Die Begriffsbezeichnung „Holodomor“ bezeichnet das ukrainische Wort für die Tötung durch den Hunger und geht auf die historischen Ereignisse der großen sowjetischen Hungersnot Anfang der 1930er Jahre zurück. Die Analyse, Aufarbeitung und Verarbeitung der geschichtlichen Fakten gestalten sich bis heute schwierig. In der kontroversen Auseinandersetzung spielen unterschiedliche Auffassungen und politische Bewertungen eine wesentliche Rolle. Die grundsätzlichen Dokumentationen, Beweise und Zeitzeugenberichte lassen zum einen einen detaillierten Kenntnisstand zu, doch gehören große Teile der wichtigen Informationen weiterhin zur Verschlusssache des russischen Staatsapparates.
Entstehung und historischer Hintergrund
Die menschliche Katastrophe ereignete sich zwischen den Jahren 1932 bis 1933 und galt in der historischen Beschreibung zunächst als Große Hungersnot der Sowjetunion. Der Todeszoll, welcher durch die Ereignisse hervortrat, kostete etwa 5 bis 6 Millionen Menschen das Leben, davon waren fast 4 Millionen Ukrainer. Um die Entstehung dieses unsagbaren Leids und die damit verbundenen Einflüsse zu begründen, bedarf es der Berücksichtigung unterschiedlicher Faktoren, die sehr eng mit dem Handeln der politisch Verantwortlichen einhergehen.
Seit dem Jahr 1922 war Josef Stalin Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Unter der totalitären Führung Stalins prägte sich ein neuer zentraler Grundsatz für die sowjetische Gesellschaftsform, die den Sozialismus im Land zur Staatsdoktrin erhob. Damit ersetzte der Parteichef die noch von seinen Vorgängern Lenin und Trotzki entworfene ökonomische Politik der Liberalisierung der Landwirtschaft, des Handels sowie der Industrie, die in einigen Segmenten sogar eine marktwirtschaftliche Ausrichtung ermöglichte. In den späten 1920er Jahren ließ Stalin eine zentrale Kommandowirtschaft errichten. Danach sollte die wirtschaftliche Ordnung von einer staatlichen Entscheidungsinstanz geregelt werden.
Kollektivierung und Repressionen
Stalins totalitäres System unter dem Deckmantel des Sozialismus war spätestens ab dem Jahr 1928 darauf ausgerichtet, die Phase der Industrialisierung innerhalb der Sowjetunion voranzutreiben und jegliche tatsächliche sowie vermeintliche Gegnerschaft seiner Führung rigoros auszumerzen. Die Einrichtung eines riesigen Überwachungssystems mit Geheimpolizei (GPU), Politkommissaren und anderen ausführenden staatlichen Organen ermöglichte die vom Sowjetführer angeordneten Säuberungen, in deren Folge Millionen Menschen verhaftet, hingerichtet oder in Arbeitslager deportiert wurden. Besonders ganze Volksgruppen in den unter Sowjetbesatzung stehenden Gebieten waren diesen Repressionen ausgesetzt.
Um das Sowjetreich industriell und militärisch zu einer globalen Macht emporsteigen zu lassen, war die Umsetzung der Zentralverwaltungswirtschaft mit der Entscheidungsinstanz über alle verfügbaren Ressourcen wie Arbeit, Boden und Kapital der erste wichtige Faktor. Mit der Kollektivierung setzte Stalin den zweiten Schritt durch. Dieser von den Sowjetorganen organisierte Zwangszusammenschluss zu Gemeinschaftsbetrieben hatte radikale Auswirkungen. Vor allem im Bereich der Landwirtschaft sollte diese auch als „Große Wende“ bezeichnete Neuorganisation zu hohen Exporten führen, deren finanzielle Gewinne Stalins Bestrebungen zur Industrie- und Militärmacht eine zügige Umsetzung bescheren sollten.
Die Situation in der Ukraine
Die Umsetzung der Kollektivierung mit der Schaffung von Großbetrieben, den so bezeichneten Kolchosen und Sowchosen, wurde von den Bolschewisten mit einem enormen physischen sowie psychischen Druck vorgenommen. Die auf dem Land vorherrschende traditionelle Dorfstruktur wurde in diesem Zusammenhang völlig aus ihren Fundamenten gerissen. Stalin sah die meisten Gebiete der Sowjetunion als reine Rohstofflieferanten an. Die Ukraine fungierte dabei als wichtiger Standort zur Gewinnung von Erz und Metallen. Dabei duldete das stalinistische System keinen Widerspruch, keine konterrevolutionären Kräfte, keine politisch Andersdenkenden, sondern erwartete beugenden Gehorsam. Trotz des großflächigen Anbaus als „Kornkammer Europas“ spielten die ukrainischen Bauern in der Moskauer Erwägungen nur eine untergeordnete Rolle.
Um sich diese Situation und den Stellenwert der ukrainischen Landwirtschaft in jener Zeit vor Augen zu halten, reicht ein Blick auf die damaligen vom Sowjetstaat beschlossenen Zuteilungsraten von Lebensmitteln und Konsumgütern. Das zentrale Versorgungssystem stellte die Berg-, Metall- und Schwerarbeiter an die ersten Stellen. Die Bauern tauchten in den fünf Kategorien der Zentralversorgung nicht auf und waren für sich selbst verantwortlich. Als traditionelles Schlüsselelement der ukrainischen Kultur und Identität sah Stalin die Bauernschaft als potenzielle Feinde seiner politischen Führung an. Zudem wehrten sie sich hartnäckig gegen die Kollektivierung und waren von eigenen nationalen Bestrebungen geprägt. Zur Gewinnung der Kontrolle über den gesamten Agrarsektor der Sowjetunion und zur Beseitigung sämtlicher Systemgegner sind die Anordnungen Stalins, die zur Hungersnot in den getreideproduzierenden Gebieten des riesigen Russischen Reiches führten, ebenso nachvollziehbar wie augenscheinlich unfassbar.
Holodomor – Hungersnot und Genozid
Bereits im Frühjahr 1930 galt die Ukraine als Brennpunkt für den Widerstand gegen die Kollektivierung. Unter anhaltenden Aufständen und chaotischen gesellschaftlichen Verhältnissen betrug die Kollektivierungsquote im Jahr 1932 innerhalb des ukrainischen Sowjetgebiets rund 70 Prozent. Rund 27 Prozent des sowjetischen Getreides stammten aus der Produktion der ukrainischen Landwirtschaft. Diese Quote wurde per Dekret auf 38 Prozent erhöht und musste durch die neuen großbetrieblichen Kollektive umgesetzt werden. Die Ernte des Jahres 1932 fiel niedriger aus als die des Vorjahres, was nicht am Wetter lag, sondern an den schlecht organisierten Vorbereitungen für die Aussaat. Etwa 12,8 Millionen Tonnen Getreide konnten jedoch produziert werden, eine Menge, die in jedem Fall ausreichend war, um keine Hungersnot zu verursachen. Der im Dezember 1932 von Stalin verfasste Beschluss zur Getreidebeschaffung in der Ukraine, im Nordkaukasus und in der West-Region war der auslösende Faktor zum Holodomor.
Neben der unerbittlichen Mobilisierung, weiterhin größtmögliche Mengen an Getreide von den ländlichen Regionen zu gewinnen, enthielt der Beschluss auch Maßnahmen gegen die gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen der Ukraine. Spezielle Brigaden wurden in das Gebiet entsendet, um Lebensmittel zu requirieren und die Beschaffung zu unterstützen. Dem Stalin-Beschluss war ein Gesetz vorangegangen, welches den Diebstahl sozialistischen Eigentums unter schwerste Strafen stellte. Nun zu einem Kapitalverbrechen deklariert, sahen sich Bauern, die einen Sack Weizen zur Eigenversorgung abgezweigt hatten, vor dem Erschießungskommando stehen. Bereits zum Jahreswechsel 1932/1933 war deutlich, dass vor allem der ländlichen Bevölkerung schlichtweg nicht genug Nahrung zur Eigenversorgung überlassen wurde. Die daraus resultierende Hungersnot hatte im Frühling 1933 ein furchtbares Ausmaß angenommen. Moskau verweigerte allerdings jede Form der Unterstützung und schuf keine Abhilfe. Nahezu zeitgleich exportierte die Sowjetunion mehr als eine Million Tonnen Getreide in westliche Länder.
Die Verantwortlichkeit Stalins ist allein durch den von ihm erlassenen Beschluss zu rechtfertigen. Der damit einhergehende bevollmächtigte Terror, der beispielsweise auch das öffentliche Bildungswesen, die Presse und die offiziellen amtlichen Stellen in der Ukraine betraf, da diese gezwungen wurden, die eigene Sprache einzustellen und fortan Russisch zu verwenden, verweist auf eine klare Absicht. Die Entlassungen, Verhaftungen und Deportierungen innerhalb des Landes verstärken jene Zielsetzungen. Nach dem Tod von Millionen Menschen ebbte die Hungersnot erst nach der Ernte des Jahres 1933 ab. Mit dem Holodomor war auch der traditionelle Kern der ukrainischen ländlichen Struktur gestorben und neue Bauern aus Russland mussten angesiedelt werden, um ganze Landstriche wieder zu bevölkern. In großen Teilen mit dem Mantel des Schweigens überdeckt, räumten erst in den späten 1980er Jahren einige sowjetische Stellen ein, dass zur Zeit der Hungersnot in der Ukraine nicht alles rechtens vorgegangen sei. Die Aufarbeitung des Holodomor, der mittlerweile von 17 Ländern als Genozid anerkannt wurde, dauert immer noch an und wird den unzähligen Opfern nicht gerecht.
Autor: Michael Schmidt