Nea Weissberg-Bob / Thomas Irmer: Heinrich Richard Brinn (1874–1944). Fabrikant − Kunstsammler − Frontkämpfer. Dokumentation einer „Arisierung“, Berlin 2002.
Am Neujahrstag 1936 begibt sich der damals 62-jährige Heinrich Richard Brinn, ein Berliner Unternehmer jüdischer Herkunft, auf eine sechsmonatige Reise durch Asien: Ceylon, Indien, Tibet und Japan. Und kehrt zurück in das nationalsozialistische Berlin. Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war der Apotheker und studierte Chemiker – ein „Frontkämpfer“ des 1. Weltkriegs, der im Alter von 21 Jahren zum Protestantismus konvertiert war – aus seiner Stellung als teilhabender Geschäftsführer der in Berlin-Weißensee ansässigen Lackfabrik Warnecke & Böhm vertrieben worden. Kurz vor seiner Weltreise war das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verabschiedet worden. Kurze Zeit nach seiner Rückkehr folgte die „Reichskristallnacht“. Mit Kriegsbeginn wird eine Auswanderung immer schwieriger. Ende 1941 ist sie definitiv verboten. Doch Heinrich Brinn denkt erst ein Jahr später, im Dezember 1942, an Flucht. Da ist es zu spät. Mitte Dezember 1942 wird er nach Theresienstadt deportiert, 1943 nach Auschwitz, das er nicht überlebt.
Eckdaten einer Biografie, die vielfältige Assoziationen auslöst und Fragen aufwirft. „Fragen einer Zeit“, so Michel Friedman in seinem im September 2001 verfassten Vorwort, die auch „das heutige Zusammenleben zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland überschattet“.
Nea Weissberg-Bob und Thomas Irmer haben eine Fülle von Material zusammengetragen. Ihr „dokumentarisches Porträt“ von Heinrich Richard Brinn ist zugleich eine Erzählung aus der Perspektive zweier fiktiver Figuren der nachfolgenden Generation der Opfer und Täter – die Autorin Deborah Mandelbaum und der Historiker Karl Klein – die sich auf die Spurensuche machen. Ausgangspunkt der nachvollziehbar gemachten Recherchen ist die einzige noch lebende Zeitzeugin, die eine persönliche Erinnerung an den Unternehmer hat, das ehemalige Dienstmädchen Helma. Sie erinnert sich an die großzügige Villa im Grunewald, das „Palais Brinn“. Sie hat noch lange Kontakt gehalten mit der nicht-jüdischen jungen zweiten Ehefrau Eva und zeigt einige Kunstgegenstände, die aus dem Brinn’schen Haushalt stammen.
Deborah und Karl finden zahlreiche Auftragsarbeiten für Brinn von Berliner Künstlern der 20er-Jahre – Gemälde, Aquarelle, Möbelstücke, Ex Libris, Skulpturen. Vor dem inneren Auge entstehen Bilder sozialen und kulturellen Lebens in der Weimarer Republik. Brinn war ein Kunstmäzen, umgeben von einer vielfältigen Kunst- und Kulturszene jüdischer und nichtjüdischer Künstlerinnen und Künstler, wie z. B. die Malerin Julie Wolfthorn. Ein Verehrer des gelernten Apothekers Theodor Fontane und Förderer des Schriftstellers Arno Holz. Ein Mann in den besten Jahren, der uns auf alten Fotografien im Badeanzug und auf Schlittschuhen entgegenlacht. Solche Eindrücke verblassen in den 30er-Jahren. Briefliche Auseinandersetzungen zeugen von Brinns Rückzug aus seiner Firma: Sein Kompagnon nutzt die bedrohte Position des „nichtarischen Christen“ aus, um ihn mit allen Mitteln aus dem gemeinsamen Unternehmen zu drängen. Das „Palais Brinn“ wird zwangsversteigert. Umzug in eine kleinere Wohnung. Scheidung von Eva, um das verbliebene Vermögen, finanzielle Ansprüche und übriggebliebene Kunstwerke zu erhalten. 1941 muss Brinn Zwangsarbeit u. a. für die Firma Stiebel Eltron leisten, auch in seiner „alten Firma“ werden, wie auch Hermann Simon, der Direktor des Berliner Centrum Judaicum, in seinem Nachwort zeigt, über 300 Berliner Juden zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die Bedingungen im Ghetto Theresienstadt und den Transport nach Auschwitz, in dem auch Brinn mitfuhr, schildert der Überlebende Jacov Tsur, der als Jugendlicher im selben Auschwitz-Transport wie Heinrich Richard Brinn war. Das die Autoren Jacov Tsur antrafen, zählt zu den vielen bemerkenswerten und zum Teil erstaunlichen Erträgen der Recherchen.
Zuvor zeigen die Autoren jedoch auch, was mit den Angehörigen und dem Brinn’schen Besitz nach 1945 geschah. Im bislang wenig beleuchteten West-Berlin der 50er- und 60er-Nachkriegsjahre versucht Eva Brinn ziemlich erfolglos, Wiedergutmachung für das „arisierte“ Vermögen ihres ermordeten Mannes einzuklagen. Die neuen Grundstückseigentümer lassen das „Palais Brinn“ abreißen, während Eva Brinn in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg eine Künstlerpension eröffnet, die von Schauspielern und Opernsängern gebucht wird. Zusammen mit einem nicht-jüdischen Künstler aus dem alten Kreis und Mitläufer im „Dritten Reich“, landet sie schließlich in Südtirol, wo sie einsam sterben wird. Das ehemalige Dienstmädchen Helma bleibt in Berlin und führt die Pension fort, die mit Relikten aus Brinn’schem Besitz möbliert ist.
Künstlerbiografien, Briefe, Fotos, Bilder, Zeitzeugenaussagen, Gerichtsakten – „Arisierung“, Zwangsarbeit, jüdische Deutsche, Juden in Deutschland und nicht-jüdische Deutsche vor und nach 1945, Deborah und Karl bringen tausend Mosaiksteinchen in eine chronologische Folge, die bis in unsere Tage reicht. Die fiktiven Akteure interpretieren nicht. Sie streiten sich nicht über die Hauptperson Brinn und die Rolle der „Nebendarsteller“. Sie forschen und protokollieren. Das Buch wahrt Distanz zu der Biografie einer realen Person, und gibt doch dem Leser zahlreiche Anhaltspunkte, selber einen Subtext zu der Geschichte zu entwickeln, Akteure und „Zeitgeist“ zu imaginieren. Keine leichte Lektüre, sondern eine, die Hintergrundwissen, Vorstellungskraft und ernstes Interesse fordert. Sie ist sehr spannend erzählt, erwähnenswert ist auch die ausgewählte Gestaltung des Buchs mit festem Einband und zahlreichen Abbildungen. Die Biografie von Heinrich Richard Brinn wird neben einem vom Berliner Centrum Judaicum geborgenen, einmaligen Bestand von Personalakten der jüdischen Zwangsarbeiter von Warnecke & Böhm Mittelpunkt einer im Oktober 2002 eröffnenden Ausstellung des Museums Prenzlauer Berg in Berlin-Weißensee sein.
Autorin (Rezensentin): Katja Neppert
Nea Weissberg-Bob / Thomas Irmer: Heinrich Richard Brinn (1874–1944). Fabrikant − Kunstsammler − Frontkämpfer. Dokumentation einer „Arisierung“. Mit Beiträgen von Michel Friedman, Hermann Simon und Jacov Tsur. Lichtig-Verlag, Berlin 2002, 263 S., ISBN 3-929905-12-4.