
Hauptquartier des FSB
Wir schreiben das Jahr 1968. Ein sechzehnjähriger russischer Jugendlicher sieht im Kino den sowjetischen Agentenfilm „Schild und Schwert“ über sowjetische Agenten im nationalsozialistischen Deutschen Reich und ist davon so begeistert, dass in ihm der Wunsch entsteht, selbst Geheimagent zu werden, eine Art russischer James Bond möchte er sein. Er sucht die KGB-Zentrale von Leningrad auf, wo ihm ein Jurastudium angeraten wird. Sieben Jahre vergehen. Er hat sein Studium abgeschlossen und wird Mitarbeiter der Auslandsabteilung des KGB. Hier muss man ihm erst beibringen, Menschen mit einem Lächeln für sich zu gewinnen. Weitere zehn Jahre später, 1985, wird er als Agent nach Dresden geschickt, wo er fließend Deutsch lernt und wegen der guten deutschen Küche ein paar Kilo zulegt. Als 1989 die Mauer fällt und dann die Sowjetunion zerbricht, kehrt er nach Russland heim. Der KGB wird in den FSB überführt, in dessen Reihen er rasch aufsteigt. 1998 wird er gar Leiter des Geheimdienstes und stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung unter Boris Jelzin. Der ernennt ihn ein Jahr später zum Ministerpräsidenten. Auf seinen Befehl hin greift die russische Armee Tschetschenien an. Ein Jahr später dann wird er Präsident der Russischen Föderation. Er, Wladimir Putin, ist ebenso ein Kind des russischen Geheimdienstes, wie dieser in seiner heutigen Form das seine ist.
Der FSB, eine der Nachfolgeorganisationen des gefürchteten KGB (Комитет государственной безопасности, dem „Komitee für Staatssicherheit“), denn nach dem gescheiterten Putschversuch des KGB gegen den letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im August 1991 war ihm und dessen Nachfolger Boris Jelzin als Präsident der aus der UdSSR entstandenen Russischen Föderation klar, dass man den KGB entmachten musste, und zwar, indem man ihn aufspaltete. So entstanden der Inlandsgeheimdienst FSB (Федеральная служба безопасности) (Föderaler Sicherheitsdienst) und der Auslandsnachrichtendienst SWR (Служба внешней разведки).
Die Stunde des FSB schlug Mitte der 90er-Jahre. Stalin hatte weite Teile der Wirtschaft entsprechend der sozialistischen Idee verstaatlicht, aber keineswegs um die produzierten Güter wie von Marx und Engels vorgesehen dem Volk gleichermaßen zugutekommen zu lassen, sondern einzig, damit sich die Kommunistische Partei (KPdSU) selbst daran bereichern konnte, also keine Umverteilung, sondern Aneignung. Jelzin wollte dies 1992 rückgängig machen, indem er Anteilsscheine an den ehemals staatlichen Unternehmen zum Verkauf bot. Die mit dem Kapitalismus nicht vertrauten Russen zeigten bis auf wenige kein Interesse und so sicherte sich ein kleiner Kreis an Unternehmern für wenig Geld große Anteile russischer Wirtschaftsunternehmen. Damit begann die Zeit der Oligarchen, von über 100 Milliardären, die sich zudem fast alle in Geschäfte mit dem organisierten Verbrechen verstricken. Gleichzeitig kämpfte die Mehrheit der Russen um ihre Existenz. Korruption und Gewalt regierten in Moskaus Straßen und der verzweifelte Hilferuf nach einem Ende der Gewalt aus den Reihen des Volkes wurde immer lauter. Auftritt: FSB. Der war ein Teil des Erbes des KGB. Andere ehemalige KGB-Agenten, die in die Privatwirtschaft gegangen waren, waren mit ihren Sicherheitsfirmen bereits Teil des neuen Systems und ranghohe KGB-Offiziere waren Teil der Oligarchie, hatten sich in jene mit dem organisierten Verbrechen verstrickte Wirtschaft eingekauft. Als der FSB selbst in das oligarchische System eingriff, verzahnten sich FSB, Wirtschaft und Bratwa. Es entstand ein gefährlicher Machtapparat aus Geheimdienst und organisiertem Verbrechen.
Mitten drin befand sich der Geheimdienstoffizier der aktiven Reserve, Wladimir Putin, und stieg als der Mann fürs Grobe des Bürgermeisters von Sankt Petersburg, Anatoli Sobtschak, auch politisch auf, denn während sich überall im Land die Lebensmittelversorgung in einem desolaten Zustand befand, funktionierte sie in Sankt Petersburg. Als Jelzin wissen wollte, wie das möglich wäre, erklärte Sobtschak ihm, er habe einen guten Organisator. So kam Putin in den inneren Kreis des Machtapparats des Kremls und wurde erst Chef des FSB und dann zu Jelzins Wunschkandidat bei der Ministerpräsidentenwahl 1999. Diese gewann er.
Wie aufs Stichwort kam es bald darauf zu Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau. Die kamen Putin ähnlich verdächtig gelegen wie 1933 der Reichstagsbrand Hitler. Beide Terrorakte wurden nie abschließend untersucht, doch Schuldige fand der jeweilige Machthaber schnell: Hitler die Kommunisten, Putin die Tschetschenen. Und wie George W. Bush 2001 nach den Anschlägen aufs World Trade Center dem Terror den Krieg erklären und Afghanistan angreifen sollte, tat Putin es mit Tschetschenien. Bush wie Putin profitierten politisch von der Bekämpfung des Terrorismus. Als Jelzin überraschend sein Amt niederlegte, wurde mit Putin ein Vertreter des Geheimdienstes Präsident der Russischen Föderation.
Es existiert Bild- und Tonmaterial von einer Rede, die Putin am Tag seiner Wahl vor Geheimdienstoffizieren hielt. Hier sagte er wortwörtlich: „Die Gruppe von FSB-Agenten, die Sie zur Undercover-Arbeit in der Regierung entsandt haben, hat den ersten Teil ihrer Mission erfüllt.“ Scherz oder nicht – am 26. März 2000 übernahm der FSB mit all seinen Verstrickungen mit Wirtschaft und Bratwa de facto die Regierung Russlands.
Der FSB wurde damit auch zu Putins persönlicher Eingreiftruppe. Als am 23. Oktober 2002 etwa vierzig tschetschenische Terroristen um die 800 Menschen in einem Moskauer Theater als Geiseln nahmen, leitete der FSB nach vier Tagen Geiselnahme ein Gas ein und stürmte. 125 Geiseln starben. Fragen durften nicht gestellt werden. Mitglieder der Kommission, die den Vorfall klären sollte, kamen unter mysteriösen Umständen ums Leben oder wurden für den Verrat von Staatsgeheimnissen inhaftiert. Ähnlich ergeht es seither Journalisten, Politikern, Unternehmern und sogar FSB-Agenten selbst, die am System Putin Kritik üben. Aus dem Kreml kommen wenig glaubwürdige Dementi und gerade diese Ungewissheit, die von Zweifel gespickte Angst macht Putins Vorgehen umso wirkungsvoller, ein Vorgehen, das er auch hinsichtlich der Ukraine kultiviert hat. Aber ein Geheimdienst, dem man sein Handeln nachweisen könnte, wäre ein wahrlich lausiger Geheimdienst.
Nach dem Giftanschlag auf Oppositionsführer Alexei Nawalny mit dem russischen Nervenkampfstoff Nowitschok sanktionierte die EU FSB-Chef Alexander Bortnikow mit Einreiseverbot und Kontosperren. General Bortinkow gehört zu Putins engerem Kreis. Er und der kürzlich öffentlich von Putin bloßgestellte SWR-Chef Sergej Naryschkin bilden offiziell die Leitung dessen, was vom KGB übrig ist, doch die wahren Machthaber wie einst Stalins KGB-Chef Lawrenti Beria sind sie nicht. Putin kennt die Mechanismen der Geheimdienste als einstiger Geheimagent zu gut, als dass er sich von ihnen übervorteilen ließe. Dennoch heißt es dieser Tage, dass ironischerweise gerade Bortnikow der Hoffnungsträger von Putins Gegnern ist, dass er ihn im Rahmen eines geplanten Sturzes ersetzen sollte. So wie Putin wegen des sich nicht einstellenden Erfolgs im Ukrainekrieg derzeit mit seinen engsten Vertrauten, die ihn aus gut begründeter Angst nicht über alles ins Bild gesetzt haben, umspringt, wäre es sogar denkbar, dass sie sich zusammen mit den Oligarchen, denen Putin seine Macht verdankt und die derzeit unter den Sanktionen des Westens leiden, gegen ihn stellen und ersetzen. Man sollte sich aber dabei nicht der irrigen Hoffnung hingeben, dass sich mit einem Präsidenten Bortnikow alles zum Besseren wendet. Der Krieg würde enden, aber abseits davon ist Bortnikow ein Mann von Putins Schlag.
Autor: Michael Schmidt
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