„SONST HEISST ES EBEN STERBEN”
Mit diesen Worten schloss Eichmann in Oktober 1939 seine berüchtigte Rede in Nisko wo er einigen jüdischen Funktionären die dringende Notwendigkeit von Barackenbau, Aufbau einer Verwaltung und eines Gesundheitsdienstes, usw. im „Jüdischen Siedlungsgebiet“, das in Polen zwischen den Flüssen Sun und Bug entstehen sollte, darlegte. Auf Fragen die notwendigen Mittel betreffend, konnte Eichmann nur antworten: „verjagt den polnischen Bauer mit Fusstritte im Hintern und setzt euch in sein Haus“. Die jüdischen Funktionäre konnten in solchen Äußerungen nur deren verbrecherischen Irrsinn erkennen. In der folgenden Analyse wird auf viele geschichtliche Tatsachen hingewiesen, um zu zeigen, wie viel verbrecherische Methode in diesem, scheinbaren, Irrsinn steckte.
Das bekannte zionistische Ziel einer „völkerrechtlich anerkannten nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina“ stieß von Anfang an auf einen antisemitisch-ideologisch begründeten Widerspruch.
Und wenn schon eine jüdische Siedlung für die Opfer der Pogrome, dann möglichst weit weg vom Heiligen Land. Weit weg von Jerusalem liegt Uganda, wo, nach dem bekannten englischen Angebot, eine jüdische Siedlung möglich gewesen wäre. Aber wie sollten die Juden mit den Eingeboren auskommen?
Beim Vormarsch gegen Russland im Jahr 1916 kam es zu der ersten Begegnung von deutschen Truppen mit den bettelarmen jüdischen Massen von Osteuropa. Ein Offizier, schon von früher mehr oder weniger antisemitisch gesinnt und von Natur aus geneigt nur die Stärke zu respektieren, schaute auf diese Massen nur mit größter Geringschätzung, welche sich in zwei Jahrzehnten in offene Feindseligkeit oder, zumindest, Gleichgültigkeit verwandelte.
Bei der Friedenskonferenz von Versailles 1919 wurde für die jüdischen Gemeinschaften in den neuen Ost- und Zentraleuropäischen Staaten der Nationale Minderheitenstatus angeregt; es fehlten aber die notwendigen Voraussetzungen von fest bestimmten Siedlungsgebieten.
In den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Staaten lebten große jüdische Gemeinden, welche fast immer von den reaktionär-nationalistischen Parteien – an der Regierung oder in Opposition – als Fremdkörper betrachtet und entsprechend benachteiligt wurden.
Deutschland betrachtete schon in den zwanziger Jahren die Mittel- und Osteuropäischen Staaten sowohl als sichere Lieferanten von Agrarprodukten als auch als natürliche Absatzmärkte der Industrie, und beobachtete daher deren Wirtschaftslage mit steigendem Interesse. Die Nazis sprachen später vom Deutschen Lebensraum wo das Volkstum befestigt werden sollte, schon um die Versorgung mit Lebensmitteln in Kriegszeiten sicherzustellen.
Die Wirtschaftslage der Mittel- und Osteuropäischen Staaten war schwierig, auch aus strukturellen Gründen von welchen einige für diese Untersuchung von Bedeutung sind:
- Die rückständige Landwirtschaft beschäftigte einen zu hohen Anteil der Bevölkerung zu einer zu niedrigen Entlohnung
- Produktionen waren von früheren Absatzmärkten durch Staats- und Zollgrenzen getrennt.
- Der österreichische Vorschlag einer Zusammenarbeit der Staaten der früheren Habsburger Monarchie in der Wirtschaft scheiterte am Veto seitens der Tschechoslowakei. Der Abstand zwischen Produktion und Verbrauchermarkt wurde dadurch nur größer.
- Die Wirtschaftsstrukturen von Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien hatten sich aus der unüberlegten Zusammenlegung von Teilen, welche früher zu anderen Staaten und Wirtschaftsstrukturen gehört hatten und in denen Nationale und Religiöse Minderheiten wohnten, ergeben. Das war Ursache der politischen Schwäche dieser Staaten.
In Polen hielten die Nationalisten den jüdischen Anteil an der Bevölkerung – 10% – für zu hoch und verlangten die Auswanderung von mindestens einer Million Juden.
1937 legten polnische Nationalisten den Plan eines jüdischen Siedlungsgebietes auf der Insel Madagaskar vor. In Rumänien hatten viele Juden nicht die Staatsbürgerschaft – einem Land, in dem ihre Familien seit Jahrhunderten ansässig waren. In Ungarn – das zwei Drittel des ursprünglichen Gebietes verloren hatte – normalisierten sich die Verhältnisse nach der anfänglichen Periode vom Weißen Terror, auch wenn das Horthy Regime die Juden in vielen Bereichen diskriminierte. Die Lage verschlechterte sich von 1937/38 an. In der Tschechoslowakei wurde die Lage im slowakischen Teil immer schlechter. In der Presse der klerikal-nationalistischen Hlinka Partei schrieb man über die Juden mit Schlagworten wie „Nach Biro-Bidjan mit ihnen“. Die Lage in den Mittel- und Osteuropäischen Staaten riet zur Auswanderung. Das galt besonders für die Jugend, die dort keine wirklichen Zukunftsaussichten hatte, was aber selten wahrgenommen wurde. Noch seltener wurde die Gefährlichkeit der antisemitischen Propaganda erkannt. Hitlers „Mein Kampf“ wurde gelesen aber nicht ernst genommen. Auswanderung bedeutete für viele Entfernung sowohl von der Familie, als auch von der traditionellen Lebensweise. Wenn schon auswandern, dann wohin? Das traditionelle Zielland der Auswanderer aus Osteuropa, die USA, hatten 1920 die Einwanderung durch ein System von Quoten stark beschränkt. Die Auswanderung nach Palästina- die Aliya – war eine Sache für Pioniere (Halutzim), bereit in einer genossenschaftlichen Siedlung (Kibbutz) zu leben und arbeiten.
Viele Rabbiner waren gegen den Zionismus eingestellt, einige sprachen Bannflüche aus, waren an Jahrhunderte alte Debatten gewohnt und daher unfähig ihren Anhängern einen, der neuen Lage entsprechenden, Rat zu geben. Vielen Juden fehlte die, für die Auswanderung notwendige, berufliche Ausbildung.
Stalin hatte an der Grenze mit China, am Ufer des Flusses Amur, die „Autonome Jüdische Republik Biro Bidjan“ als Siedlungsgebiet dargestellt. Dieses Vorhaben, wenn je ernst gemeint, blieb jedoch erfolglos. Erst Uganda; dann, nach etwa dreißig Jahren, Biro-Bidjan und Madagaskar; nur weit entfernt von Jerusalem, die natürliche Hauptstadt eines Jüdischen Staates.
Bedeutend war das Jahr 1933:
In Deutschland wurde Hitler Reichskanzler und es kam zu den ersten Gesetzen zur Ausschaltung der Juden; wer von den Betroffenen die Lage richtig einschätzte wanderte aus. Die Auswanderung nach Palästina ermöglichte für einige Jahre deutsche Waren bis zum Wert von RM 20.000 dorthin auszuführen; eine wichtige Starthilfe. In Italien entschied sich Mussolini, unter größter Geheimhaltung, die Araber in Palästina mit Waffen zu beliefern; die Entsendung von Unteroffizieren der Libyschen Kolonialtruppen, in Ausbildung, wurde versprochen. Diese Entscheidung wird mit der sozialistischen Mehrheit in den Organen der Jewish Agency – welche das faschistische Italien ablehnte – in Zusammenhang gebracht. Diese Erklärung scheint richtig, ist aber unzureichend wenn man bedenkt:
- Die italienische Kolonien – Libyen, Somalia, Eritrea – hatten mohammedanische Bevölkerung. Die „Freundschaft“ eines islamischen Würdenträgers wie Groß-Mufti al-Husseini schien daher nützlich um neue Unruhen zu vermeiden.
- Papst Pius XI – er und Staatssekretär Pacelli entschiedene Gegner eines Jüdischen Staates in Palästina – hatte von Mussolini als „dem Mann der Vorsehung“ gesprochen; das wurde honoriert.
Noch bedeutender war das Jahr 1936.
- In Palästina begannen die Araber eine Kampagne von bewaffneten Angriffen gegen die Juden.
- Die Auslandsorganisation der NSDAP wies in einen Memorandum auf die Möglichkeit von einen Bund mit den Arabern – gegen England – hin.
- Die dynastische Krise in England endete mit der, von Premierminister Baldwin wegen des pro-nazistischen Einflusses der Wallis Simpson erzwungenen, Abdankung von Eduard VIII. Für Hitler das Signal der Möglichkeit eines Konfliktes mit England.
Aus der Sicht von Groß-Mufti al-Husseini hatte Mussolini mit Waffenlieferungen den Anfang der Angriffe ermöglicht, aber Hitler hatte den Hebel der jüdischen Auswanderung, sowohl aus Deutschland, als auch aus Mittel- und Osteuropa, in der Hand und die Möglichkeit diese in eine andere Richtung, weit weg von Palästina, zu steuern. Die Kontakte waren Angelegenheit des SD von Heydrich, wo sich der Hauptscharführer Adolf Eichmann mit der Kontrolle der Zionistischen Organisationen einen Namen gemacht hatte. Eichmann reiste in November 1937 nach Palästina und Ägypten, wo er mit arabischen Vertretern Gespräche führte. Der niedrige Rang eines Hauptscharführers war eine Tarnung um die wirkliche – bis heute nicht geklärte – Bedeutung dieser Verhandlungen zu verschleiern. Der Zeitpunkt der Reise und der Gespräche von Eichmann in Palästina und Ägypten fällt mit dem der Tagung zusammen, in der Hitler vor Generälen und Ministern das erste Mal offen über seine wirklichen Ziele sprach: November 1937. Bekanntlich organisierte Eichmann 1938 in Wien – und 1939 in Prag – seine berüchtigte „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung“ nach dem Modell der „Zentralstelle für Landfahrer“ (Zigeuner) der früheren Königlich-Bayerischen Polizei. Am 7. Februar 1939 sprach Alfred Rosenberg in Berlin vor der Auslandspresse über die deutsche Vorstellung, die Juden in ein Gebiet, das in der Lage ist bis zu 15 Millionen Menschen aufzunehmen, abzuschieben.
Die Katastrophe begann in September 1939 mit den Angriff gegen Polen.
Am 6. Oktober 1939 sprach Hitler in seiner Reichstagsrede über Polen; auch das Vorhaben von der Errichtung eines Jüdischen Siedlungsgebietes wurde, angeblich, erwähnt: ein Signal, dass der jüdischen Auswanderung ein anderes, von Jerusalem weit entferntes, Ziel gegeben wurde. Hitler sollte gesagt haben, Eichmann schritt aber sofort zur Tat:
Ein Transport mit 1.000 Juden aus Wien und Böhmen-Mähren in Richtung Polen wurde in jenen Tagen zusammengestellt; die Funktionäre Benjamin Murmelstein aus Wien und Jakov Edelstein aus Prag – die in ihren Gemeinden die Auswanderung organisierten – mussten mitfahren.
Am 19. Oktober 1939 erreichte der Transport die Bahnstation von Nisko, eine kleine Stadt in der Zone von Lublin, in einer sumpfigen Gegend zwischen den Flüssen Sun und Bug, und nahe der Demarkationslinie zwischen der deutschen und der sowjetischen Besatzungszone. Nach einem langen Marsch unter starkem Regen erreichte die Gruppe das Ziel: eine Wiese. Am nächsten Tag hielt Eichmann eine Rede, worin er über Barackenbau, Organisation eines Gesundheitswesens, Schaffung einer Verwaltung usw. sprach. Diese Rede endete mit den Worten: „sonst heisst es eben sterben“.
Auf die Frage von Murmelstein, welche Mittel vorhanden waren, antwortete Eichmann: „verjagt den polnischen Bauer mit Fusstritten im Hintern und setzt euch in sein Haus“.
In den folgenden Tagen kamen weitere Transporte an; die Menschen wurden von der SS für eine kleine Strecke begleitet; es folgten Schüsse und der Befehl sich in der Umgebung zu „zerstreuen“; eine Gruppe wurde direkt in die Sümpfe geführt. Einigen Männern gelang es über die Demarkationslinie in die Sowjetische Zone zu entkommen; viele von ihnen wurden von der NKVD verhaftet und nur wenige überlebten den Krieg.
Viele Verletzte wurden von den polnischen Bauern in den Wäldern gefunden. Nach einigen Tagen erreichte Murmelstein die Bewilligung, sich mit einigen Mitarbeitern auf eine Reise in die Zone zu begeben, um die Siedlungsmöglichkeiten zu erkunden. Der wahre Zweck war die Jüdische Gemeinde von Lublin zu bitten die Verletzte aufzunehmen. Um eine amtliche Bestätigung der Erkundungstätigkeit zu haben, suchte Murmelstein um eine Vorsprache beim zuständigen Landrat an, auch um die Bewilligung, einige verlassene Häuser als Unterkünfte zu benützen, zu erreichen. Diese Vorsprache hatte ein überraschendes Ergebnis: Der Landrat erklärte über das Vorhaben eines Jüdischen Siedlungsgebietes in seinem Kreis nicht informiert zu sein. Da erblickte Murmelstein die Möglichkeit einen Eingriff der lokalen deutschen Verwaltung zu provozieren und berief sich auf die Führerrede vom 6. Oktober und auf den Rat von Eichmann „verjagt den polnischen Bauer mit Fusstritten …“. Der Passierschein der „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung – Aussenstelle Nisko“ riet zur Vorsicht, und so befahl der Landrat den jüdischen Funktionären ohne weiteren Zeitverlust nach Lublin zu gehen, um dort auf die Weisungen zu warten, da er inzwischen dem Generalgouverneur – Hans Frank – Bericht erstatten würde.
Wie schon der Landrat war auch die Jüdische Gemeinde von Lublin über die Vorgänge in Nisko nicht informiert. Merkwürdig ist aber, dass SS Standartenführer Strauch die jüdischen Funktionäre im ersten Moment Lügner und Hochstapler nannte, da er – SS Führer der Zone – über das Vorhaben eines Jüdischen Siedlungsgebietes nicht informiert war. Wie schon beim Landrat, so riet auch hier der Passierschein der „Zentralstellte für Jüdische Auswanderung – Aussenstelle Nisko“ zu Vorsicht. Auch hier der Befehl: „Auf Weisungen warten“. Nach zehn Tagen der Befehl: Zurück nach Nisko um „Weisungen zu empfangen“. In Nisko schickte Eichmann die Funktionäre nach Wien und Prag zurück um die Möglichkeiten zur weiteren Auswanderung zu nützen und erklärte: Keine weiteren Transporte werden in Nisko ankommen. Die Arbeiter kamen nach weiteren sechs Monaten zurück und die Baracken dienten dann zur Unterbringung von Volksdeutschen die „Heim ins Reich“ gehen sollten.
Es schien als hätte Eichmann eine Niederlage erlitten und nur sein Prestige retten und selber den Abmarschbefehl geben können. Dieser Schein trug: Eichmann wurde kurz danach als Leiter des Referats IV B 4 – Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten – in Wirklichkeit befördert.
Generalgouverneur Hans Frank konnte so seinen Herrschaftsanspruch behaupten mit den Worten: „… keine andere Authorität ausser den Generalgouverneur“. Er konnte natürlich nicht ein Gebiet unter direkter Kontrolle der SS in seinem Generalgouvernement – unter Partei-Bonzen „Frankenreich“ genannt – zulassen. Er bevorzugte erstens die Errichtung von überbevölkerten Ghettos in den Städten, in besonders herabgekommenen Bezirken. Zweitens wollte er sich zuerst um die Juden aus Polen „kümmern“. Die Transporte aus dem Altreich, Wien oder Böhmen-Mähren sollten eben warten.
In einer Rede 1943 vor Wehrmachtsoffizieren sagte Frank über die polnische Juden: „sind, sagen wir, ausgewandert“. Aus Wien, Altreich, Böhmen-Mähren war bis Frühjahr 1941 die Auswanderung noch möglich, natürlich unter wachsenden Schwierigkeiten. Im Spätherbst 1940 musste Murmelstein für Eichmann eine Studie über die Idee einer Jüdischen Heimstädte verfassen. Gemäß seiner zionistischen Gesinnung legte Murmelstein dar, dass eine Jüdische Heimstädte nur im Heiligen Land denkbar war mit „Hilfe jener Macht welche nach Kriegsende im Östlichen Mittelmeer führend sein wird“. Durch eine zwielichtige Person ließ Eichmann ausrichten: „Wieso versteht Murmelstein nicht dass nur Deutschland nach Kriegsende die führende Macht im Östlichen Mittlemeer sein wird?“ Zur gleichen Zeit hatte man im Führerhauptquartier schon die Notwendigkeit erkannt, Mussolini – in Libyen und in Griechenland – mit Truppen beizustehen, um eine schmachvolle Niederlage zu verhindern.
In Italien hatte jemand 1939/40 die Idee, die italienischen Juden im äthiopischen Hochland, auf 2.000 m Höhe, anzusiedeln. Tatsache ist, dass Göring, Heydrich und andere Nazi-Größen 1939 Italien besucht hatten. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass dabei auch über eine Aussiedlung der Juden gesprochen wurde. 1940/41 wurden in Libyen viele Juden aus den Städten in Lager in der Wüste deportiert. 1941/42 wurde ein großer Teil der rumänischen Juden nach „Transnistrien“ – der von Rumänien besetzte Teil der Ukraine – verschickt: zwischen 280.000 und 380.000 starben.
Die Episode Nisko wurde wenig erforscht und beim Prozess Eichmann nicht genügend geprüft. Ankläger Hausner hatte – aus nie geklärten Gründen – Murmelstein nicht als Zeugen geladen.
Autor: Dr. Wolf Murmelstein, Ladispoli, Italien – 2. Dezember 2004.
Der Verfasser ist der Sohn von Benjamin Murmelstein und fügt in dieser Untersuchung die väterlichen Erinnerungen in deren geschichtlichen Hintergrund ein, um die tragische Lage jener Tage zu zeigen. Er widmet diesen Artikel seiner Frau Anna zu Ihrem heutigen Geburtstag.