Die Stadt Kowno (lit. Kaunas, dt. Kauen) in Mittellitauen am Zusammenfluss von Memel und Neris, etwa 100 km von der heutigen litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt gelegen, wurde 1030 vom Fürsten Koinas gegründet. Ende des 18. Jahrhunderts wird das Gebiet, vorher polnisch-litauisch, von Rußland annektiert und Kowno zur Oblasthauptstadt ernannt. Während der Unabhängigkeitszeit seit 1920 und bis zur Eingliederung in die Sowjetunion 1940 war Kowno Hauptstadt von Litauen. Seit dem 16. Jahrhundert war Kowno ein wichtiges kulturelles Zentrum des osteuropäischen Judentums. 1939 lebten beinahe 40.000 Juden in der Stadt, fast 25 % der gesamten Bevölkerung. Während der sowjetischen Besatzungszeit von 1940 bis zur deutschen Invasion wurde das kulturelle und soziale Leben der Juden stillgelegt: die hebräischen Schulen wurden geschlossen und vier von fünf jiddischen Zeitungen wurden verboten. Hunderte jüdischer Familien wurden nach Sibirien verbannt.
Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22.6.1941, begann bereits am 24.6.1941 die Besatzung Litauens. Tausende Juden versuchten ins Innere der Sowjetunion zu flüchten. Noch vor Eintreffen der Wehrmacht gab es zahlreiche Übergriffe von litauischen Nationalisten gegen die Juden, vor allem im Vorort Slobodka. Nach dem Eintreffen der Deutschen wurde zunächst eine Zivilverwaltung in der Stadt eingerichtet, die dem SA-Brigadeführer Hans Cramer unterstand. Er erließ eine Reihe antijüdischer Verordnungen, u.a. die Einrichtung eines Ghettos, in welches die Juden innerhalb eines Monats ziehen mussten. Das eingerichtete Ghetto bestand aus einem „kleinen“ und einem „großen“ Ghetto, beide in Slobodka gelegen. Getrennt wurden die beiden Ghettos durch eine Durchgangsstraße. Ein Stacheldrahtzaun umgab das Ghetto, welches von Litauern bewacht wurde, die Tore wurden von deutschen Polizisten überwacht. Das Ghetto wurde im August 1941 abgeriegelt, zu diesem Zeitpunkt befanden sich 29.760 Juden im Ghetto.
Das Leben im Ghetto wurde durch den „Ältestenrat der jüdischen Ghetto-Gemeinde Kauen“ geregelt. Der Vorsitzende war Elchanan Elkes. Er war Arzt von Beruf und eine geachtete und bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Sein Stellvertreter war Leib Garfunkel, ein Jurist und Zionist. Die übrigen Mitglieder des Ältestenrates wurden in direkten Wahlen von den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gewählt. Außerdem gab es eine jüdische Polizei, in der Stärke von 150 Personen. Sie war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Ghetto und für die Rekrutierung zur Zwangsarbeit verantwortlich. Eingesetzt und überwacht wurde die Polizeitruppe vom Ältestenrat. Desweiteren gab es auch eine Abteilung für Gesundheit, Wohlfahrt und Kultur, mit Institutionen wie einem Krankenhaus, einem Altenheim, einer Suppenküche, einer Schule und einem Orchester. Auch die politischen Parteien waren weiterhin aktiv und versuchten ihren Mitgliedern zu helfen. Das führte zur Bildung des Zionistischen Zentrums, das von Mitgliedern des Ältestenrates und ihren Mitarbeitern geleitet wurde. Es hielt Kontakt zum Untergrund und ermöglichte es einigen Mitgliedern, sich den Partisanen in den Wäldern anzuschließen.
Von den fast 30.000 Bewohnern wurden in den ersten beiden Monaten nach Abriegelung des Ghettos etwa 3000 ermordet. Die sog. „große Aktion“ am 28.10.1941 kostete weiteren 9000 Menschen (davon etwa die Hälfte Kinder) das Leben. Die Menschen wurden ins in der Nähe gelegene Fort IX gebracht und dort erschossen. Bis zum März 1944 folgte eine Phase von relativer Ruhe. Die noch im Ghetto lebenden Personen mussten Zwangsarbeit leisten, in der Regel bei Rüstungsunternehmen außerhalb des Ghettos. Ein Teil arbeitete aber auch in den Ghetto-Werkstätten, in denen sie nicht von Deutschen oder Litauern überwacht wurden. Bezahlt wurden die Arbeiter mit Lebensmitteln. Die Rationen waren allerdings so gering, dass die Menschen auf Schmuggelware angewiesen waren. Während der sog. Ruhigen Phasen wurden den Juden weitere Strafmaßnahmen befohlen, so erging z.B. im Februar 1942 der Befehl, alle Bücher, Druckschriften und Manuskripte abzuliefern; im August desselben Jahres wurden die Synagogen geschlossen und öffentliche Gottesdienste und Andachten verboten. Ein beträchtlicher Teil der Bewohner wurde schließlich nach Riga oder in Arbeitslager in anderen Teilen Litauens verschleppt.
In Bezug auf den Befehl Heinrich Himmlers über die Errichtung von Konzentrationslagern im Reichskommissariat Ostland vom 21.6.1943, wurde im Herbst 1943 das Ghetto Kowno zentrales Konzentrationslager, das KL Kauen. Dem Lager wurden zahlreiche kleinere Lager am Rande oder außerhalb Kownos unterstellt, wohin auch etwa 4000 Bewohner verlegt wurden. Im Oktober 1943 wurden 2800 Menschen in Arbeitslager in Estland verlegt. Am 27.3.1944 erfolgte die letzte große Mordaktion: etwa 1800 Lagerbewohner wurden aus ihren Wohnungen gezerrt und ermordet. Die meisten waren Kinder, Frauen und ältere Männer. Im Rahmen derselben Aktion wurden auch 40 Offiziere der jüdischen Polizei hingerichtet, weil ihre Aktivitäten mit dem Untergrund aufgeflogen waren. Die übrigen Polizisten wurden zum Jüdischen Ordnungsdienst unter direkter SS-Kontrolle umfunktioniert. Der Ältestenrat wurde schließlich aufgelöst, Elkes wurde zum Judenältesten ernannt, jedoch ohne wirklich eine Macht zu besitzen.
Im Juli 1944 näherte sich die Rote Armee Kowno und die SS begann die Häftlinge in Konzentrationslager in Deutschland zu verlegen. Die meisten von Ihnen kamen in die Lager in Kaufering oder Stutthof. Während dieser Auflösungsaktion gelang es vielen Menschen sich in unterirdischen Bunkern zu verstecken. Die SS jedoch setzte auf der Suche nach ihnen Spürhunde, Brandbomben und Rauchgranaten ein, so dass etwa 2000 Personen starben, weil sie in ihren Verstecken erstickten oder verbrannten. Die Ankunft der Roten Armee am 1.8.1944 erlebten nur noch 90 Personen. Insgesamt rechnet man damit, dass ungefähr acht Prozent der ursprünglichen Bewohner die Besatzungszeit überlebt haben.
Autor: Eugen Lempp
Literatur
Jürgen Matthäus: Das Ghetto Kaunas und die „Endlösung“ in Litauen in: Wolfgang Benz, Marion Neiss (Hrsg.) Judenmord in Litauen. Studien und Dokumente, 97-113 (Berlin 1999)
Jürgen Matthäus: Jenseits der Grenze. Die ersten Massenerschießungen von Juden in Litauen (Juni-August 1941) in: ZfG 44, 1996, 101-126
Kowno in: Enzyklopädie des Holocaust hrsg. von Israel Gutman, 804-807 (München 1998)
Alexander Neumann: Leben und Sterben im Ghetto Kaunas 1941 in: Vincas Bartusevicius, Joachim Tauber und Wolfram Wette (Hrsg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1944, 145-156 (Köln 2003)
Christoph Dieckmann: Das Ghetto und das Konzentrationslager in Kaunas, 1941-1944. in: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Band I, 439–471 (Göttingen 1998)
Avraham Tory: Surviving the Holocaust: The Kovno Ghetto Diary. hrsg. Martin Gilbert, übers. Jerzy Michalowitz, mit Anmerkungen von Dina Porat (Cambridge 1990)
„Dies Kind soll leben“. Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941-1944 hrsg. von Reinhard Kaiser und Margarete Holzman (Frankfurt am Main 2000)