Am 11. Dezember 1994 befahl der damalige Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, eine militärische Intervention in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Dies markierte den Beginn zweier aufeinanderfolgender Kriege, die weit mehr als hunderttausend Todesopfer forderten. Um die Hintergründe und die Tragweite dessen zu erfassen, was sich seit den 90er Jahren im Kaukasusgebiet abspielte und immer noch abspielt, ist ein Blick auf die historisch-politische Vergangenheit Tschetscheniens und Russlands erforderlich.
Historisch-politischer Hintergrund
Das Verhältnis zwischen Russen und Tschetschenen war bis ins 16. Jahrhundert zurück von Konflikten und Kriegen geprägt. Es ist wohl primär dem Streben nach Expansion, aber auch strategischen Überlegungen geschuldet, dass die Kaukasusregion immer wieder Ziel von Besatzungs- und Eroberungsversuchen durch das russische Kaiserreich wurde. Viele Jahrzehnte lang hatten die Bergvölker im Kaukasus erbitterten Widerstand geleistet.
Am Ende gelang es der russischen Armee jedoch, das kaukasische Gebiet einzunehmen und dieses an Russland anzugliedern. Im Jahr 1936 entstand die Tschetscheno-Inguschische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) als Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR).
Während des Zweiten Weltkrieges wurde die tschetschenische Bevölkerung der Kollaboration mit den Nationalsozialisten bezichtigt. Ungeachtet der Tatsache, dass dies nicht eindeutig durch verlässliche Quellen belegt werden konnte und es wenngleich nur einen geringen Teil der Tschetschenen betraf, wurden im Jahr 1944 nach Abzug der deutschen Truppen hunderttausende Tschetschenen unter grausamen Bedingungen nach Mittelasien deportiert. Erst 13 Jahre später, 1957, wurde dem tschetschenischen Volk die Rückkehr in ihr Heimatgebiet gewährt. In den folgenden Jahren kam es zu vermehrten Vertreibungen der mittlerweile dort angesiedelten Russen und zu schwelenden Konflikten zwischen der tschetschenischen und der russischen Bevölkerung.
Bereits 1991, noch vor dem endgültigen Zusammenbruch der UdSSR, erklärte Tschetschenien sich als eines der ersten Gebiete des Russischen Reiches als unabhängig und wählte ein eigenes Staatsoberhaupt, den tschetschenischen General Dschochar Dudajew. Die russische Regierung akzeptierte dies nicht und entschloss sich 3 Jahre später zu einer militärischen Intervention. Dies bedeutete den Beginn des 1. Tschetschenien-Krieges.
Der 1. Tschetschenienkrieg
In direktem Zusammenhang mit dem 1. Tschetschenienkrieg steht die sogenannte „Tschetschenische Revolution“. Im Land fand ein nationales Aufbegehren statt und der Wunsch nach Selbstständigkeit wurde immer lauter. Dies spiegelt sich in der Bildung eines Kongresses und der Wahl eines eigenen, muslimischen Präsidenten wider. Der Druck auf die kommunistische Führung wuchs so stark, dass diese schließlich ihren Rücktritt verkündete. Anfangs hatte die Regierung in Moskau die nationalistische Bewegung unterstützt und wohl gehofft, dadurch eine Abspaltung des Gebietes verhindern zu können. Als Tschetschenien sich jedoch als unabhängige Republik Itschkerien radikal von Russland abspalten wollte, erkannten weder Russland noch ein anderer Staat dies an. Währenddessen stieg in Tschetschenien die Unterstützung für den gewählten Präsidenten Dudajew, jedoch nicht in der breiten Bevölkerung. Die Region Inguschetien spaltete sich von Tschetschenien ab, um unter russischer Herrschaft zu verbleiben. Der tschetschenische Anführer Dudajew versuchte indessen, den Islam als politisches Machtmittel zu instrumentalisieren und stilisierte die Unabhängigkeitsbemühungen Tschetscheniens zum Heiligen Krieg.
Die russische Führungselite bewertete die Ereignisse in Tschetschenien als bedrohlich, sah man doch das gesamte russische Großreich als gefährdet. Man befürchtete wohl, ein Akzeptieren der tschetschenischen Unabhängigkeit könne eine Art „Dominoeffekt“ auslösen, der viele weitere autonome Republiken zur Abspaltung bewegen würde. Infolgedessen unterstützte die russische Regierung mehr und mehr aktiv die Opposition Dudajews in Tschetschenien.
Im Dezember 1994 kam es zum militärischen Eingreifen durch die Russische Föderation. Der Sturm auf die Hauptstadt Grosny zerstörte diese innerhalb weniger Wochen beinahe völlig. Tausende Menschen flohen oder wurden durch Angriffe getötet. Die tschetschenischen Nationalisten waren in der Lage, durch erbeutete Waffen und durch die Unterstützung von Islamistischen Kämpfern der russischen Armee Widerstand zu leisten. So verlief die militärische Intervention von Seiten der Russen weitaus schleppender als erwartet. Im Sommer 1996 musste die russische Armee sich geschlagen geben und der Krieg wurde zunächst für beendet erklärt.
Gründe für die unerwartete Niederlage der zahlenmäßig überlegenen und scheinbar besser ausgerüsteten russischen Armee sind in den Umständen zu suchen, dass es sich hauptsächlich um Wehrpflichtleistende handelte, die motivational nicht hinter diesem Krieg standen, sondern ihn wohl als Mittel der aufstrebenden Führungselite sah, ihre Macht zu festigen. Die tschetschenischen Widerstandskämpfer waren indessen getrieben von ihrer politischen und religiösen Überzeugung. In der Russischen Föderation stellte man das militante Eingreifen in Tschetschenien als einen Versuch dar, die dortige steigende Kriminalität zu unterdrücken und die illegale Führung abzusetzen. Wohl hatte man aber die Situation vor Ort falsch bewertet und die Regierung Dudajews unterschätzt. So kam es aufgrund des ersten Tschetschenien-Krieges zu einer geschätzten Zahl von bis zu 100.000 Todesopfern sowohl auf tschetschenischer als auch auf russischer Seite, zu großflächiger Zerstörung von Städten und Dörfern, sowie zu einer massenhaften Fluchtbewegung der tschetschenischen Bevölkerung.
Friedensabkommen und zeitweilige Waffenruhe
Im Juni 1996 wurde von beiden Seiten ein Abkommen über das Beenden der Kampfhandlungen beschlossen. Jedoch ausgeklammert aus diesen Verhandlungen wurde eine endgültige Abmachung über den zukünftigen Status Tschetscheniens. Eine Entscheidung darüber, ob die Unabhängigkeit anerkannt werde, wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Somit konnte Tschetschenien trotz eines formales „Sieges“ keinen Erfolg bei der Durchsetzung ihres eigentlichen Zieles verbuchen.
Auch auf russischer Seite wurde schnell Kritik am Friedensabkommen laut. Der Chef des Russischen Sicherheitsrates, Alexander Lebed, wurde heftig kritisiert, durch das Einstellen der Kriegshandlungen und den Abzug russischer Truppen der Armee in den Rücken zu fallen und ihre Bemühungen zu untergraben. Das Abkommen beinhaltete auch Passagen über wirtschaftliche Kooperation und die Verpflichtung Russlands, für den Wiederaufbau zerstörter Landesteile aufzukommen. Dies wurde aufs Schärfste kritisiert mit der Begründung, die tschetschenische Republik werde durch diese Festlegungen rechtlich als eigenständiger Staat behandelt, was als illegal zu betrachten gälte. Dass die russische Armee selbst stark durch den Krieg gebeutelt war und viele Verluste hinnehmen musste, wurde aus der Diskussion jedoch weitgehend ausgeklammert.
Der 2. Tschetschenienkrieg
Während der Phase des Waffenstillstands kehrte in Tschetschenien keine Ruhe ein. Nachdem die russischen Truppen abgezogen waren, kam es vermehrt zu Unruhen in dem zerstörten Land, die Arbeitslosigkeit war hoch, die Wirtschaft am Boden. Nachdem Dudajew im Krieg getötet worden war, wurde der gemäßigtere Aslan Maschadow zu seinem Nachfolger. Seine Gegner warfen ihm vor, sich von Russland abhängig zu machen. Er schaffte es nicht, sich den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern. So schwelten im Land immer noch Gruppierungen, die auf der Unabhängigkeit beharrten und gewaltbereit waren. Die Religion wurde zu einem ausschlaggebenden Instrument im politischen Machtkampf.
Als es in Dagestan östlich von Tschetschenien zu Kämpfen zwischen tschetschenischen und russischen Soldaten kam und wenig später zwei Bombenattentate in Moskau verübt wurden, nahm die Regierung in Moskau dies zum Anlass, mit weiteren militärischen Aktionen gegen Tschetschenien zu reagieren. Der 2. Tschetschenien-Krieg begann 1999. Er war geprägt von Bombardierungen auf zivile Ziele, Verhaftungen und Hinrichtungen bis hin zur Folter unter dem Deckmantel einer Friedensmission, um das Land von Terroristen zu befreien.
Der Krieg dauerte offiziell 10 Jahre an und wurde 2009 für beendet erklärt. Bereits 2003 veränderte sich der Charakter des Krieges. War bis dahin scheinbar wahllos zerstört worden, so schienen die Kriegshandlungen nun zielgerichteter zu werden. Zum neuen tschetschenischen Machthaber wurde Ramsan Kadyrov ernannt, der ein Regime vertrat, welches nicht davor zurückschreckte, Menschenrechtsverletzungen am eigenen Volk zu begehen. Tschetschenien ist bis heute als Teilrepublik der Russischen Föderation der russischen Regierung und Verwaltung unterstellt. Die Korruption im Land ist hoch, Anschläge, Verhaftungen und Ermordungen sind keine Seltenheit.
Autor: Michael Schmidt
Literatur
Halbach, U. (2000). Rußlands Tschetschenien-Kriege und ihre historischen Hintergründe. Die Friedens-Warte, 75(1), 129–142.
Hassel, F. (2003): Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Jüngling, K. (2016). Russlandpolitik: Mut zur Kritik: Lehren aus dem Umgang mit dem Tschetschenienkrieg. Osteuropa, 66(6/7), 159–169.
Sauer, H., & Wagner, N. (2007). Der Tschetschenien-Konflikt und das Völkerrecht. Tschetscheniens Sezession, Russlands Militärinterventionen und die Reaktionen der Staatengemeinschaft auf dem Prüfstand des internationalen Rechts. Archiv des Völkerrechts, 45(1), 53-83.
Links
https://www.deutschlandfunk.de/kriegsbeginn-vor-25-jahren-tschetschenien-und-die-folgen-100.html