Während der von 1858 bis 1947 dauernden Herrschaft der britischen Krone grassierten in weiten Teilen Indiens und der angrenzenden Gebiete mehrere folgenreiche Dürren. Die Chroniken dokumentieren für das 19. Jahrhundert acht schwere überregionale Hungerkrisen, die eine unvorstellbare Anzahl von Opfern forderten. Allein in den drei Jahren 1876 bis 1878 starben bei der sogenannten „Großen Hungersnot“ nach vorsichtigen Schätzungen mehr als acht Millionen Menschen. Dieses Ereignis ging auch unter den Bezeichnungen „Hungersnot von Südindien“ und „Hungersnot von Madras“ in die Geschichtsschreibung und die allgemeine Literatur ein. Ausgehend von den zu Anfang besonders in Mitleidenschaft gezogenen Provinzen Madras und Bombay weitete sich die Krise rasch auf weite Teile des gesamten Landes aus. Bis zu 59 Millionen Menschen litten darunter und waren dabei akut vom Hungertod bedroht.
Die Vorgeschichte und die möglichen Auslöser der Geschehnisse
Der indische Subkontinent, also die Landmasse südlich des Himalayas, umfasst drei unterschiedliche Klimazonen. Im Norden herrscht eher das heiße und trockene Steppenklima vor. Dagegen ist die Mitte subtropisch und der Süden tropisch geprägt. Der Naturraum teilt sich auf in den Einflussbereich des Hochgebirges, das Tiefland der Flüsse Ganges und Brahmaputra sowie das Dekkan-Hochland. Den größten Teil der Halbinsel nimmt der indische Staat ein; dazu kommen noch Länder wie Bangladesch, Pakistan, Nepal und Bhutan. Indien wurde und wird nahezu regelmäßig durch verschiedene Naturkatastrophen schwer getroffen. Überschwemmungen während des jährlichen Sommermonsuns wechseln sich ab mit langen Dürrezeiten. Es treten sowohl Erdbeben als auch Zyklone mit davon ausgelösten Flutwellen und Erdrutschen auf. Die meisten Fachleute halten rückblickend eine der zerstörerischen Dürreperioden und die hieraus folgenden gravierenden Ernteausfälle in den betroffenen Gegenden für die naturgegebenen Verursacher der Großen Hungersnot. Jedoch verschärften weitere – weitgehend politisch bedingte – Entwicklungen den Verlauf zusätzlich.
Zwischen El Niño und dem als „Indischem Niño“ bezeichneten Dipol
Die überlieferten Chroniken und bis heute noch erhaltene Aufzeichnungen vermelden für die betreffenden Jahre ein periodisch wiederkehrendes Muster an auffälligen Naturerscheinungen. Es gab vermehrt lange Trockenzeiten in den Regionen rund um den indischen Subkontinent sowie in Teilen Afrikas und Südamerikas. Als weiterer entscheidender Faktor der Krise von 1876 bis 1878 gilt das ungewöhnlich ausgeprägte Zusammenwirken zweier Ereignisse. Die El Niño Southern Oscillation (ENSO) im Pazifik trat zur gleichen Zeit auf wie ein ganz ähnliches Phänomen im Indischen Ozean namens Dipol oder Indischer Niño. Der Begriff ENSO bezeichnet ursprünglich eine zyklisch auftretende regionale Klimaschwankung an der Küste Südamerikas, die weltweit Wetterextreme auslösen kann. Hinzu kam ein wolkenbruchartig starker Regen, der im benachbarten Fürstenstaat Mysore zwei Jahre vor dem Ausbruch der Hungersnot die Ragi-Ernte zerstörte. Ragi, eine Art von Hirse, stellte für die gesamte Bevölkerung eine wichtige und unverzichtbare Nahrungsgrundlage dar, die ihnen nun fehlte. Die indische Agrarwirtschaft befand sich seit der britischen Eroberung ohnehin in einer permanenten Krise zwischen Dürren und Seuchen. In dem darauffolgenden Jahr blieben die ersehnten Niederschläge nahezu komplett aus. Dies führte zur Austrocknung der lebensspendenden Flüsse und Seen vor Ort, was die Situation weiter verschärfte. Die allgemeine Hoffnung, der jährlich auftretende Monsun würde in der angespannten Lage Erleichterung bringen, erfüllte sich nicht. So nahm die Katastrophe ihren Lauf. In der zweiten Hälfte des Jahres 1878 grassierte zu allem Unglück noch eine Malariaepidemie, die zahlreiche der unterernährten und bereits geschwächten Bewohner weiterer Provinzen tötete.
Abgesehen von diesen naturbedingten und zum überwiegenden Teil schicksalhaften Umständen beschäftigen sich Historiker bis heute mit weiteren wesentlichen Fragen. Dazu zählen beispielsweise: Inwieweit trugen die Politiker und Verwaltungsbeamten Verantwortung für die weitreichenden Folgen der Tragödie? Traf sie gar eine Mitschuld? Wäre durch ein verantwortungsvolles und umgehendes Handeln der herrschenden Macht Großbritannien der Tod von Millionen Menschen vermeidbar gewesen?
Das „britische Schatzhaus am Ganges“ – die Eroberung des indischen Subkontinentes durch das Vereinigte Königreich
Mit der Annexion der Provinz Punjab im Jahre 1849 schlossen die Briten ihre territoriale Eroberung Indiens ab, die im 18. Jahrhundert von der Ostindien-Kompanie, einer einflussreichen Kaufmannsgesellschaft, begründet wurde. Die mächtige Kompanie schaltete ab circa 1757 systematisch alle anderen europäischen Kräfte und damit ihre Konkurrenten aus. Das Militär schlug die letzten Freiheitskämpfe und Widerstände, etwa durch Angehörige der Sikhs, blutig nieder. Das Imperium der Krone erstreckte sich nun über das Gebiet des heutigen Indiens sowie über das der Länder Pakistan und Bangladesch. Damit war Indien ein Teil des britischen Weltreiches, in dem „die Sonne nicht untergeht“, wie es manche Zeitgenossen formulierten. Lediglich einige kleinere Besitzungen anderer europäischer Mächte, wie zum Beispiel das portugiesische Goa, blieben davon ausgenommen. Rechtlich gesehen stellte Britisch-Indien, wie es ebenfalls bezeichnet wurde, keine Kolonie im ursprünglichen Sinne dar. Es bildete ein separates Gebiet mit einem gemeinsamen Herrscher und Monarchen und galt damit als sogenannte „Kronkolonie“. Zu der Zeit herrschte Königin Victoria über fast ein Drittel der Weltbevölkerung.
Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Indien Mitte des 19. Jahrhunderts
In dem alten und hoch entwickelten Kulturland Indien lebten um das Jahr 1850 etwa 200 Millionen Einwohner in zahlreichen, untereinander verfeindeten Fürstentümern. Nach und nach brachte die Besatzungsmacht Großbritannien mit Waffen sowie ausgeklügelten Verträgen alle unter ihre Kontrolle. Die höchste und gesetzgebende Gewalt lag nun beim Londoner Parlament beziehungsweise der Krone. Deren ausführendes Organ in Indien bildete ein auf jeweils fünf Jahre ernannter Vizekönig. In der folgenden Zeit ging es nun darum, die Herrschaft in dem riesigen Gebiet mit allen Mitteln und eiserner Hand zu sichern. Dabei stützte sich das Empire auf bereits bestehende Strukturen, behielt jedoch stets vorrangig die eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen im Blick. Die militärische Macht gewährleisteten ausschließlich britische Offiziere der Indien-Armee. Die Verwaltung der Behörden lag anfangs ebenfalls völlig in britischer Hand. Bestens ausgebildete Beamte aus dem weit entfernten Reich sorgten für „europäische“ Ordnung und Disziplin in den Abläufen der Bürokratie.
Zum Nutzen Ihrer Majestät, der Königin Victoria
Die britischen Kaufleute profitierten enorm von der Besatzung. Sie erzielten auf dem riesigen indischen Markt lukrative Gewinne mit ihren billigen, teilweise industriell hergestellten Produkten aus dem Mutterland. Viele der angestammten Läden und das ursprünglich ansässige Gewerbe gingen dadurch zugrunde. Tausende der dort Bediensteten sowie Kleinunternehmer verloren so Arbeit und Einkommen. Die Eroberer investierten zwar in die nötige Infrastruktur am Ganges, sie bauten Straßen, Häfen und Schulen, der Hauptnutzen dafür lag trotzdem bei ihnen selbst. Einheimische Kräfte erhielten meist einen Hungerlohn, was immer wieder Spannungen hervorrief beziehungsweise diese weiter verschärfte. Die Briten schufen nur wenige qualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze für die inländischen Beschäftigten, die ihr Auskommen hauptsächlich als Bauern oder Tagelöhner fanden. Soziale Sicherheit und Aufstiegschancen gab es meist nur für Großgrundbesitzer und die Aristokratie. Dieser schmale Teil der indischen Bevölkerung arrangierte sich von Anfang an mit der Situation. Vor allem die feudale Oberschicht arbeitete oftmals mit den neuen Herren zusammen. Ihre Kinder besuchten höhere Schulen unter britischer Verwaltung und erhielten so Zugang zur „höheren“ Gesellschaft. Viele der einheimischen Adligen häuften so über die Jahre ein beachtliches Vermögen an.
Die Rolle einzelner Akteure und politisch Verantwortlicher
Die zuständige Verwaltung und der britische Machtapparat in den Regionen Indiens sahen sich immer wieder mit einschneidenden Versorgungskrisen und verheerenden Naturkatastrophen konfrontiert. Im Nachhinein bewerten viele Historiker das Vorgehen der einzelnen Akteure gerade in den Jahren 1876 bis 1878 äußerst kritisch und von imperialem Eigeninteresse geprägt. Inwieweit die Betroffenen in den verschiedenen Provinzen die notwendige Hilfe erhielten, hing stark von jeweils verantwortlichen Personen ab.
Zu den prominenten Zeitgenossen, die den Verlauf dieser Ereignisse aktiv mitbestimmten beziehungsweise kritisch begleiteten, zählten unter anderem
- der zum indischen Vizekönig berufene Staatsmann Lord Robert Bulwer-Lytton,
- der britische Adlige und Politiker Sir Richard Temple,
- der Arzt und Hygienekommissar William Robert Cornish sowie
- der Journalist und Herausgeber William Digby.
Ein höchst umstrittener Vizekönig und hochgelobter Poet: Robert Bulwer-Lytton
Lord Robert Bulwer-Lytton wurde am 8. Dezember 1831 in London geboren und starb am 24. November 1891 in der französischen Hauptstadt Paris. Im Alter von erst 18 Jahren trat er als Attaché seines Onkels, Sir Henry Bulwer, in den diplomatischen Dienst ein. Nachdem der konservative Politiker die Berufung zum Gouverneur von Madras ablehnte, diente er Ihrer Majestät als Generalgouverneur und Vizekönig von Indien in den Jahren 1876 bis 1880. In seine Amtszeit fiel damit die Ernennung von Königin Victoria zur Kaiserin von Indien am 1. Januar 1877. Viele zeitgenössische Quellen beschreiben seine Amtsführung in allen ihren Bereichen als rücksichtslos und von „Sozialdarwinismus“ geprägt. Im Kern folgte er damit der Maxime: In der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft setzt sich der jeweils Stärkere durch. Vorwiegend nach diesem Muster handelte er in der Großen Hungersnot. Da er den unregulierten Freihandel propagierte, unternahm er nichts gegen die explodierenden Preise für Grundnahrungsmittel, aus heutiger Sicht eine der Hauptursachen des Hungers. Statt die Notleidenden in Indien zu unterstützen, finanzierte er Militäreinsätze zur Sicherung des britischen Einflusses auf dem Gebiet Afghanistans.
Vom fragwürdigen Umgang mit menschlichem Leid
1877 fiel die Getreideernte in Großbritannien selbst schlechter aus als in den vergangenen Sommern. Steigende Preise im Königreich waren die Folge. Um diese auszugleichen, musste Indien mitten in einer der schlimmsten Nahrungsmittelknappheiten seiner Geschichte doppelt so viel Weizen exportieren wie in den Jahren zuvor. In zahlreichen vom Getreide abhängigen Gebieten spitzte sich die ohnehin schwierige Situation aus diesem Grund weiter zu. Insgesamt stiegen zwischen 1875 und 1900, also genau in der Zeit der schwersten Krisen sowie Dürreperioden in Indien, die Exporte von drei auf zehn Millionen Tonnen im Jahr. Nahezu ein Fünftel ihres Bedarfes an Getreide deckten die Briten auf Kosten der zum Teil bitterarmen Bevölkerung Indiens. In diese Spanne fiel auch die kostspielige Organisation der Einsetzung der britischen Königin Victoria vor 68.000 geladenen Würdenträgern. Bei diesem Anlass versprach die Monarchin ihren Untertanen in einer blumigen Rede „Glück, Wohlstand und Wohlfahrt“.
1878 führte Lord Robert Bulwer-Lytton den „Vernacular Press Act“ ein. Das Pressegesetz erlaubte es dem jeweiligen Vizekönig, Inhalte als „aufrührerisch“ zu konfiszieren und deren Veröffentlichung zu verbieten. Wütende Proteste der damaligen Medien waren die Folge. Neben seiner umstrittenen Rolle als Staatsmann veröffentlichte Lord Lytton, ein Sohn des Schriftstellers Edward Bulwer-Lytton, unter dem Pseudonym „Owen Meredith“ mehrere hochgelobte Gedichtbände. Robert Bulwer-Lytton starb im Alter von 60 Jahren als amtierender Botschafter Frankreichs in Paris, wo ihm die seltene Ehre eines Staatsbegräbnisses zuteilwurde.
Sir Richard Temple und der Vorwurf der „Extravaganz“
Der britische Baronet (ein speziell im Vereinigten Königreich vergebener Adelstitel) Sir Richard Temple wurde am 8. März 1826 geboren. Nach seiner Ausbildung in mehreren Colleges durchlief er eine bemerkenswerte Laufbahn als Kolonialverwalter mit unterschiedlichen Stationen auf dem indischen Subkontinent. Er arbeitete unter anderem als zuständiger Kommissar für die Zentralprovinzen, als Privatsekretär des späteren Vizekönigs und als Vizegouverneur in Bengalen. In seiner letztgenannten Tätigkeit rettete er viele Menschenleben, indem er während der dortigen Ernährungskrise von 1874 eine halbe Million Tonnen Reis aus Burma importieren ließ, um die hungernde Bevölkerung vor Ort zu unterstützen. Dies werten Experten heute als eine der wenigen wirksamen Hilfsaktionen unter der Herrschaft der kolonialen Macht. Sir Richard Temple wiederum sah sich daraufhin von den Behörden dem Vorwurf der „Einmischung in den funktionierenden Markt“ ausgesetzt. Seine „übermäßige Wohltätigkeit“ wurde als Extravaganz kritisiert und kostete ihn um ein Haar die künftige Karriere. Die Regierung in London verfolgte eine sogenannte „Laisser-faire“-Politik in der Wirtschaft, also einen freien Markt ohne jegliche Intervention. Genau zu der Zeit, als die Hungerkrise von 1876 begann, versuchten die Zuständigen in Indien die soziale Unterstützung für Notleidende zu senken.
Die verhängnisvolle Chance auf Rehabilitation
1877 ernannte der damalige Vizekönig Lord Lytton Sir Richard Temple zum Beauftragten für die Bewältigung der Hungerkrise in Madras. Nun sah er die Möglichkeit, seinen als beschädigt geltenden Ruf wieder herzustellen. Er ordnete zwar erste Hilfsmaßnahmen an, deren Wirkung blieb jedoch überschaubar und linderte die Not der Armen kaum. Zudem bestand er auf streng festgelegten Standards für den Erhalt der Hilfsgüter. Die Verwaltung unterschied nach Zuwendungen an „arbeitsfähige“ Männer, Frauen und Kinder sowie „wohltätige“ (unentgeltliche) Unterstützung von alten Menschen, Kleinkindern oder anderweitig Bedürftigen. Diese Regeln stießen bei den „Hilfsarbeitern“ auf erbitterten Widerstand; Streiks waren die Folge. Sir Richard ließ daraufhin die Rationen noch weiter kürzen. Er führte in Lagern den nach ihm benannten „Tempellohn“ ein, eine willkürlich festgelegte Mindestration an Nahrung und Kalorien, die für die betroffenen, körperlich hart arbeitenden Menschen nicht annähernd ausreichte. So erhielt ein Mann circa 450 Gramm Reis plus einer „Anna“, umgerechnet den Bruchteil einer Rupie „für einen Tag Arbeit ohne Schatten und Ruhe“, wie er es ausdrückte. Frauen oder arbeitende Kinder bekamen noch weniger. Die Begründung lautete: Eine höhere Bezahlung schaffe möglicherweise eine „Abhängigkeit“ beziehungsweise sie „demoralisiere“ die Bevölkerung. Allerdings riefen diese „Empfehlungen“ auch harsche Kritik auf britischer Seite hervor, so etwa beim Gesundheitskommissar von Madras, William Robert Cornish. Der mächtige Vizekönig Lord Lytton unterstützte ihn jedoch in seiner Argumentation „es müsse alles einer finanziellen Gegenleistung untergeordnet werden“. Sir Richard Temple starb am 15. März 1902 auf seinem Anwesen in Hampstead.
Ein geachteter Fürsprecher und Helfer der Hungernden: William Robert Cornish
Der britische Arzt William Robert Cornish kam 1828 in Somerset, England zur Welt. Zum Abschluss seiner Ausbildung als Mediziner legte er die Prüfung für den Dienst in der Ostindien-Kompanie mit Erfolg ab. Cornish arbeitete über 30 Jahre auf unterschiedlichen Dienstposten in Indien. Dabei setzte er sich unter anderem für sauberes Trinkwasser ein und trieb wirksame Impfkampagnen gegen die Cholera sowie die Pocken unter den Einheimischen voran. Zur Zeit der Großen Hungersnot wirkte er als Hygienekommissar in der Provinz Madras. Angesichts des Elends in der Bevölkerung mahnte er eine großzügig gewährte Unterstützung im Kampf gegen die Nahrungsknappheit an. Er forderte eine Menge von mindestens 680 Gramm Getreide, ergänzt durch Proteine und Gemüse. Dabei geriet er in Konflikt mit dem für die Krise zuständigen Delegierten Sir Richard Temple, der den Bedürftigen seinerseits reduzierte Rationen ausgeben ließ. Schließlich folgte die Provinzregierung Cornishs Argumenten und erhöhte die Hilfen für die Betroffenen zumindest etwas. Die Menschen bekamen nun umgerechnet 570 Gramm an Getreide und Eiweiß in der Form von Hülsenfrüchten. Robert William Cornish erhielt als Anerkennung seiner Dienste während der Krise einen von Queen Victoria gestifteten Ritterorden. Viele seiner Ratschläge und Anregungen erleichterten die Bewältigung späterer Notsituationen. Sie fanden Eingang in die Gesetzgebung und wurden zu allgemein gültigen Richtlinien. William Robert Cornish starb am 19. Dezember 1896 in Worthing.
Die mahnende Stimme für die breite Öffentlichkeit: William Digby
Der Schriftsteller William Digby wurde am 1. Mai 1849 in Cambridgeshire, England geboren. Im Jahr 1871 zog er auf den indischen Subkontinent. Dort arbeitete er unter anderem als Unterredakteur beim „Ceylon Oberserver“ und als Herausgeber der „Madras Times“. Während dieser Tätigkeit erlebte Digby das Elend der Große Hungersnot hautnah mit und beteiligte sich aktiv an den Hilfsaktionen. Die Politik des Vizekönigs Lord Lytton sowie des Delegierten Sir Richard Temple lehnte er vehement ab. Er plädierte öffentlich für eine ausgeweitete staatliche Hungerhilfe. 1878 fasste er seine Eindrücke und Erfahrungen bei der Großen Hungersnot in einem umfangreichen Buch zusammen.
Der geachtete Kritiker und sein Werk
Nicht nur das viel beachtete, immer noch aktuelle Werk wies William Digby als scharfen Kritiker der britischen Politik und einen Anwalt der hungernden Menschen in Indien aus. Lord Lytton kritisierte die Berichte Digbys wiederholt als „übertriebene Hysterie“. Als Sir Richard Temple im Jahr 1877 verkündete, die Krise sei „unter Kontrolle gebracht“, widersprach ihm Digby energisch. Davon könne zu diesem Zeitpunkt keinesfalls die Rede sein. 1888 gründete der Journalist die „Indian Political and General Agency“ in London. Er wollte damit im Parlament und in der britischen Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Missstände in der Kronkolonie wecken. Dazu verfasste er zahlreiche kritische und mahnende Artikel. Der Schriftsteller und Humanist William Digby starb am 29. September 1904 in London. In Indien erschien eine Reihe von Nachrufen, die seinen Tod aufrichtig betrauerten. Selbst Gandhi hob damals seine wichtige Rolle als Vermittler für die Belange Indiens im Vereinigten Königreich hervor.
Der Verlauf der Großen Hungersnot
Im Jahr 1876 warteten die Menschen besonders in Madras wie immer sehnsüchtig auf den erlösenden Monsunregen. Lokale Regenschauer weckten Hoffnung, diese stellte sich bald als trügerisch heraus. Die Getreidepflanzen und damit die einzige Lebensgrundlage der Bewohner verwelkten zusehends. Die Katastrophe ließ sich nicht mehr abwenden.
Das lange Warten auf Hilfe
Die Frage war, ob die zuständige Regierung in Madras ausreichend vorbereitet sowie bereit war, angemessen zu handeln. Die Kaufleute und Händler erkannten rasch den Ernst der Situation. Sie erhöhten ihre Preise und Lagerbestände. Im Laufe des Oktobers unternahmen die Behörden in einigen Distrikten erste Hilfsbemühungen, um die Lage in den Griff zu bekommen. In Madras schien zunächst alles in gewohnten Bahnen zu verlaufen. Der Gouverneur brach wie vorher geplant, zu einer längeren Reise auf.
Nachdem der erhoffte Regen weiterhin ausblieb, geriet die Bevölkerung in Panik. Die Ausgaben für Nahrung stiegen auf das Doppelte und Dreifache. In manchen Gegenden von Madras bekamen die Kulis, wie die einheimischen Tagelöhner genannt wurden, die ihnen zustehende „Bezahlung“ zumindest in Form von Getreidezuteilungen. Aufgrund der spärlich und schleppend anlaufenden Zuwendungen regte sich heftiger Protest. Die aufgebrachte Menge drohte, die Märkte und Speicher für Getreide zu stürmen. In einigen Bereichen im Landesinneren kam es zu Plünderungen und das Militär musste einschreiten. Unter immensen Transportkosten versuchten die Verantwortlichen, auf der Schiene oder dem Wasserweg Getreide aus entfernten Regionen zu beschaffen und zentral zu lagern. Der Einzelhandel stand mittlerweile nahezu komplett still. Immer noch reagierten die zuständigen Regierungsbehörden zu zögerlich in ihren unterstützenden Maßnahmen. Viele Beamte scheuten die Ausgaben. Ihre Erfahrungen bei ähnlichen Geschehnissen in der Vergangenheit wie in Bengalen 1873 und 1874 zeigten, dass manch ein kostenintensives Hilfsprojekt nicht vollendet wurde. Seinerzeitige Aktionen liefen deshalb vielfach ins Leere.
Bürokratie und Vorschriften statt Barmherzigkeit
Inzwischen spitzte sich die Situation vor allem in Madras mehr und mehr zu. Tausende Bedürftige verließen ihre Wohnungen und suchten Zuflucht in behelfsmäßig errichteten Notlagern. Hier herrschten jedoch häufig so katastrophale Verhältnisse, dass die bedauernswerten Hungernden stattdessen eine Aufnahme ins Gefängnis provozierten. Strenge Vorschriften, wie an starre Bedingungen geknüpfte Nahrungszuteilungen oder Kleiderspenden, belasteten die Menschen zusätzlich. Aufgrund der wirtschaftlichen „Modernisierung“ ließen Provinzbeamte dezentrale Reserven einzelner Dörfer auflösen und in größere Lagereinheiten schaffen. Die Telegrafenverbindungen ermöglichten eine zentrale Kontrolle der Preise und damit deren unweigerliche Anhebung. Die Administration setzte, wie bereits in der Vergangenheit, den Kurs der indischen Rupie willkürlich fest. In einigen besonders von den Ernteausfällen betroffenen Landstrichen erhielten die Arbeiter wochenlang keinen oder nur einen Bruchteil des Lohnes und konnten ihre Familien nicht versorgen. Die zuständigen Verwaltungsbeamten waren den Hilfsaufgaben nicht gewachsen und holten zum Teil bewaffnete Soldaten zur Unterstützung herbei. Lokale Ausbrüche von Seuchen, etwa die Cholera, trugen noch zum Elend bei, indem sie die geschwächten Menschen heimsuchten. Manche erhaltenen Aufzeichnungen und Briefe von Zeitzeugen berichten über unbeschreiblichen Szenen. Die verzweifelten Männer und Frauen gruben sogar Leichen aus, um deren Fleisch zu essen. Aggressive und gefährliche Straßenhunde balgten sich um die Körper von verhungerten Kindern. Von Madras und Bombay aus griff die Not immer mehr um sich. Im Bundesstaat Mysore im Dekkan-Hochland, einem der am stärksten betroffenen Gebiete, starb ein Viertel der gesamten Bevölkerung während der Hungersnot. Die Lage im Punjab stellte sich weniger kritisch als in anderen Provinzen. Doch selbst hier ging die nicht bewässert gebliebene Herbsternte zum großen Teil nicht auf und war damit verloren.
Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Großen Hungersnot
Die verheerende Krise wirkte in Britisch-Indien noch lange nach. Die von ihr verursachte „Übersterblichkeit“ wuchs Schätzungen gemäß auf bis zu neuneinhalb Millionen Todesfälle. Das bedeutet: Im Laufe dieser drei Jahre gab es über neun Millionen mehr Opfer, als unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wären. Ab 1880 unternahm eine eigens einberufene Hungerkommission den Versuch einer Aufarbeitung des Massensterbens. Diese stellt unter anderem fest: Entscheidend war weniger der Mangel an Nahrungsmitteln als die weit überhöhten Preise dafür. In der Rückschau gab die britische Staatsmacht umgerechnet lediglich einen minimalen Betrag pro Kopf zur Linderung der Krise sowie ihrer Folgen aus. Aufgrund der Arbeit der Kommission und der Erfahrungen dieser Zeit verabschiedete die Regierung außerdem die indischen Hungersnotgesetze. Dieser detaillierte „Kodex“ bildete bis in die 1970er-Jahre eine wichtige Grundlage für die Hungerprävention. Eine große Anzahl von einheimischen Arbeitern wanderte in den folgenden Jahren in andere britische Kolonien aus und verdiente den Lohn auf tropischen Plantagen. Die Erinnerung an die Hungersnot lebte nicht nur im Gedächtnis der Betroffenen weiter. Sie blieb lange Thema in der Literatur und in über Generationen hinweg erzählten Geschichten und vererbten Volksliedern.
Infolge der außerordentlichen Sterblichkeit ging das Bevölkerungswachstum auf lange Zeit zurück. Und der Hunger war nicht besiegt. Noch im Jahr 1943 verhungerten allein in der Provinz Bengalen fast drei Millionen Menschen. Rückblickend mussten die von der Regierung zur Bewältigung der Krise beauftragten Personen zugeben, die Lage unterschätzt zu haben. Die später ernannten britischen Verwalter in Indien waren durch die offiziellen Reaktionen, insbesondere das sozusagen „verordnete“ Stillschweigen über den Umgang mit der Hungersnot, verunsichert. Zwei von ihnen, William Wedderburn und Allan Octavian Hume, gründeten in der Folge den einflussreichen indischen Nationalkongress. Diese Partei wurde später unter Mahatma Gandhi zu einem Hauptakteur der Unabhängigkeitsbewegung in Indien.
Wissenschaftliche Bewertung
Rückblickend fällt das Urteil der Geschichtsschreibung über den Umgang der britischen Krone mit der Katastrophe überwiegend kritisch aus. Der Historiker und Aktivist Mike Davis untersuchte die Zusammenhänge zwischen globalen Klimaereignissen und kapitalistisch geprägter Wirtschaftspolitik. In dem preisgekrönten Werk „Spätviktorianische Holocausts: El Niño Hungersnöte und die Entstehung der Dritten Welt“ bezeichnet er Hungerereignisse wie jenes von 1876 mit dem Begriff „kultureller Völkermord“. Er hebt die überproportional steigenden Getreideexporte nach Großbritannien mitten in der Phase der größten Not hervor. Zudem erwähnt er die immense Staatsverschuldung, die Indien belastete und eigene Hilfsmaßnahmen nahezu unmöglich machte. Der Subkontinent blieb damit abhängig von der Krone, ihrem Machtapparat und dessen „Gnade“. Seine Schlussfolgerung: Der Tod von 30 bis 60 Millionen Menschen bei den wiederholten weltweiten Ernährungskrisen im 19. Jahrhundert wurde maßgeblich von kapitalistischen Wirtschaftsideologien mitverursacht. Dazu zählen seiner Meinung nach die Laisser-faire-Politik sowie der Malthusianismus, also fragwürdige Theorien über den Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Hunger. Die Anhänger dieser Ideologie glaubten an den Ausbruch der Hungersnot als Antwort der Natur auf die indische Überbevölkerung.
Weiter prangert Davis die seiner Meinung nach „bösartige Wechselwirkung zwischen den Klimafaktoren und wirtschaftlichen Prozessen“ an. Er vermerkt die Tatsache, dass es im Zeitraum von 1757 bis 1947 „keinerlei Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens“ für die ansässige Bevölkerung gab. Außerdem verweist er auf die unrühmliche Rolle der damals politisch Verantwortlichen wie Sir Richard Temple und vor allem Lord Robert Bulwer-Lytton. Letzterer galt manchen seiner Zeitgenossen gar als geisteskrank. Für seine Thesen erhielt der Autor Mike Davis ebenso breite Zustimmung wie harsche Kritik wegen angeblich übertriebener Behauptungen. Der renommierte indische Nobelpreisträger Amartya Sen (Jahrgang 1933) etwa lobt die anschauliche Darstellung „der katastrophalen Folgen einer drastischen wirtschaftlichen Ungleichheit und politischer Entmachtung.“
War es Schicksal oder Unvermögen und Machtstreben?
Viele Wissenschaftler und Ökonomen argumentieren heute übereinstimmend: Eine (unvermeidbare) Dürre muss nicht zwangsläufig zu einer solch verheerenden Hungersnot wie der von 1876 bis 1878 führen. Rechtzeitig angelegte Lagerbestände sowie deren effektive Verteilung an die notleidenden Menschen könnten die Schäden begrenzen. Im Indien des 19. Jahrhunderts schienen die Briten die Krise jedoch als willkommene Chance zur Sicherung ihrer Souveränität zu begreifen. Ereignisse wie die Ausfuhr von dringend benötigtem Getreide nach Europa oder die glanzvolle und kostspielige Einsetzungsfeier der Queen als Kaiserin von Indien mitten im Elend wirken aus heutiger Sicht wie blanker Zynismus. Die verzweifelten Menschen setzten sich nach ihren Möglichkeiten zur Wehr und es gab immer wieder kleinere Aufstände. In fast allen Fällen schlug ein straff organisiertes Militär sie umgehend nieder. Wirksamer Beistand und öffentliche Fürsprecher fehlten meist.
Allerdings zeigen persönliche Beispiele wie der Arzt William Robert Cornish oder der Journalist William Digby, dass es durchaus kritische Stimmen gab. Sie lehnten die macht- sowie profitorientierte Politik des Empires in Britisch-Indien rigoros ab und thematisierten sie. In Großbritannien erschienen wiederholt Zeitungsberichte und erschütternde Fotos, die die Situation so dramatisch zeigten, wie sie sich im fernen Indien tatsächlich darstellte. 1901, kurz vor dem Tod der Queen und dem damit einhergehenden Ende des „viktorianischen“ Zeitalters, blickte der Schriftsteller Digby auf die Jahre von 1876 bis 1878 zurück. Dabei fragt er sich, wie wohl Historiker in der fernen Zukunft die Große Hungersnot und den seiner Meinung nach „unnötigen Tod von Millionen Indern“ beurteilen würden. Er sieht in der Tragödie eines der „am meisten berüchtigten Denkmäler des britischen Empire“.
Literatur
Davis, Mike: Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World. January 2017.
https://archive.org/details/faminecampaignin01digbuoft/page/n9/mode/2up?view=theater
https://www.theguardian.com/books/2001/jan/20/historybooks.famine
https://www.theguardian.com/books/2001/feb/11/historybooks.martinbright
Barbaric Civilization: A Critical Sociology of Genocide – Christopher Powell – Google Books (https://books.google.de/books?id=v3Qm4pWlVNsC&pg=PA238&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false)