Bis zur letzten Patrone – Mariupol als ein Zentrum des russischen Angriffskrieges

Die letzten Verteidiger in Mariupol im Asow Stahlwerk
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine startete am 24. Februar 2022. Bereits am nächsten Tag begannen die Kämpfe um die für Russland strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol, die bis heute zahlreiche Todesopfer gefordert haben. Es rollen Panzer und die Stadt steht unter Dauerbeschuss der russischen Artillerie. Dabei werden nicht nur militärisch wichtige Orte beschossen, sondern vor allem auch zivile Einrichtungen. Tragischer Höhepunkt des Angriffes war die Bombardierung einer Entbindungsklinik und der Luftangriff auf das Theater von Mariupol. Nach ukrainischen Angaben sollen bislang mindestens 20.000 Einwohner der Stadt getötet worden sein (Stand 22. April 2022).
Warum ist Mariupol strategisch wichtig?
Mariupol ist die größte ukrainische Industriestadt am Asowschen Meer, die über die schmale Wasserstraße von Kertsch mit dem Schwarzen Meer verbunden wird. Sie liegt mit 70 km Entfernung zur russischen Grenze sehr nah an seinem feindlichen Nachbarland. Schon seit Jahrzehnten ist die Stadt im Donezbecken – einem großen Steinkohle- und Industriegebiet – Dreh- und Angelpunkt für Kohletransporte. Von hier aus werden aber auch Stahl, Eisen, Getreide und Maschinen in großen Mengen exportiert. Die Stadt ist eine wichtige Einnahmequelle für Kiew. Durch den russischen Angriffskrieg auf Mariupol gehen Experten von einem gigantischen Verlust in Milliardenhöhe aus – allein für den Sektor Getreide wird ein Verlustbetrag in Höhe von 6 Milliarden Dollar geschätzt. Für die Importnationen Türkei, Ägypten und Jemen ist der Exportstopp des Getreides aber gleichermaßen schwerwiegend. Es drohen extreme Hungersnöte in Nordafrika.
Die Eroberung Mariupols ist für Moskau sehr entscheidend, damit die Stadt als Landbrücke zur bereits von Russland annektierten Halbinsel Krim fungieren kann. Die rund 380 km entfernte Hafenstadt Cherson kontrolliert Russland bereits. Mit Mariupol hätte der Kreml die Kontrolle über die gesamte ukrainische Küstenlinie am Asowschen Meer. Während des Angriffskrieges ist Mariupol als nahgelegene Hafenstadt aber vor allem ein wichtiger Umschlagplatz, um Nachschub für Streitkräfte im Donbass und für die Krim zu gewährleisten.
Mariupol als Symbol des ukrainischen Widerstandes
Der Bürgermeister Wadym Bojtschenko der Stadt Mariupols schätzt, dass mittlerweile mindestens 20.000 Menschen bei dem Angriff auf die Hafenstadt getötet worden sind. Nach ukrainischen Angaben sind allein in einem 20 km entfernt gelegenen Dorf namens Manhusch zwischen 3.000 und 9.000 Einwohner begraben. Erst kürzlich von der US-Firma Maxar Technologies veröffentlichte Satellitenbilder zeigen die Massengräber von Manhusch. Maxar gibt an, mindestens 200 Massengräber anhand ihrer Bilder identifiziert zu haben. Durch den Vergleich vorheriger Satellitenbilder sei klar, dass seit Ende März die ersten Gräber ausgehoben worden seien. Wadym Bojtschenko spricht angesichts der erschreckenden Bilder von einem „neuen Babyn Jar“. Im Zweiten Weltkrieg sind in der Schlucht Babyn Jar nahe Kiew rund 34.000 Juden von den Nationalsozialisten getötet worden. Bojtschenko fordert von der Weltgemeinschaft eine entschlossene Reaktion. Er sagt: „Wir müssen diesen Völkermord stoppen […]“.
Zunächst umringt von russischer Artillerie
Bereits am 1. März gab der Stadtrat an, dass Mariupol vollkommen von russischen Streitkräften umzingelt sei. Die Stadt blieb aber zunächst unter Kontrolle der Ukrainer, die durchgehend massive Bombenangriffe erleiden mussten. Einen Tag darauf brach angesichts des Beschusses die gesamte Wasser-, Heiz- und Stromversorgung in der Stadt zusammen. Aufgrund des permanenten Artilleriebeschusses war es den Behörden bis heute nicht möglich, die Versorgungsleitungen zu reparieren (Stand 22. April 2022). Rasch verschlechterte sich die humanitäre Situation in dem Gebiet, wo die Menschen weder mit Lebensmitteln noch mit Wasser, Strom oder Heizwärme ausreichend versorgt werden konnten.
Am 9. März zerstört die russische Armee mithilfe eines Luftangriffes eine Entbindungsklinik. Schockierende Bilder einer hochschwangeren und blutenden Frau auf einer Trage erreichen die Weltgemeinschaft. International wird der Anschlag massiv verurteilt.
Wenige Tage darauf wird am 16. März das Theater von Mariupol bombardiert. In dem Gebäude waren zum Zeitpunkt des Angriffes hunderte bis tausend Zivilisten zum Schutz untergebracht. Satellitenaufnahmen belegen, dass die Plätze vor und hinter dem Theater deutlich mit dem russischen Wort „Kinder“ markiert gewesen waren.
Appelle der Weltgemeinschaft die Zivilgesellschaft sicher aus der Stadt zu lassen, verhallen. Geplante Waffenruhen und Schutzkorridore scheitern wiederholt. Am 20. März beschuldigt die Stadtverwaltung den Kreml ukrainische Einwohner nach Russland als Zwangsarbeiter zu deportieren. Anfang April wird zudem der Vorwurf laut, dass der Kreml zur Vertuschung seiner Kriegsverbrechen Leichen in mobilen Krematorien verbrennen lasse.
Am 7. April haben prorussische Separatisten nach eigenen Aussagen die Kontrolle über das Zentrum erlangt. Es seien nur noch vereinzelte Kriegsplätze im Hafenviertel und im Industriegebiet des Asow-Stahlwerks zu beobachten. Auch der Bürgermeister Bojtschenko gibt am 11. April zu, dass er sich auf die letzte Schlacht vorbereite, weil die Munition der Ukrainer zu Neige gehe. Daraufhin meldeten die russischen Behörden am nächsten Tag, dass sich 1.026 ukrainische Soldaten ergeben hätten.
Dann verschanzt im Asow-Stahlwerk
Nach russischen Angaben haben sich aber circa 2.500 ukrainische Soldaten und 400 ausländische Söldner in dem Asow-Stahlwerk weiterhin verbarrikadiert und noch nicht ergeben. Zusätzlich sollen etwa 1.000 Zivilisten im Stahlwerk Schutz gesucht haben – wie ukrainische Mitteilungen angeben. Das Stahlwerk befindet sich direkt am Asowschen Meer und hat einen eigenen Hafen. Aus diesem Grund bittet der verschanzte Marinekommandeur Serhij Wolyna die Weltgemeinschaft seine Soldaten, die eingekesselten Zivilisten und sich über den Meerweg zu befreien.
Autor: Bernd Fischer
Weitere Informationen unter:
Aagrauer Zeitung: «Wir werden kämpfen bis zur letzten Patrone»: Die entscheidende Schlacht um Mariupol hat begonnen, in: https://www.aargauerzeitung.ch/international/ukraine-krieg-wir-werden-kaempfen-bis-zur-letzten-patrone-die-letzte-schlacht-um-mariupol-hat-begonnen-ld.2278481.
Ntv: „20.000 Todesopfer in Mariupol“ – Hunderte Massengräber bei Mariupol befürchtet, in: https://www.n-tv.de/politik/Hunderte-Massengraeber-bei-Mariupol-befuerchtet-article23282356.html.
OÖNachrichten: Darum ist Mariupol strategisch so wichtig, in: https://www.nachrichten.at/politik/aussenpolitik/darum-ist-mariupol-strategisch-so-wichtig;art391,3640881.
Spiegel: Verschleppt Russland Menschen aus Mariupol?, in: Ukraine-Krieg: Verschleppt Russland Menschen aus Mariupol?, in: https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-verschleppt-russland-menschen-aus-mariupol-a-d8839f33-a6dd-4aab-a89b-824c18ca4227
Wikipedia: Belagerung von Mariupol, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Mariupol.