Seit nunmehr sechs Wochen befinden sich Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine. Deklariert wurde der Einsatz bewaffneter militärischer Kräfte durch den Kreml als „Spezialoperation“ zur „Entnazifizierung“ des Nachbarlandes. Diese bewusst irreführende Beschreibung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen ein friedliches Nachbarland ist an Zynismus kaum zu überbieten und verstößt gegen mehrere Artikel der UN-Charta. Nichtsdestotrotz sei einleitend festgestellt, dass alle Informationen, welche diesen Krieg betreffen, stets mit Vorsicht zu genießen sind. Vieles ist wenig bis gar nicht unabhängig prüfbar und somit auch eine wahrheitsgetreue Berichterstattung zum jetzigen Zeitpunkt nahezu unmöglich.
Die Russischen Streitkräfte haben bei ihrem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 offensichtlich geglaubt, die ukrainische Hauptstadt Kiew mit einer zügigen Zangenbewegung einkesseln und mit wenig Widerstand seitens der Ukrainer einnehmen, das Regime stürzen und ein schnelles Kriegsende herbeiführen zu können. Vorangegangen waren hierzu als Manöver getarnte Truppenbewegungen im Nachbarland Belarus, welche den massierten Einsatz großer Truppenverbände in diesem Gebiet überhaupt erst ermöglicht haben. Immer wieder hatte die russische Führung unter Präsident Wladimir Putin das Narrativ des unterdrückten Brudervolkes verbreitet. Dabei wird behauptet, die Bevölkerung der Ukraine werde gegen ihren Willen von „Nazis“ regiert, welche wiederum vom Westen unter Führung der USA gesteuert werden. Mit diesem Erklärungsansatz erhoffte man sich von den Ukrainern als Befreier empfangen zu werden. Diese Auffassung erwies sich als Trugschluss.
Nach harten Gefechten und überraschend starkem Widerstand seitens der ukrainischen Streitkräfte, schien eine Eroberung Kiews mit dem veranschlagten Kräftedispositiv der Russen kaum zu verwirklichen zu sein. Weder Streitkräfte noch Bevölkerung wollten sich von den Russen „befreien“ lassen und leisteten teils heftigsten Widerstand. Die Folge war eine vermeintliche oder tatsächliche Verhandlungsbereitschaft der Russen mit dem Ergebnis, sich auf die östliche Ukraine und die dort liegenden abtrünnigen Teilrepubliken konzentrieren und die eigenen Truppen im Bereich von Kiew abziehen zu wollen. Dies trat ein.
Innerhalb weniger Tage räumten die russischen Streitkräfte die besetzten Vororte nördlich von Kiew und verlegten zurück nach Belarus, um sich neu zu gruppieren. Nach dem Abzug der Russen und der Rückkehr ukrainischer Kräfte, sowie Journalisten, bot sich diesen ein Bild des Schreckens. Kern der Berichterstattung war die Kleinstadt Butscha, nordwestlich von Kiew. Die Straßen waren Zeugenaussagen zufolge über und über voll mit getöteten Zivilisten. Um Butscha selbst gab es vor der Besetzung durch russische Kräfte wohl keine Gefechte und Kampfhandlungen mit ukrainischen Einheiten, sodass die Russen ohne großen Widerstand einrücken konnten. Nicht nur durch diesen Umstand stehen Einheimische und Experten ratlos und fassungslos vor Anzahl und Zustand der aufgefundenen Toten. Aussagen von Augenzeugen direkt vor Ort decken sich sowohl mit Satellitenaufnahmen westlicher Geheimdienste, sowie auch abgehörtem Funkverkehr der russischen Armee. So wurden auf den Straßen Butschas tote Zivilisten aller Altersgruppen und beider Geschlechter aufgefunden. Todesursache sind, ersten unbestätigten Meldungen zufolge, oftmals Gewalteinwirkung und hierbei vor allem Schusswunden, teilweise im Hinterkopf. Fundorte und Eigenschaften der Personen lassen keinen klaren Hergang der Vorfälle und vielmehr Willkür und völlige Enthemmung erkennen. Weder handelt es sich ausschließlich um Männer in wehrfähigem Alter, was eine Art Partisanenbekämpfung erahnen lassen könnte, noch sind die Fundorte der Toten auf klare Bereiche begrenzt. Viel grausamer erscheint das Ganze, da sich unter den Toten auch Kinder und vor allem Frauen befinden. Letztere, gemäß Zeugenaussagen, mit Spuren von Vergewaltigungen in nicht geringer Zahl.
Das Massaker von Butscha ist kein Einzelfall
Was genau an diesem Ort vorgefallen ist muss Gegenstand einer unabhängigen, internationalen Untersuchung werden, da die im Raum stehenden Vorfälle nichts geringeres als Kriegsverbrechen darstellen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es jedoch zu früh, um eine abschließende Einschätzung treffen zu können, obgleich die Hinweise und Schilderungen eine erdrückende Last auf die Streitkräfte der Russischen Föderation laden. Trotz dessen Russland selbst jegliche Beteiligung seiner Militärangehörigen an den Vorfällen bestreitet und gar von einer Inszenierung seitens der Ukraine spricht, lassen die, als Beweis angeführten, Satellitenbilder sowie die abgefangenen Funksprüche wenig Spielraum für anderslautende Deutungen zu. Führende Politiker aus Westeuropa und der EU haben sich unmittelbar in Butscha ein Bild von den Opfern gemacht und quasi unisono ihre Eindrücke geschildert. Einige Beobachter sprechen inzwischen von einem zweiten Srebrenica. Ein Vergleich, welcher sorgsam gewählt werden muss aber leider nicht völlig abwegig erscheint. Jedoch können einzig unabhängige Ermittlungen in Den Haag Licht ins Dunkel bringen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
Zu den Hintergründen der Vorfälle lässt sich ebenfalls nur mutmaßen. Das bereits beschriebene Gesamtbild beim Auffinden der Leichen lässt insgesamt eine Art „Menschensafari“ vermuten, bei welcher wahllos und unvermittelt auf wehrlose Zivilisten geschossen wurde. Zur Motivation der Täter lässt sich dabei ebenfalls nur mutmaßen, doch bleiben im Wesentlichen zwei mögliche Erklärungsansätze übrig: entweder es handelt sich um ein besonders brutales Vorgehen einer enthemmten und unregulierten Militäreinheit, welche aus Frust oder bloßem Hass gehandelt hat; oder völlig überforderte, weil mangelhaft vorbereitete Soldaten sind vom Wahnsinn des Krieges innerhalb kürzester Zeit so abgestumpft, dass es zu solchen Taten kam.
Ein dritter, gleichsam wahnwitziger Ansatz ließe vermuten, dass es sich um eine gezielte Methode des russischen Vorgehens handelt – dann wären wir beim Vergleich zu Srebrenica, was dem ganzen Krieg eine völlig neue, noch tödlichere Dimension geben würde.
Autor: Michael Schmidt
Weitere Informationen unter:
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/butscha-ukraine-krieg-russland-101.html