf alles hinausläuft. Ohne Spannung, Überraschung, Aufklärung bekommen wir ein triviales Stück: Rührung und Hass irrational gemischt. Keine Filmszene ließ sich mit dem Theatergeschehen auf der Bühne verbinden. Der Film machte eine zusätzliche Ebene aus, wo schon die erste nicht zu fassen ist. Wedel missachtete eine uralte Erfahrung, dass bei der Konkurrenz von Wort und Bild nur das Wort verlieren kann, hier das Theaterstück. Und so siegt der Nazischmarrn.
Nun bekam Sobol 2013 in Stuttgart die Chance, seinen Süß ohne Einmischung eines anderen vorzustellen. Gleich am Anfang schwebt der Käfig in der Höhe, hinter dem Vorhang durchschimmernd. Das unentbehrliche Markenzeichen des Ermordeten. Damit ist das Ende schon vorweg genommen. Dramaturgisch eine Todsünde. Folkloristisch geht’s weiter. Klezmer mit Klarinette, eine Tanzgruppe. Wo Klezmer ertönt, scheint’s jüdisch zu werden, automatisch. Wir hören Jiddisch, was der historische Süß absolut vermied, er wollte ein moderner Geschäftsmann sein, nicht reduzierbar auf seine Herkunft. Als Erwachsener trug er NIE EINE KIPPA. Vom koscheren Essen und Trinken hielt er schon lange nichts mehr. Dennoch bot er seinen ausnahmslos orthodoxen jüdischen Geschäftskollegen in seinem Haushalt eine koschere Küche. Zum Beginn des Stücks hat Süß soeben in Mannheim, seiner ältesten Geschäftszentrale, eine Niederlage erlitten. Er hat zwar vom Kurfürsten der Pfalz das Stempelpapier gepachtet, das von jetzt an alle Bürger bei den Behörden für Urkunden verwenden müssen. Aber alle boykottieren es, auch die Gerichte und herrschaftlichen Behörden. Und da jammern unsere Historiker vom ABSOLUTISMUS in Deutschland, eine Erfindung der bürgerlichen Depression nach der verlorenen 1848er Revolution. Soeben hat Süß also vor dem Mannheimer Gericht verloren, die Ungehorsamen bekommen Recht – angeblich. 800 Gulden habe es den Süß gekostet. Wie viel das wert ist, erfahren wir nicht. – Für 1.500 Gulden baute man in Mannheim ein neues großes Haus. Der Pächter Süß bekommt sein dem Landesherrn vorgeschossenes Geld für das amtliche Stempelpapier nicht ersetzt. Hier bediente sich Sobol meiner Biografie, ohne die eigentliche Bedeutung der Mannheimer Erfahrung zu verarbeiten. Süß lernte nämlich durch die Obstruktion sowohl der staatlichen Behörden als auch der Bürgerschaft, dass er nur gestützt auf einen Landesherrn wirtschaftlichen Erfolg erzielen konnte. Diese Lehre wird er in Stuttgart beherzigen. (meine Biographie S. 51ff) Ausgerechnet diese Niederlage will Süß feiern, gar mit jüdischer Kultur? Komisch. Süß zieht bei Sobol aus der Schlappe nur den Schluss, er solle halt nicht mehr geldgierig sein. Blech! Da klingt bereits Feuchtwanger an, der uns ins Dunkel hinunterziehen wird. Mit moralinsaurem Zeigefinger. Was für eine platte Dramaturgie. Süß kommt mit dem neuen Herzog Karl Alexander, dem er bereits als Erbprinzen 80.000 Gulden leiht, an die Macht. Meint Sobol. Süß will des Herzogs Ratgeber werden, die öffentlichen Angelegenheiten prägen, einen „besseren Staat“ schaffen. Die Moral verbessern. So Sobol. Eine reichlich naive Vorstellung von einem Finanzbeschaffer. Ob Sobol diesen erfundenen Süß selbst glaubt? Er lässt Süß träumen, am Profit überhaupt nicht interessiert zu sein. Was für ein Gutmensch. Soll diese märchenhafte Gestalt womöglich die Finanzwelt zu einer moralischen Welt machen? Man will’s kaum glauben. Die Dialoge stolpern bei Sobol so platt über die Bühne, dass schon von Anfang an nichts glaubwürdig ist. Hier spricht kein Finanzier, eher ein Religionseiferer. Von dieser Sorte haben wir heute wirklich genug, weltweit und in allen Schattierungen. „Ein Laster“ hat er wenigstens, dieser Moralapostel: Frauen. Die Dramaturgie freut sich, das Publikum darf auf Klatsch hoffen. Der Boulevard wird heimisch. Der historische Süß war weit davon entfernt: viel zu isoliert, nach keinem Liebeserlebnis zufrieden, ständig weiter hetzend, überall ausgeschlossen, besonders aus der Frauenwelt. Mit dem wirklichen Süß hätte man auf der Bühne keinen erotischen Blumentopf ernten können, also wird in Sachen Liebe ein Abziehbildchen ausgeschnitten und an die Bühnenwände geklebt.
Zu Süß’ Kontrahent wird der Baron Röder, bei Veit Harlan ein kreuzbraver, knochentrockener Patriot, bei Sobol vorbildlicher Repräsentant der Hofwelt. Er spricht Süß direkt als „Jude“ an. Im historischen Stuttgart hätte er sich das nicht getraut. Süß hatte es sich verbeten, so tituliert zu werden. Religionsdinge wollte er aus dem geschäftlichen Alltag draußen halten. Sobol dürfte so etwas in meiner Biografie gelesen haben. Schwamm drüber. Wer das Theater beleben will, darf weit drüber hinaus lügen, bis die Bretter sich biegen. So lautet die heute herrschende Devise der Theaterwelt. Es ist eh egal, mit was für einem neuen Vorurteil die Zuschauer nach Hause gehen. Diesem Röder will Süß weismachen, er gebe dem Herzog Kredit zum Wohl des Landes. Süß verpfändet sein Vermögen. Warum? „Eigene Dummheit“, meint Sobols Süß. Und schiebt noch naiver nach: Er glaube, der Herzog wolle „das Land reformieren“. Hören wir so heute nicht Pressesprecher jeder Regierung? Und schütteln uns: LÜGENPACK. Zum Trost begegnen wir einer weiteren modernen Plattitüde, wie die Gazetten sie uns einbläuen: Alle Finanziers seien Betrüger. Das Publikum freut’s. Hier gab’s den einzigen Szenenapplaus des wenig ankommenden Stückes. Der Israeli Sobol beschreitet auch bei der Nachforschung nach Süß’ Herkunft eine alte falsche Fährte, das scheint bei seinem Ansatz unvermeidlich zu sein. Ein alter Ausfall, um die Familie Süß zu demütigen. Der Heidelberger Finanzier sei gar kein echter Jude, sein Vater vielmehr der katholische General Heydersdorff, der vor den französischen Truppen die Stadt schändlich preisgab. Diesen Unsinn verzapften einst die Heidelberger, um mit Süß’ Mutter Michele die ganze Familie anzuschmieren. Sobol weiß aus meiner Biographie, welch trübes Spiel er hier treibt. Dieser General befand sich zur Zeit des behaupteten Abenteuers bereits seit Jahren im Gefängnis. Außerdem war Süß’ Mutter viel zu jung, beim Beginn der Schwangerschaft wäre sie erst zwölf Jahre alt gewesen, ein sexuell unreifes Mädchen (Biografie S. 17/18). Ihre Schwängerung hätte einen lebenslangen Makel dargestellt. Davon hätten wir aus anderen, besseren Quellen hören müssen. Eine angesehene Ehe wäre so von Anfang an völlig unmöglich gewesen. Sobols Rumschnüffeln in der Herkunft des Süß ist Unfug: mit böser Absicht. Um Württembergs Finanzen zu verbessern, schlägt Sobol wie ein heutiger Finanzminister ein allgemeines Steuersystem vor, ohne Privilegien für die höheren Kreise. Sobol weiß, dass er auch hier wild flunkert. Es tut einer schwer verleumdeten historischen Persönlichkeit wie dem Joseph Süß auf der Bühne nicht gut, wenn sie auf den Horizont heutiger Sensationsjournalisten zugeschnitten wird. Dem Herzog rutscht mal ein antisemitischer Witz heraus, auch das ist historisch nicht belegt: Er, der Herzog, wolle keine Gelegenheit hinausgehen lassen, einen Juden aus der Welt zu schaffen. Glaubt Sobol, mit solchen Erfindungen das Problem des deutschen Antisemitismus angemessen zu beschreiben?
Auch die einzige Frau, mit der Süß ein halbes Jahr gut, man kann sagen, glücklich zusammen gelebt hat, die Luciana Fischer, wird von Sobol verunstaltet. Aus der gebildeten, tüchtigen Tochter eines pfälzischen Regierungsrats macht er wahrheitswidrig die einfache Bedienung in einer Kneipe. Das Liebesverhältnis Luciana-Joseph bleibt papieren, wie die meisten Dialoge in diesem unglücklichen Theaterstück. Für die zweite Wormser Fassung erfanden die Autoren Wedel/Sobol Großgrundbesitzer im alten Württemberg. Unfug. Im kleinwirtschaftlichen herzoglich-evangelischen Württemberg gab es auf Grund der REALTEILUNG des Besitzes schon lange keine großen Höfe mehr. Sobol weiß das, ich hatte es den Herren auch gesagt. Sie halten den Einwand, ihre Figuren seien historisch unglaubwürdig, wahrscheinlich für die Skrupel eines kleinlichen Landeshistorikers. Lucie, eigentlich Luciana Fischer, betet das Sobolsche Steuerprogramm des Süß nach. Das Stück verkommt mehr und mehr zum Deklamationstheater. Die Figuren stehen häufig unbeschäftigt herum, was durch die kleine Bühne unterstützt wird. Lucie: Nur der Jud könne das Land ändern. Durch ein neues Steuersystem, wiederholt Süß. Flaches Zeitungsgeraschel. Es kommt noch die Gräfin von Grävenitz ins Spiel, die Geliebte des vorherigen Herzogs Eberhard Ludwig. Auch sie darf zum Kaffeeklatsch beisteuern: Süß sei „ein Künstler bei den Frauen“. Wär’ er gern gewesen, aber man ließ ihn nicht. Ein Jude war als erotischer Akteur tabu. Eine Frau, die sich mit ihm einließ, wär’ unten durch gewesen. Bei Hof und in besseren Kreisen hatte Süß nie Chancen. Das wusste er. In Stuttgart oder sonst in Württemberg hatte er keinen einzigen Freund. Im Gegenzug will Süß vom Herzog, dass die Judensteuer abgeschafft werde. Mit solchen Gesprächen bekommt man nur Zeitungspapier, kein lebendiges Theater. Sobol mag gespürt haben, dass er auf diesem Niveau keine echten Persönlichkeiten schafft, kein Verständnis für die Entstehung und Fortdauer des deutschen Antisemitismus. Deshalb flüchtet er entschieden in die Globalfinanzpolitik. Es gehe im Staat doch nur um das Transportwesen, den Handel. Die Welt sei „ein einziger Marktplatz“. Süß wolle Kapital investieren gegen die Restriktionen auf dem Markt. Wir sumpfen im ideologischen Gewäsch der Globalisierung herum. Lächerlich, für diese Substanzlosigkeit so viele Personen und ein Theaterhaus zu bemühen. Süß gibt sich „modern“, über die Wirtschaftsliberalen hinaus. Bei Sobol blitzt der gemäßigte Sozialdemokrat durch. Nötig sei eine Steuerprogression, die übrigens erst 1848 aufs Tapet kam. Was Sobol da bietet, ist ein wirrer Haufen angelernter Parolen, zu keiner Epoche passend. Wieder und wieder posaunt Süß hinaus, er wolle „das Wohl des Landes fördern“. Immer dasselbe gestanzte Wortgeklingel. Sobol versteht nicht, solche Gedanken aus einer Konfrontation aufzubauen. Es ist zum Schnarchen. Wo Süß die Bühne mit seinen Sprechblasen füllt, bleibt auch der Herzog schwach. Süß wird ein immer gewaltiger aufgeblasener Luftballon: Er wolle das Land „in die Zukunft katapultieren“. Dieses Gewäsch haben die vom Finanzkapitalismus gebeutelten Völker heute satt. Warum nochmals abends auf der Bühne hören? Wegen solchen Geschwafels braucht man nicht ins Theater zu gehen.
Die engbrüstige Aktualisierung transportiert ein altes Vorurteil, Süß sei in Württemberg doch nur Gast, er habe kein Recht, in die Steuerpolitik einzugreifen. – Hat er ja nie getan. – Und er solle „die Tradition des Landes respektieren“. Wenn es ihm nicht passe, könne er ja gehen. Ach ja, es ist immer einfach, aber nicht lustig, sich auf das Niveau der Stammtische zu begeben. Um dem Herzog, angeblich für den Krieg, Geld zu beschaffen, verlangt Süß das Münzmonopol. Sobol hätte meine Biographie besser lesen soll. Ein Finanzberater konnte dieses Monopol nie bekommen, das blieb immer beim Landesherrn, überall im Deutschen Reich. Irgendwie scheinen in Württemberg heimlich neue Steuern beschlossen worden zu sein. Über Nacht? Wie und von wem, bleibt neblig. Der Untertan, der Bauer Demmler, sei auf einmal verpflichtet, die neuen Steuern seines Großgrundbesitzers zu bezahlen. ??? Mager die antisemitische Predigt eines evangelischen Pfarrers. Die Juden sollen enteignet werden. Nur? Hatte Luther nicht weit mehr gepredigt? Kennt Sobol den vor Blut triefenden Judenhass Martin Luthers nicht? Luthers Hassgedanken wurden von den Nazis einst gierig nachgedruckt, massenhaft. Die evangelische Kirche hat sich nach dem Krieg in Schweigen gehüllt.
Als wegen der neuen Steuerpolitik Hass über Süß zusammenschlägt, lässt Sobol ihn einfach den jüdischen Glauben verleugnen. Billige Lösung und GROTTENFALSCH. Der wirkliche Süß von Stuttgart und Heidelberg war einer unserer ERSTEN AUFKLÄRER in Deutschland, besaß die einzige Aufklärungsbibliothek in ganz Süddeutschland. Er hatte, solange er im Geschäftsleben relativ frei handeln konnte, die Religion eines vernünftigen, zuverlässigen, loyalen und gegenüber Schwächeren solidarischen Geschäftsmanns. Er war nicht Atheist, wie Sobol mit seiner Begabung für Verfälschungen erfindet. Joseph Süß war DER ERSTE TOLERANTE AUFKLÄRER, der keiner Religion eine besondere Vorliebe entgegen brachte, solange er in Freiheit lebte. Solange……! Sobol dürfte in der Biographie gelesen haben, dass Süß trotz der zunehmenden Gefährdungen in der brutalen Haft lieber wieder die Religion seiner Vorfahren vorzog. Schon früher hatte der kaiserliche Hof in Wien ihn zur christlichen Kirche herüberziehen wollen: Wenn er übertrete, könne er in den ADELSSTAND erhoben werden. Ein lockendes Angebot. Doch Süß fühlte sich bei seinem jüdischen Glauben durchaus wohl, er hatte überall gut damit gelebt. Warum muss Sobol auch diesen Charakterzug verhunzen? Damit verfehlt Sobol sogar eine häufig zu beobachtende jüdische Prinzipientreue, als Juden unter dem NS-Terror, spätestens in den Todeslagern es vorzogen, sich offen zu ihrer Herkunft zu bekennen. Angesichts der angeblich zunehmenden Kampagne im Land gegen Süß soll die württembergische jüdische Gemeinde dem Süß geraten haben, sich von der Politik zurückzuziehen. Sobol patscht wieder daneben. Im herzoglichen evangelischen Württemberg gab es keine einzige jüdische Gemeinde, seit 1496 nicht. In Stuttgart lebte 1737 als der einzige akzeptierte Jude der Hoffaktor Marx Nathan aus der Frankfurter Judengasse, zusammen mit dem Personal seiner Handelsfirma. Eine handlungsfähige Gemeinde ist das nicht, eher ein kleines Häufchen von Verängstigten, die jeden Tag mit einem Pogrom rechnen mussten. Der staatliche Schutz war in Württemberg kümmerlich, die Pietisten waren notorische Judenhasser. Als Süß gehenkt wurde, hielt der Pfarrer der Stuttgarter Leonhardskirche eine seiner klassischen antisemitischen Predigten, voller Schadenfreude über den auf dem Galgenbuckel Sterbenden. Nach der Pause singt Süß mit Lucie ein Liebeslied, jiddisch.
Das Problem der Münzfälschung hat Sobol nicht verstanden, obwohl hier ein großes Kapitel bei mir zu finden ist (S. 126-151). Zuerst schreibt Sobol richtig bei mir ab, der Geheimrat Georgii werfe Süß den minimal geringeren Edelmetallgehalt der Münzen vor: „Hochverrat!“ Süß: Das komme von den gestiegenen Preisen für das Edelmetall, bedingt durch den Krieg. Das Land müsse mehr Geld prägen, um die hohen Kriegskosten zu bestreiten, behauptet Sobol. Tatsächlich zahlte im Reichskrieg gegen Frankreich die kaiserliche Kasse die Kriegskosten, nicht Württemberg. Süß dagegen konnte bei gestiegenen Metallkosten seine extrem hohe Münzpacht für den Herzog nicht mehr erwirtschaften, außer er senkte den Edelmetallgehalt ein wenig. Was damals übrigens viele andere deutsche Münzstätten auch machten. Aber weil da kein Jude Pächter war, konnte man niemanden aufhängen.
Süß gibt gegen Ende wieder ein Fest, den jüdischen Karneval Purim. Leider kommt auch hier kein Schwung auf die Bühne. Steife Deklamationen, ein müder Haufen. Fast so spannend wie Tipp-Kick, Tischfußball. Die im Stück funktionslose 14jährige Magda übernimmt reichlich unglaubwürdig die Rolle des persischen Judenhassers Haman im Exil, der erlaubte, dass Juden ermordet und ausgeplündert werden durften. Von Fasching ist in dieser zähen Szene nichts zu spüren. Die Großgrundbesitzer und Patrizier erkennen, dass Süß den Herzog völlig unter Kontrolle hat. Hier drückt erneut der judenfeindliche Roman „Jud Süß“ von Feuchtwanger durch. Der von Süß angeblich unmündig gehaltene Herzog soll endlich gestürzt werden. So etwas hätten die biederen Württemberger nicht einmal zu denken gewagt, sie waren keine verfrühten Jakobiner. Paris ist woanders und zwei Generationen später. Den Süß, angeblich der zweitwichtigste Mann in Württemberg – oder nicht doch der wichtigste? – beteten die Frauen und Mädchen angeblich an. Diese Männerphantasie polierte in Worms schon Dieter Wedel. Mit dieser erotischen Kunstfigur erfahren wir mehr über Wedel als über Süß. Mit sechs Frauen sechs Kinder zu machen, ist Wedels Empfehlung für das Thema, der eingekesselte Süß brachte es nur zu einem einzigen Kind. Und gerade von seinem kleinen Sohn durfte er bis zum Galgen nichts erfahren. Leider erzählt Sobol davon nichts. Ist halt keine prickelnde, den Hass steigernde Sensation.
Wenn das Boulevard ins Bett hüpfen will, muss wieder Feuchtwangers Roman ran. Süß soll dem Herzog das kleine Mädchen Magda ins Bett locken, eine erst vierzehnjährige. Unfug. So jemand war damals viel zu jung. Magda wird durch Süß’ Mithilfe dem Herzog ins Prunkbett gezerrt, mit Gewalt. Süß sperrt die Türe zu, die Vergewaltigte schreit lange von drinnen. Hier kehrt eine widerliche Szene der zweiten Wormser Fassung wieder. Um Süß zum Untier zu machen, wurde er von Wedel/Sobol zum Bewacher des Zimmers erniedrigt, in dem die Tochter eines Kirchenrats vergewaltigt wurde. Wedel hatte daran Geschmack. Der kriminelle Voyeurismus wurde auf der Wormser Bühne gut sichtbar rund zehn Minuten zelebriert. Ein Grundsatz der Theaterwelt, den mir schon ein Dramaturg von Friedl Schirmer im Stuttgarter Schauspielhaus aufs Auge drückte: Wenn der Süß nicht etliche üble Seiten aufweist, darf er nicht auf die Bühne kommen. Sonst wäre er ein Gutmensch, und der habe im Theater nichts zu suchen. Eine deutliche und peinliche Zusammenarbeit mit dem allgegenwärtigen Antisemitismus. Nein, meine Herren Theatermacher, so beschreiten sie, vielleicht auch ohne es zu merken, die breiten Pfade der deutschen Antisemiten. Der Vater, der die Vergewaltigung seiner Tochter mit anhören muss, bekommt das Justizministerium versprochen. – Was in Württemberg überhaupt nicht existierte. – Und ist zufrieden, selbstverständlich. Ein Vater, der hier rebelliert hätte, wäre diesen Theatermachern inakzeptabel gewesen.
Das Purimfest, der jüdische Karneval, stört die christliche Fastenzeit. Nun setzt der traditionelle Judenhass ein, die Juden hätten Gottes Sohn umgebracht. Süß will flüchten, wird festgenommen. Ohne Haftbefehl. Erste Haft auf der Festung Hohenneuffen bei Nürtingen, der Onkel Landau geht zu Süß auf die Festung. Naiv, wie wenn es sich um einen Spaziergang handelte. Die Festung war total abgeschlossen, die Obrigkeit ließ niemand zu dem Gefangenen, sie hätte mit heimlichen Nachrichten nach außen rechnen müssen. Süß sollte tot geschwiegen werden. Der Prozess sei nur ein Scheinprozess, die wichtigsten Richter sind nur bei 12 Sitzungen von 102 überhaupt anwesend. Bei mir abgestaubt, folglich ist wenigstens dieses Detail richtig. Aber Sobol verfehlt Süß’ Notlage, indem er eine Delegation an den Kaiser in Wien in Gang setzt, für Süß. Gab es eben gerade nicht, wie Süß seinem Pflichtverteidiger Mögling bis zum Ende vorwarf. Die nicht existenten jüdischen Gemeinden Württembergs schicken angeblich eine Delegation an die anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland, um für Süß etwas zu unternehmen. Doch die Juden wollen tatsächlich nichts für ihn tun. Sobol findet einen Ausweg aus der Zwangslage: Das seien halt JÜDISCHE BONZEN gewesen. Der evangelische Pfarrer Hofmann verspricht Süß in der Haft die Freiheit, wenn er zum Christentum übertrete. Süß will nicht, denn er habe überhaupt kein Interesse an irgendeiner Religion. Und dafür sterben? Absolut unglaubwürdig. Wofür den Märtyrer spielen?
Das Ende wenigstens kommt akzeptabel daher. Der Käfig schwebt vom Schnürboden herunter, hält diskret in der Höhe an. Süß bleibt davor stehen. Den Rest können wir uns denken. In Worms hatte es eine martialische Fassung gegeben. Süß wurde von einem antisemitischen Großgrundbesitzer den Galgenbuckel hinaufgeprügelt und in die Schlinge gepresst. Wir haben das unnütze Theaterstück von Joshua Sobol überstanden. Und in Sachen Antisemitismus nichts gelernt. Von Süß fast nichts Zutreffendes erzählt bekommen. Ein verlorener Abend. Passend zu den vielen untauglichen Stücken und Texten zu Joseph Süß Oppenheimer. Es bleibt noch viel zu tun für die REHABILITIERUNG des Joseph Süß Oppenheimer, vom Stuttgarter geheimen Kriminaltribunal ermordet. Der deutsche Theaterbetrieb wird dazu kaum etwas beitragen können.
Autor: Hellmut G. Haasis