
Ieşirea trenurilor din gară | The Exit of the Trains. Regie: Radu Jude, Adrian Cioflâncă. © microFilm
Ende Juni 1941 wurden im rumänischen Iași innerhalb nur weniger Tage ein Drittel der einheimischen Juden Opfer eines brutalen Pogroms. Beteiligt an den Misshandlungen und Ermordungen der jüdischen Bevölkerung waren nicht nur Polizisten und rumänische sowie einige deutsche Militärs, sondern erschreckenderweise auch viele Zivilisten. Fast alle der jüdischen Männer Iașis wurden sofort erschossen. Die Überlebenden wurden zusammen getrieben und in Züge gepfercht. Während sie darin, ohne Wasser auf engstem Raum eingesperrt, in der Sommerhitze elend erstickten, ließen die Täter einen Großteil der von ihnen misshandelten und gedemütigten Frauen wieder gehen. Doch wohin sollten sie zurückkehren? Ihre Wohnungen waren geplündert, ihr Eigentum beschlagnahmt oder aus Hass und Rachsucht zerstört.
In ihren Dokumentarfilm „The Exit of the Trains“ entschieden sich die rumänischen Filmemacher Radu Jude und Adrian Cioflâncă dafür, die Ermordung von 13.266 jüdischen Mitbürgern auf ebenso minimalistische wie eindrucksvolle Art filmisch umzusetzen. Mit neutraler Stimme aus dem Off nennen die Schauspieler Şerban Pavlu und Ioana Iacob die Namen der Toten, während eine private Fotografie oder ein Passfoto der jeweiligen Person auf der Leinwand zu sehen ist. In den Fällen, in denen persönliche Details recherchiert werden konnten, erfährt der Zuschauer einzelne Informationen aus dem Leben jedes Opfers. Sowohl durch die ständigen Wiederholungen der Geschehnisse als auch durch persönliche Kleinigkeiten werden so aus der endlos erscheinenden Liste von Ermordeten Einzelschicksale, deren individuelle Geschichte gleichermaßen schockiert und berührt. Erschreckend wirkt auch die Leichtigkeit mancher O-Töne der Täter, wenn sie nur Tage nach dem Massaker mit der Anzahl ihrer Opfer prahlen und die Toten mit Worten verhöhnen.
Der studierte Historiker Adrian Cioflâncă beschäftigte sich bereits während seines Studiums intensiv mit dem Holocaust und ist heute anerkannter Experte in Jüdischer Geschichte. In einem Interview beschrieb er anschaulich, wie er seine Recherche mit einem Fotoalbum begann, das er auf Ebay erstanden hatte. Darin befanden sich Bilder von 364 der Opfer des Iaşi Pogroms von 1941. Um mehr herauszufinden, startete Adrian Cioflâncă über soziale Medien die „namesnotnumbers“ Kampagne, um den Toten auf den Fotografien Namen zuordnen zu können und weitere Opfer ausfindig zu machen. In der Stadt Iaşi verteilte er außerdem Flyer mit den vorhandenen Opferportraits und bat die Bevölkerung um ihre Mithilfe. Kein einfaches Unterfangen in einer Stadt, die die Tragödie des Sommers 1941 lieber in der Vergessenheit belassen wollte. Um noch weitere Opfer ausfindig zu machen, durchforstete Cioflâncă gemeinsam mit Radu Jude die digitalisierten Archive von Yad Vashem, weltweiter Holocaust Museen sowie des rumänischen Militärarchivs. Über einige Opfer fanden die Regisseure nur wenige Eckdaten, während sie über das Leben anderer ganze Seiten voller persönlicher Erinnerungen entdeckten. Letztlich sah sich Radu Jude aus dramaturgischer Sicht gezwungen, unter den verwendeten Informationen auszuwählen, ohne dabei eines der 200 Opfer zu vergessen, solange sich dessen Bild auch ein Name zuordnen ließ. Keinen Platz finden in den 175 Minuten des Films konnten die meisten der ca. 400 Personen, deren Fotografien namenlos blieben. Für über 3000 Opfer fanden die Filmemacher nur die Namen und teilweise auch die Lebensdaten, doch keine Bilder. Für die Tausenden der anonym gebliebenen Ermordeten bleiben nur die dokumentierten Schicksale, um stellvertretend für sie Zeugnis abzulegen. Wie auch über die vielen zerstörten Familien, deren Überlebende in Armut und der ständigen Furcht lebten, das Pogrom könne sich an ihnen wiederholen.
Im Zuge ihrer Recherche begegneten die Filmemacher wiederholt Widerständen in der rumänischen Gesellschaft, sich mit der eigenen Rolle im Holocaust auseinanderzusetzen. Deshalb befassten sich die Regisseure intensiv mit den politischen und sozialen Verhältnissen vor und während des zweiten Weltkriegs in Rumänien. Um die Jahrhundertwende war Iași ein Zentrum jüdischen Lebens, da die Stadt zur Hälfte von Juden bewohnt war. Mit der Machtübernahme durch General Ion Antonescu im Oktober 1940 verschärften sich die Anfeindungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Im zweiten Weltkrieg verbündete sich Rumänien mit Deutschland gegen die Sowjetunion. Als die Rumänien bombardierte, machte Marschall Ion Antonescu dafür die Juden verantwortlich. Einem Zeitzeugen zufolge soll er daraufhin das Massaker persönlich angeordnet haben. Das Unrecht und den Horror, die die jüdische Bevölkerung damals erlitten haben, zeigen Jude und Cioflâncă am Ende ihres Films in einer Montage historischer Aufnahmen aus den Tagen des Pogroms. Ein Schlag in dem Magen für alle, die eine rumänische Beteiligung am Holocaust nicht wahrhaben wollen.
Das Thema Antisemitismus beschäftigte Radu Jude bereits in seinem vorigen Film „The Dead Nation“. Darin kombiniert er Tagebuchaufzeichnungen des jüdischen Arztes Emil Dorian mit Fotografien aus den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die daraus entstandene Kollage wirft mit dem voice-over gesprochenen Text ein ganz anderes Bild auf die stolzen Soldaten, Familien mit Kindern, Leute von Rang und Nationalsozialisten auf den Fotografien. Produzentin war auch bei diesem Film Ada Solomon, die zuvor bereits an mehreren Kurzfilmen mit Regisseur Radu Jude arbeitete und in Deutschland durch ihre Beteiligung an „Toni Erdmann“ bekannt wurde.
Auf der Berlinale erlebte „The Exit of the Trains“ seine Welturaufführung. Die rumänisch gesprochenen Originaltexte wurden für das internationale Publikum englisch untertitelt. Im Herbst dieses Jahres soll der Film auch ins rumänische Kino kommen. Wie das einheimische Publikum auf den Film reagieren wird, lässt sich schwer vorhersagen. Jude und Cioflâncă sind skeptisch, ob der gesellschaftlich immer noch tief verwurzelte Antisemitismus inzwischen überwunden ist. Mit ihrem mutigen Film machen sie einen Schritt voran in eine aufgeklärtere Zukunft.
Leşirea trenurilor din gară – The Exit of the Trains
, 175 Min
Regie:
Berlinale 2020 – Sektion: Forum