Ich habe das Todeslager Akmechetka gesehen
Der historische Hintergrund zu diesem Bericht wurde vom Professor Samuel Aroni, David Chervinskis Sohn, zur Verfügung gestellt.
In Bessarabien sind Juden seit dem 16. Jahrhundert heimisch. Sie waren in allen Lebensbereichen als Händler, Kaufleute, als Intellektuelle integriert. Die Jüdische Gemeinde hat einen großen Anteil auf dem Gebiet der Bildung, des Verlagswesens und des Theaters. 1918 gab es 207 Synagogen und 14.000 Schüler waren in 443 jüdischen Schulen über ganz Bessarabien verteilt.
Die Hauptstadt von Bessarabien war Kischinew. 1897 lebten 15.237 Juden in der Stadt. Als im Juni 1940 die Sowjetunion Bessarabien besetzte, stieg die jüdische Bevölkerungszahl auf ca. 60.000 – 65.000 an, hauptsächlich bedingt durch die Flucht der Juden vor dem faschistischen rumänischen Regime.
Am 22. Juni 1941 wurden viele Anwohner während der Luftangriffe beim Angriff Deutschlands und Rumäniens auf die Sowjetunion getötet. Vor ihrem Rückzug setzten die Sowjets die Stadt in Brand. Drei Tage und Nächte wütete das Feuer. Auf den Ausfallsstraßen wurden ca. 10.000 Juden, die zu fliehen versuchten, von rumänischen und deutschen Truppen erschossen.
Am 17. Juli 1941 besetzten deutsche und rumänische Armeeeinheiten Kischinew. Kurz darauf folgte die berüchtigte deutsche Einsatzgruppe D. Es fanden Massaker im kleinen Umfang statt. Einige Tage später wurden die restlichen Juden in ein Ghetto getrieben, welches in Eile in der Altstadt eingerichtet wurde. Von denen, denen es gelungen war, aus dem Ghetto zu flüchten, wurden die meisten wieder ergriffen, darunter auch die Chervinskis.
Nach rumänischen Berichten betrug die Anzahl der Juden im Ghetto von Kischinew 11.525. Das Ghetto war von einer hohen Mauer mit einigen bewachten Toren umschlossen.
Von Anfang August bis Ende Oktober 1941 fanden regelmäßig Selektionen mit anschließenden Ermordungen im Ghetto von Kischinew statt. Ende Oktober war das Ghetto fast menschenleer und die verbliebenen Insassen wurden in einem Eilmarsch nach Transnistrien getrieben. Im Dezember 1941 lebten noch 96 Juden in Kischinew.
Es ist bewiesen, dass während des II. Weltkrieges 90% der jüdischen Bevölkerung von Kischinew, ca. 53.000 Juden durch Deportationen und Pogrome zu Tode kamen.
(Der folgende Bericht wurde übersetzt und in “Die Vernichtung der Juden Bessarabiens” vom Komitee der Juden Bessarabiens veröffentlicht, Tel Aviv, Nov. 1944, S. 27-30). Übersetzung aus dem Hebräischen ins Englische von Samuel Aroni [3],
Akmechetka,
das war der Name des Todeslagers in Transnistrien. Es war benannt nach dem in der Nähe liegenden großen ukrainischen Dorf im Gebiet Domanovca, Bezirk Golta, gelegen am westlichen Ufer des Flusses Bug, s. Karte.
Ca. zwei Kilometer von dem Dorf, im Tal gelegen, standen vier große Schweineställe aus Lehm gebaut und mit Stroh bedeckt. Sie waren in der vergangenen Sowjetzeit zur Haltung von tausenden von Schweinen genutzt worden. Auf dem nahegelegenen Hügel standen einige Holzbaracken und ein paar Steinhäuser für das Personal, das in den Schweineställen gearbeitet hatte.
Im frostigen Winter 1941-1942 waren mehrere aus Rumänien deportierte Juden bereits zu krank und zu schwach und nicht mehr in der Lage, die harte Arbeit in der Landwirtschaft und im Straßenbau weiter zu leisten.
Als Lösung schlug der Staatsanwalt Balunaro vor, eine Selektion der Schwachen vorzunehmen und diese in den Schweineställen in Akmechetka einzusperren. Der Hintergedanke für diese Entscheidung war, dass „sie so keine Nahrung mehr bräuchten und vor Hunger und Durst sterben würden“.
Diesem Vorschlag folgend, befahl Modest Isopescu, der Gouverneur des Bezirkes Golta, ein Judenhasser, die Auswahl am 10. Mai 1942 vorzunehmen.
Aus dem ganzen Bezirk Golta wurden die kranken und schwachen Juden, einschließlich vieler alter Menschen, Frauen und Kinder zusammengetrieben und in den Schweineställen eingesperrt. Dieser schreckliche Ort wurde von den Juden als „der toiten Lager“ (das Todeslager) bezeichnet. Das Lager war gesichert durch einen Stacheldrahtzaun und einen tiefen Graben. Es wurde von ukrainischer Polizei, die dort stationiert war, bewacht. Die Gefangenen, die flüchten wollten, wurden sofort erschossen.
Mehrere tausend Menschen wurden in verschiedenen Zeiten dort unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten, ohne Nahrung und Trinkwasser. Gefangene, die noch etwas Geld oder in ihrer Kleidung versteckte Juwelen hatten, gaben es dem Wachpersonal für Brot, Obst oder irgendetwas Essbares.
Die restlichen Juden wussten vom Leid, welchem ihre Brüder ausgesetzt waren. Sie wollten helfen. Sie konnten aber nur sehr wenig tun. Den Juden war es nicht erlaubt, ihren Wohnort zu verlassen; auf Zuwiderhandlung stand die Todesstrafe.
Nach vielen Bemühungen gelang es uns – den Mitgliedern der vor kurzem gegründeten jüdischen Gemeinde Domanovca – trotzdem, im Juli 1942 die Erlaubnis zu erhalten, das Lager aufzusuchen, um einen Karren mit Lebensmitteln hinzubringen.
Auch wir, die „Gesunden“ hungerten, aber wir haben uns auf einen Fastentag in jeder Woche geeinigt mit dem Ziel, etwas von unserem knappen Essen für die in Akmechetka vor Hunger Sterbenden zu spenden.
Die Nachrichten aus dem Lager waren schrecklich und schockierend. Uns wurde berichtet, dass die Lagerinsassen hungerten und zu hunderten eines langsamen Todes starben.
An einem Sonntag Anfang August 1942 erhielt ich mit meinen Freunden die Aufgabe, einen Karren mit Lebensmitteln in das Lager zu bringen. Als wir uns dem Lager näherten, bot sich meinen Augen ein schrecklicher Anblick. Viele Menschen standen am Zaun, sie winkten und riefen laut. Und als ich näher kam, erblickte ich Schreckliches: Barfüßige, halbnackte Menschen, sie waren in Lumpen gehüllt. Ich sah sie, Männer, Frauen, Kinder und junge Frauen, ausgetrocknet und ausgehungert bis auf die Knochen, mit schmutzigem und wirrem Haar.
Einige krochen auf ihren angeschwollenen Bäuchen und kauten das spärliche Gras vom Erdboden. Ich bemerkte einige Frauen, die auf einem kleinen erlöschenden Feuer etwas kochten. Ich kann ihre Freude nicht beschreiben, als sie den Karren mit den Lebensmitteln entdeckten. Der Ansturm war so stark, dass wir befürchteten, angegriffen zu werden.
Wir mussten den Karren in einiger Entfernung stehen lassen, und wir baten einige von uns, ihn zu bewachen. Auf dem Wagen waren 96 Brote, 10 Flaschen Öl und 5 kg Salz. Ich schnitt jedes Brot in 5 Stücke. So war ich in der Lage, jedem der 500 bis 600 Gefangenen, die von den ursprünglich 5.000 noch lebten, ein Stück Brot zu geben.
Ich bat sie, in ihre Zellen zu gehen. Zusammen mit meinen Freunden begann ich, Brot, Öl und Salz zu verteilen. Es sollte bis zum nächsten Sonntag reichen, an dem wir wiederkommen wollten.
In den Zellen sah ich Menschen, die zu schwach waren, auf ihren Füßen zu stehen. Nur in ihren Augen brannte ein Feuer – der Wille zu leben. Unter ihnen erkannte ich Menschen, mit denen ich auf dem schrecklichen Weg von Kischinew nach Transnistrien getrieben wurde. Ich kannte sie als starke und gesunde Menschen. Jetzt konnten sie kaum ihre Hände heben, um die magere Ration Brot festzuhalten, die ihnen gereicht wurde.
Am selben Tag konnte ich auf der nahen Farm „Duca Voda“ den Kauf von einem Karren Tomaten organisieren, um diese in das Lager zu bringen und unter den Leuten zu verteilen. Ihre Freude nahm kein Ende. Von jeder Zelle hörte ich Rufe: „Cervinschi, hab Mitleid mit uns, geben Sie uns ein paar Tomaten mehr, wir möchten leben, lassen Sie uns nicht verhungern“. In einigen dieser Zellen traf ich bekannte Persönlichkeiten, so die Mutter mit ihren zwei Söhnen aus der Familie Hertzberg, einer reichen Familie aus Soroka. Das Oberhaupt von der Familie, das einer der reichsten Männer von dieser Stadt war, war bereits gestorben.
Das Schlimmste war es, die jungen Menschen zu sehen. Sie beteten, nicht sterben zu müssen; aber sie hatten keine Kraft mehr zum Überleben. Ich gab ihnen mein eigenes Geld, was ich noch hatte.
Erschüttert und verstört war ich im Begriff, das Lager zu verlassen, als der Vorsitzende der Farm „Duca Voda“, welcher das Lager beaufsichtigte, zu mir kam. Er bat mich, ihm zu helfen, alle zu versammeln, weil er ihnen etwas zu sagen hätte. Langsam versammelten sich die Leute. Ich sollte übersetzen, weil einige Juden aus der Ukraine waren und kein Rumänisch verstanden. Er hatte ein Angebot für sie: Bevor der Herbst kommt und es anfangen würde zu regnen und zu schneien, sollten sie Lehmziegel herstellen, um das Lager auszubessern, Öfen zu bauen, und die „Gesunden“ von ihnen sollten Heizmaterial für den Winter sammeln.
Auf dieses „großzügige und humane Angebot“ erwiderten alle einhellig, dass, „wenn die Behörden meinten, uns hier bis zum Winter gefangen zu halten, sei es besser, sie brächten Maschinengewehre und töteten uns alle, um es hinter sich zu bringen – und damit sei es erledigt. Wir wollen keine Öfen bauen, wir möchten lieber sterben als den Winter unter diesen Bedingungen zu erleben.“
Ich habe diese Menschen voller Bitterkeit und Schmerz verlassen. Sie sahen uns verzweifelt an. Als wir gingen, konnten wir noch ihr Schreien hören:
„Vergesst uns nicht, rettet unsere Seelen!“.
…Es scheint mir heute noch so, als wenn ich ihre Stimmen höre und die Schatten ihrer leblosen Körper im Todeslager Akmechetka sehe.
Die Chervinskis, ( biographisches)
David Chervinski, Sohn von Aron-Josef Chervinschi, lebte vor dem II. Weltkrieg mit seiner Frau Clara und seinen zwei Söhnen, Samuel und Shraga, in Kischinew. 1941 wurden sie im Ghetto der Stadt eingesperrt. Nur 37 Ghetto-Häftlingen gelang die Flucht. Die Chervinskis waren unter ihnen.
Die zwei Erwachsenen wurden später wieder gefangen genommen und nach Transnistrien [2] deportiert, wo sie im Lager von Domanovca interniert wurden; die zwei Jungen blieben versteckt in Rumänien. David und Clara überlebten und kehrten am Ende des Krieges von Transnistrien zurück. Im Frühling 1944 war die Familie in Bukarest wieder vereint. Von ihrer Großfamilie jedoch gingen viele Familienangehörige zugrunde. Einige Monate später immigrierten die Chervinskis nach Palästina.
Samuel Cervinschi wurde 1927, am 26. Mai, in Kischinew, in der damaligen rumänischen Provinz Bessarabien, geboren. Als Kind lebte Samuel im Ghetto von Kischinew und später versteckte er sich bei Freunden und Verwandten in Rumänien. Nach dem Krieg änderte Samuel seinen Familiennamen in Aroni im Gedenken an seinen Großvater, der auf dem erzwungenen Marsch nach Transnistrien umgekommen war.
Nach dem Krieg studierte er in Australien und graduierte mit Auszeichnung an der Fakultät für Technik in Melbourne. Hier heiratete Professor Aroni Malca Kornfeld. Dort wurden auch ihre zwei Töchter geboren. 1962 zog die Familie nach Kalifornien, wo Professor Aroni seinen Doktortitel im Bauwesen an der Universität Berkeley erwarb.
1994, 53 Jahre nachdem er seine Heimatstadt verlassen hatte, kehrte Professor Aroni nach Kischinew – jetzt die Hauptstadt der unabhängigen Republik Moldawien – zurück. Er beteiligte sich hier an der Vorbereitung des ersten Internationalen Symposiums der Nachkriegszeit zur jüdischen Geschichte, Sprache und Literatur. Das Symposium wurde gefördert von der UCLA (University California, Los Angeles), der Akademie der Wissenschaften Moldawien, der Staatsuniversität Moldawiens und dem amerikanischen Spenden-Komitee. Am Symposium nahmen Akademiker aus Tel Aviv, Moskau, St. Petersburg, Kiew, Zhitomir, Rostov am Don, New York und Los Angeles teil.
Autor: David Chervinski. Übersetzung aus dem Englischen von David Rosenfeld, Eva-Maria Röpke, Dr. Päd. Horst Röpke
Anmerkungen
[2] Die von Rumänien im II. Weltkrieg besetzte Region zwischen den Flüssen Dnjestr (auf Rumänisch: Nistru) und Bug wurde Transnistrien genannt.
[3] http://www2.aud.ucla.edu/aroni/Kischinew/app4.html (Seite nicht mehr abrufbar / 15. November 2014)
Die Übersetzer, ihre Motivation.
David Rosenfeld überlebte die Schoa in den Lagern und Ghettos von Bessarabien und Transnistrien. Er arbeitete als Programmierer und Lehrer für Mathematik und Informatik, als Interviewer der Foundation „Survivors of the Shoa“. Er ist Autor und Übersetzer zum Thema Shoa, u. a. „Gibt es unter den Diplomaten nur zwanzig Judenretter? Einige Anmerkungen zum Katalog der Ausstellung „Ein Visum fürs Leben. Diplomaten, die Juden retteten“
Eva-Maria und Horst Röpke wuchsen in der DDR auf, mit den Anfeindungen und Nachteilen für Menschen, die nicht der Partei hörig waren. Eva-Maria arbeitete über 40 Jahre als Russisch- und Englischlehrerin.
Horst Röpke war über 12 Jahre als Gymnasiallehrer tätig, konnte dann an der Pädagogischen Hochschule, bzw. Universität Potsdam bis zur Berentung 1998 als Medienpädagoge wirken und sogar promovieren.
Sie sind zwei Menschen, die, wie viele ihres Alters, (12/13 Jahre alt am Kriegsende) vom Schicksal der Juden, gar des Holocaust, nichts wussten. Durch autodidaktische Studien, Lehrtätigkeit in der Jüdischen Gemeinde, einen Studienaufenthalt in Israel entstand ein umfangreiches Wissen über das Judentum. Heute als Rentner wollen sie ihren Beitrag leisten, um gerade weniger bekannte Fakten aus den Tragödien des Judentums einer interessierten Leserschaft zugänglich zu machen.