Ende März 2006 verstarb in Kanada der in vielen Ländern berühmte Chemiker Prof. Dr. Rudolf Vrba. Nicht einmal das Ende durch eine unheilbare Krankheit vermag den Eindruck eines erfüllten Lebens verdrängen: Binnen knapp 82 Jahren hat Rudolf Vrba den aufsteigenden Weg vom unbekannten slowakischen Juden zum international renommierten Naturwissenschaftler zurückgelegt. Ähnlich dürften nicht wenige Karrieren verlaufen sein, aber es gibt eine Phase von knapp viereinhalb Jahren, von Ende 1939 bis zum Frühjahr 1944, die das Leben des Rudolf Vrba wahrhaft singulär machten. Von Wissenschaft und weltweiter Reputation konnte damals bei ihm noch keine Rede sein, aber dennoch handelt es sich um eine Singularität, die erst in ihrer Umstrittenheit ihr schier unvorstellbares Ausmaß enthüllt: Hat Rudolf Vrba Hunderttausend Juden vor dem Holocaust gerettet, oder mehr, oder keinen einzigen? Hat er die internationale Gemeinschaft gegen Hitlers Diktatur aufgerüttelt oder nicht? Hat er jüdische Selbstverteidigung gegen den Holocaust ermöglicht oder verhindert? Hat er das Wirken osteuropäischer „Judenräte“ als Konspiration unterstützt oder als Kollaboration denunziert? War Vrba ein Retter von Juden oder hat er die wahren Retter der Vendetta jüdischer Fanatiker ausgeliefert?
Wo ist der neuzeitliche Shakespeare, der das Leben dieses Slowaken darstellte? Als Walter Rosenberg wurde er am 11. September 1924 im slowakischen Topl’čany geboren, wo sein Vater Elias eine Mühle betrieb. Als Kind wohlhabender Eltern besuchte er das Gymnasium, von dem er als Jude 1939 vertrieben wurde. Im März 1939 hatte sich die Slowakei auf Drängen Hitlers aus der Tschechoslowakei gelöst und genoss nun eine „Souveränität“ von nationalsozialistischen Gnaden. Im März 1942 wurde er zusammen mit anderen slowakischen Juden in das KZ Maidanek deportiert, von wo man ihn am 30. Juni 1942 nach Auschwitz brachte. Vom August 1942 bis Juni 1943 war Rosenberg (Vrba) als Gefangener Nr. 44070 im sog. „Kanada“ tätig, einem Magazin, wo die persönlichen Sachen der neueingetroffenen Gefangen gesammelt waren. Angeblich waren dort ungeheure „Schätze“ aufgehäuft, weswegen das Magazin von den Gefangenen „Kanada“ genannt wurde: ein Inbegriff von Reichtum.
Im Juni 1943 mußte Rosenberg (Vrba) nach Auschwitz II – Birkenau wechseln, wo er die Register der „Quarantäne“-Abteilung führte. Er besaß ein photographisches Gedächtnis, das ihm später half, eine erste exakte Ortsbeschreibung des KZ Auschwitz und der Zahl seiner Opfer – laut Rosenberg (Vrba) 1.750.000 – zu liefern.
Shoa.de hat vor etwa zwei Jahren ein Gespräch publiziert, das Vrba zuvor mit zwei Redakteuren des Kölner DEUTSCHLANDFUNKS geführt hatte und in dem er nochmals genau (und in deutscher Sprache) beschrieb, was er in Auschwitz erlebt hatte. Vrba war nicht nur ein Überlebender des Holocaust, sondern auch einer von den sehr wenigen, denen die Flucht aus Auschwitz gelungen war. Er hatte beobachtet, dass rund um das Lager zwei „Postenketten“ standen, die „große“ äußere und die „kleine“ innere. Es gelang ihm, sich in einem großen Holzstoß zwischen den Postenketten zu verstecken und drei Tage unentdeckt zu bleiben. Danach wurde die „große Postenkette“ abgezogen: Vrba hatte und nutzte nun die Chance, seine Kenntnis des KZ Auschwitz in die internationale Öffentlichkeit zu tragen – als der vermutlich erste Ankläger des schlimmsten Vernichtungslagers und seiner deutschen Betreiber. Bereits 1963 hatte er ein Buch veröffentlicht „Escape from Auschwitz: I cannot forgive“, in dem er alle Umstände seiner Flucht und der Ereignisse danach schilderte.
Zusammen mit Rosenberg (Verba) war der slowakische Jude Alfred Wetzler (1918-1988) geflohen. Mit Hilfe einer Seite aus einem Schulatlas, aus dem Gepäck in „Kanada“ entnommen, gelang es ihnen, entlang des Flüsschens Soła zur polnisch-slowakischen Grenze zu kommen, die sie acht Tage nach ihrer Flucht überschritten. In der Slowakei brachten Bauern sie mit dem jüdischen Arzt Adre Steiner zusammen, der eine Widerstandsgruppe leitete. Steiner vermittelte einen Kontakt zum „Judenrat“ von Žilina, wo Rosenberg (Vrba) und Wetzler tagelang separat befragt wurden. Beide gaben weithin übereinstimmende Auskünfte – Rosenberg (Vrba) war sogar fähig, Details zur Deportation slowakischer Juden zu berichten, die der Judenrat anhand eigener Listen in ihrer Richtigkeit überprüfen konnte. Aufgrund beider Aussagen verfasste Dr. Oscar Krasnansky einen 32-seitigen Report, der später als die „Auschwitz-Protokolle“ bekannt wurde und eine erste detaillierte Beschreibung der Lage und der Praktiken von Auschwitz enthielt.
Im Sommer 1944 brach in der Slowakei ein Nationalaufstand aus, der letztlich keinen Erfolg hatte, dennoch zu den Ruhmesblättern slowakischer Geschichte gehört. Unter dem Tarnnamen Rudolf Vrba kämpfte Walter Rosenberg bis Kriegsende bei den Partisanen, wurde mit hohen Auszeichnungen geehrt und ließ später seinen neuen Namen legalisieren. Bis 1949 studierte er in Prag Chemie, promovierte 1951 und war einige Jahre wissenschaftlich tätig. 1958 ging er nach Israel, war dort weiter als Naturwissenschaftler tätig, wechselte 1960 nach England und 1967 nach Kanada, dessen Staatsbürger er 1972 wurde.
Prof. Dr. Rudolf Vrba als Wissenschaftler
Vrbas wissenschaftliche Bedeutung gründete sich auf rund fünfzig Fachpublikationen. Sein eigentliches Renommee fußte jedoch auf den „Auschwitz-Protokollen“, die bald auch als „Vrba-Wetzler-Report“ ein Begriff waren. Der Report war Ende April 1944 fertiggestellt und wurde in den beiden Folgemonaten an viele internationale Adressaten weitergeleitet, u.a. an den schwedischen König, Papst Pius XII., US-Präsident Franklin D. Roosevelt und andere. Gefahr war im Verzug, denn die deutschen Nationalsozialisten planten die Deportation Hunderttausender ungarischer Juden. Einer der ersten Empfänger des Reports war Dr. Rudolf Kasztner (1906-1957), der Leiter des ungarischen Judenrats. Kasztner hat seine Verbreitung nach Kräften behindert, da er einen anderen Plan verfolgte – die Juden gewissermaßen „freizukaufen“, indem sie den deutschen Nationalsozialisten Geld für die Anschaffung Tausender LKWs gaben. Der Plan ging nicht auf, doch konnten sich einige Hunderte Juden mit deutscher Billigung in die Schweiz retten, unter ihnen auch Kasztner mit seiner Familie. Nach dem Krieg machte er in der israelischen Politik Karriere – bis er 1957 von einem jüdischen Fanatiker erschossen wurde.
Kasztners Gegenwehr gegen den Vrba-Wetzler-Report hatte im Grunde wenig Wirkung, da er auch den ungarischen Behörden inzwischen bekannt war. In Westeuropa hatte er einige Demarchen von höchster Stelle ausgelöst, die dann auch dazu führten, dass die ungarischen Führer am 9. Juli 1944 weitere Deportationen von Juden stoppten. Das war keine Menschlichkeit, vielmehr hatten westliche Politiker ihnen klar gesagt, dass sie persönlich verantwortlich seien für alles, was den Juden geschehe. Durch den Stop der Deportationen wurden zweifellos Hunderttausende ungarische Juden gerettet – wie es aber auch Tatsache ist, dass zwischen dem 15. Mai und dem 7. Juli 1944 437.000 ungarische Juden in deutsche KZs deportiert wurden.
Rudolf Vrba hat es als einer Ersten gewusst, was den ungarischen Juden bevorstand – die SS hatte in Auschwitz bereits die entsprechenden Vorbereitungen getroffen. Nach seiner Flucht bemühte er sich, diese deutschen Pläne zu durchkreuzen. Ob es ihm gelungen war oder nicht, hat er nie explizit geäußert, wohl aber bei vielen Gelegenheiten geballten Zorn auf Kasztner und andere ungarische Juden aufblitzen lassen, denen er vorwarf, seine Botschaft torpediert zu haben. Haben sie es? Hat der Jude Vrba im Bestreben, Juden zu retten, einen Konflikt unter Juden initiiert und bewusst weitergetragen? Fragen, die keine Antwort bekommen, weil sie keine bekommen können. Das ist die große Tragik, die in dem erfüllten Leben des Rudolf Vrba mitschwingt.
Autor: Wolf Oschlies