Michaela Meliáns Memory Loops als Denkmal für die NS-Opfer in München
München hat seit dem 23.9.2010 ein neues Denk- und Mahnmal, mit dem an den Terror des Nationalsozialismus in München erinnert wird. Der Clou, es wird kaum etwas zu sehen sein, dafür aber umso mehr zu hören. Die Künstlerin Michaela Melián (Jhg. 1956), nebenbei auch Mitglied der Band FSK (neben Justin Hoffmann, Thomas Meinecke, Carl Oesterhelt und Wilfried Petzi), hat ihr Konzept der virtuellen Erinnerung in Form von Musik und Tondokumenten beim Wettbewerb der Stadt München unter dem Motto „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“ eingereicht und 2008 den ersten Preis gewonnen. Wohlverdient, denn Michaela Melián betritt mit ihrer Arbeit neues Terrain. Nach den vielen Kunstwettbewerben für politische Denkmäler in den letzten Jahren äußerten sich immer mehr Künstler, Architekten, Historiker und äußerten ihr Unbehagen angesichts der vielen architektonisch eher merk- als denkwürdigen Stelen, Gebäude, Plätze, vor denen viele Menschen eher ratlos stehen. Andere Formen wie partizipatorische Projekte oder ephemere Interventionen waren politisch oft nicht gewünscht und deshalb chancenlos, da die große architektonische Geste als Kranzabwurfstellen bewusst von der Politik präferiert wurde. Manche Resultate, wie das zehn Jahre lang vehement diskutierte große Denkmal für die ermordeten Juden Europas, erhalten zwar einen großen Zuspruch, allerdings bleibt es fraglich, ob es überhaupt für einen Ort der Erinnerung taugen würde, wäre da nicht nachträglich der „Ort der Information“ mit einer überzeugenden Ausstellung installiert worden. Viele Menschen statten dem gigantischen Stelenfeld einen Besuch ab und widmen ihm Zeit, aber viele eben nur zum Sonnen und Stelen-Jumping während die Kinder dort prima Fangen und Versteck spielen können. Eine derartige Zweckentfremdung ist bei dem neuen Denkmal in München unmöglich. Michaela Meliáns Denkmal funktioniert ganz anders und kann als eine positive Quintessenz aus dem Dilemma der Erinnerungskultur begriffen werden. Dass ausgerechnet München, die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ und heute politisch eher als konservatives Pflaster bekannte Stadt, dieses Wagnis der Virtualität eingeht, erscheint als kleines Wunder. Des ungeachtet unterhält München mit „Quivid“ ein sehr reges und oftmals wagemutiges Programm für Kunst im öffentlichen Raum, an dem sich andere Städte durchaus ein Beispiel nehmen könnten.
Michaela Meliáns Denkmal drängt sich nicht auf, es steht nicht als Koloss herum, sondern erteilt ein Angebot, das sich ebenso an die bewussten Stadtflaneure wie auch an neugierige Touristen richtet, aber weltweit auch von jedem Internetnutzer wahrgenommen werden kann. Es ist ein Denkmal, das Erinnerung lebendig macht und Geschichte vermittelt, ohne sie auf problematische Metaphorik zu reduzieren. Auf 300 Tonspuren, 175 davon auch in Englisch, gibt es zu bestimmten Orten auf der Münchener Stadtkarte Informationen in Form von gelesenen Erlebnisberichten, Dokumenten der Nazi-Behörden oder Briefe. Auf der Grundlage von musikalischen Fragmenten von Karl Amadeus Hartmann, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Kurt Weill und Coco Schumann hat Michaela Melián einen Klangteppich ruhiger elektronischer Musik komponiert, ähnlich der von ihr bereits für ihr preisgekröntes Hörspiel zum DP-Lager Föhrenwald verwandten. Dazu hört man die Texte aus Oral History und Literatur, gelesen von Schauspielern und die Dokumente des Terrors gelesen von Kindern. Der Kontrast der Kinderstimmen zu den von ihnen gelesenen Ungeheuerlichkeiten birgt eine Subversion, die die darin zum Ausdruck kommende Gewalt nochmals verdeutlicht. Klickt man sich durch die einzelnen Orte auf der Karte, die mit den Tonspuren unterlegt sind, entsteht im Kopf eine Art Münchener Stadtroman, der die Vorgeschichte der Nazis, die vielen antisemitischen Vorzeichen ebenso berücksichtigt wie die verschiedenen Formen der Distanzierung bis hin zum Widerstand von sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterkreisen. Hier wird jedoch nichts glatt gebügelt, sondern Geschichte gerade auch in ihren Widersprüchen erfahrbar. So sind auch Berichte zu hören, in denen Arbeiter ihrer Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass so viele ehemaligen Kumpel und Genossen zu den Nazis übergelaufen sind.
In verschiedenen Münchener Museen und Institutionen sind ab sofort kostenlos MP3-Player mit den verschiedenen jeweils einstündigen Hörspieltouren ausleihbar. Für das iPhone ist ein App erhältlich, das sowohl die Karte nebst 60 Stimmcollagen bereitstellt und per GPS das Navigieren der Routen ermöglicht. Über bestimmte Nummern zum Ortstarif, die im Straßenraum noch auf Schildern sukzessive veröffentlicht werden sollen, werden die Texte mit jedem Handy abrufbar sein. Sie können aber auch aus dem Internet auf einen MP3-Player geladen werden und zu einer individuellen Stadtführung zusammengestellt werden. Fünf jeweils einstündige bereits von Michaela Melián komponierte Touren liegen als Hörspiele fertig vor und können per Download gespeichert werden.
Autor: Matthias Reichelt