Friedrich III. (1831-1888). Deutscher Kaiser und König von Preußen regierte nur 99 Tage auf dem Thron des Reichs.
Die kurze Reihe von Beiträgen zum Thema „150 Jahre Reichsgründung“ soll mit einer Person fortgesetzt werden, die eigentlich nur in der zweiten Reihe der geschichtlichen Ereignisse stand: dem Sohn Kaiser Wilhelms I., der im Frühjahr 1888 für gerade einmal 99 Tage deutscher Kaiser und König von Preußen gewesen ist: Friedrich III. (als Kronprinz noch Friedrich Wilhelm genannt).
I) Einleitung
Reiches – entfalten zu können. Es kann daher auch gar nicht darum gehen, in Schwerpunkten zu beschreiben, was dieser Kurzzeit-Monarch für Deutschland konkret geleistet hat, sondern die Frage zu stellen, welche Entwicklungsmöglichkeiten durch seinen frühen Tod verloren gegangen sind. (5) Bei dieser Fragestellung sollen aber nicht unbedingt Spekulationen verfolgt werden, sondern vielmehr tatsächliche Erwartungen, die an den bisherigen Thronfolger gestellt worden sind.
Trotzdem bleibt, zumindest unausgesprochen im Hintergrund, die Aussage des Bismarck-Biographen Steinberg vorhanden:
„Durch Krankheit und Tod Friedrichs III. ist eine der großen »Was wäre wenn«-Fragen der deutschen Geschichte entstanden: Wäre sie anders verlaufen, wenn er gesund und kräftig gewesen wäre? Darauf gibt es keine Antwort, aber eines lässt sich sagen: Die Generation Friedrichs III. kam nicht an die Macht und wurde zu einer »verlorenen Generation«.“ (6)
Friedrich III. war bei der Thronfolge noch keine 57 Jahre alt, sein Vater wurde über 90, der Großvater fast 70 Jahre alt; so betrachtet, starb er mindestens zehn Jahre zu früh (vielleicht sogar 20 oder 30 Jahre).
Diese Fragestellung ließe sich noch dahin ergänzen, was hätte vor 1871 anders laufen können, wenn Wilhelm I. etwa um 1862/63 freiwillig zurückgetreten wäre, um seinem Sohn Platz zu machen? (7)
Kronprinz Friedrich Wilhelm wären damals, mit Anfang Dreißig, mindestens 25 Jahre Zeit geblieben, seine Vorstellungen zu entwickeln und umzusetzen. Wäre er – ohne sein tödliches Krebsleiden – annähernd so alt wie Wilhelm I. geworden, hätte seine Amtszeit bis weit nach 1900 dauern können. Ganz klar, dass sich die Frage nach alternativen Entwicklungsmöglichkeiten, gerade in Bezug auf die „Weltpolitik“ (vor allem die eingetretenen Überhitzungen im Juli 1914), aufdrängt.
Dies hängt zunächst vor allem mit der Biografie Friedrichs III. zusammen.
II) Biografischer Überblick
Im Herbst 1831 als ein Prinz von Preußen geboren, regierte noch König Friedrich Wilhelm III., sein Großvater, bereits weit über 30 Jahre das Königreich Preußen, das unter dessen Herrschaft und einer recht glücklichen Fügung auf dem Wiener Kongress 1815/20 wieder zu einem europäischen Machtfaktor werden konnte; doch ein Blick auf die Landkarte zeigte sofort Preußens prekäre Lage.
Mit neun Jahren starb der Großvater, sein Onkel, als ältester Sohn, folgte ihm als Friedrich Wilhelm IV. auf den Thron. Hätte dieser eigene Söhne gehabt, wäre gemäß der „Primogenitur“ ein Vetter zur Herrschaft gelangt. Jedoch hatte Friedrich Wilhelm IV., genau wie Friedrich der Große, keinen Thronfolger zeugen können, so dass gemäß den Hausgesetzen der jüngere Bruder zur Regentschaft gelangte, also Wilhelm I. Erst dadurch war auch der spätere Friedrich III. zum Kronprinzen aufgestiegen. Diese Entwicklung war aber ab einem bestimmten Zeitpunkt absehbar, so dass die Suche nach einer geeigneten Braut für eine präsumtive königliche Eheschließung große Aufmerksamkeit erhielt.
Sein Vater, der spätere Wilhelm I., hatte eine Vernunftehe mit Augusta v. Sachsen-Weimar-Eisenach schließen müssen; mit dem späteren Friedrich III. meinte es das Schicksal aber besser: seine Vermählung war wohl wirklich eine „Liebesheirat“. Mit politischen Auswirkungen. Ehefrau des Prinzen von Preußen wurde nämlich Prinzessin Victoria (in deutschsprachigen Darstellungen meist Viktoria geschrieben), älteste Tochter der englischen Queen Victoria und ihres deutschen Prinzgemahls, Albert von Sachsen-Coburg-Gotha. Prinzessin Viktoria hatte eine ausgesprochen vielseitige Ausbildung genossen und war durch ihre Eltern für damalige Verhältnisse sehr „liberal“ geprägt worden. Vor allem sprach die englische Prinzessin hervorragend deutsch, so dass es von der ersten Sekunde an zwischen den Brautleuten keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben hat.
Gerade diese für preußische Verhältnisse ungewöhnliche politische Prägung für eine künftige Gemahlin eines preußischen Königs war es, die ihr am Berliner Hof wenig Sympathien einbrachten, hierzu weiter unten.
Prinz Friedrich Wilhelm hatte aber zuvor eine typisch preußische Erziehung durchlaufen, bei der natürlich militärische Aspekte und Tugenden im Vordergrund standen, bereits mit Dreizehn nahm er an Kadettenmanövern teil; diese militärische Ausbildung und auch Neigung sollten später noch Früchte tragen. Friedrich Wilhelm wurde nach Hohenzollernschem Hausgesetz mit 18 Jahren im Oktober 1849 volljährig und begann ein Studium der Rechte an der Bonner Universität. Beides dürfte prägend gewesen sein. Zum einen war es kein „Privatstudium“, sondern an einer öffentlichen Universität; zum anderen galt das Rheinland als eher liberal, zumindest weniger steif als die Berliner Hofgesellschaft.
Seine spätere Braut lernte Friedrich Wilhelm als persönlicher Gast der Queen anlässlich der (ersten) Weltausstellung 1851 in London kennen. Prinzessin Viktoria, damals erst elf Jahre alt, war als persönliche Begleitung für den preußischen Gast vor allem mit Dolmetschen beschäftigt, fand aber gleich Gefallen an ihrem schneidigen Kavalier. Mit dem späteren Schwiegervater hatte Friedrich Wilhelm auch einen zugewandten, überaus gastfreundlichen Gesprächspartner – angeblich sollen die Unterhaltungen zwischen Prinzgemahl Albert und dem preußischen Prinzen dessen Interesse für liberalere Ideen geweckt haben. Zumindest war das gute Verhältnis zwischen den beiden Deutschen auch eine gute Basis für die einige Jahre später erfolgte Brautwerbung. Die britische Umgebung muss wohl insgesamt inspirierend für Friedrich Wilhelm gewesen sein; er war wohl besonders von dem liebevollen Umgang zwischen der Queen und ihrem Prinzgemahl beeindruckt (hat es bekanntlich wiederum bis in die jüngste Zeit auf Schloß Windsor gegeben). So etwas kannte er von zuhause sicher nicht.
Wie eingangs kurz beschrieben, brachte das Jahr 1858 für den jungen Friedrich Wilhelm zunächst seine Traumhochzeit mit der britischen Princess Royal, aber im Herbst auch die unheilbare Erkrankung seines Onkels, der dann auch Anfang 1861 kinderlos verstarb, so dass der Vater Wilhelm I. preußischer König wurde; damals auch bereits fast 64 Jahre alt. Von nun an stand Friedrich Wilhelm als künftiger Thronfolger in einer ganz besonderen Verantwortung, die Dynastie der Hohenzollern zu sichern. Noch zu Lebzeiten des alten Königs konnten die jungen Eheleute bereits 1859 die Geburt des Stammhalters verkünden; wiederum ein Wilhelm, der Nachwelt als der „Zweite“ eher in schlechter Erinnerung, was aber damals noch nicht im Entferntesten voraussehbar war:
„Die Geburt des ersten Kindes, am 27. Januar 1859, war schwer und gefahrvoll. Die Mutter war halbtot, dem Kind war der linke Arm beinahe aus dem Gelenk gerissen worden: Er blieb zeitlebens kürzer als der rechte. Immerhin war es ein Sohn; die Thronfolge war gesichert. (…) Erwachsen sollte er den Eltern noch größeren Kummer bereiten, als Wilhelm II. der letzte König von Preußen und letzte Deutsche Kaiser werden. Der Vater war auf den Thronerben so stolz“. (8)
Etwas mehr als zwanzig Jahre später war das Verhältnis zwischen diesem Wilhelm und seinen Eltern so zerrüttet, dass man gar von Feindschaft sprechen konnte (siehe weiter unten). Bis dahin gebar die Kronprinzessin Viktoria aber noch sieben Geschwister, insgesamt vier Söhne und vier Töchter. Von den Söhnen verstarben allerdings zwei, Sigismund und Waldemar, noch im Kindesalter. Ein Schicksalsschlag, den die Eltern nie verkraften sollten, aber der den erstgeborenen Wilhelm relativ unbeeindruckt ließ. Ähnlich unbeeindruckt wie später das Sterben der Soldaten im Ersten Weltkrieg.
Wer nun glaubt, die englische Prinzessin lediglich als „Gebärmaschine“ für die Hohenzollern betrachten zu können, irrt gewaltig:
„Vicky war ihrem Mann nicht nur an Allgemeinbildung und Common sense, sondern auch an Willensstärke und Durchsetzungskraft überlegen. Klein und untersetzt, resolut, quirlig und umtriebig wie sie war, hatte sie etwas von einem Kugelblitz an sich, der sich elektrisch entlud und elementar einschlug. Ihr Ehrgeiz war idealistisch, (…) auch wenn Bismarck, ihr späterer Todfeind, mit seiner Bemerkung übertrieben haben mochte: Vicky sei eine »wilde Frau«; wenn er ihr Bild ansehe, so grause ihm oft vor der ungebrochenen Sinnlichkeit, die aus ihren Augen spreche.“ (9)
Vom Vater, dem deutschen Prinzgemahl Queen Victorias besonders geprägt (lag die nunmehr preußische Kronprinzessin auch dem Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha sehr am Herzen – ähnlich wie andere der unzähligen deutschen Kleinfürsten, war auch er liberalen Gedanken und staatsrechtlich dem Konstitutionalismus zugeneigt), hatte Viktoria großen Einfluss auf ihren Fritz.
Man sagte dem 99-Tage-Kaiser auch gerade deswegen nach, er habe liberale Ansichten vertreten oder zumindest liberalere als sonst in der politischen Führungsschicht Preußens üblich. Ob diese Zuschreibung, insbesondere beim Thema „Parlamentarisierung“, auch wirklich zutraf, lässt sich zumindest nicht sicher sagen. Ob die Befürchtungen der politischen Gegner des Kronprinzen, er habe – ähnlich wie in Großbritannien – eine Stärkung des Landtags bzw. späteren Reichstags beabsichtigt, real waren, kann ebenfalls nicht abschließend beurteilt werden, dazu war seine Regierungszeit definitiv viel zu kurz.
Fest steht allerdings, dass der Kronprinz sehr oft in einer Art Zwickmühle steckte „zwischen konservativem Preußentum und fortschrittlichem Liberalismus“. (10) Bedenkt man, dass die dem Kronprinzen nachgesagten Absichten meist aus unverhohlener Abneigung gegen seine englische Ehefrau erfolgten, wird man dies jedoch größtenteils als (böswillige) Unterstellung bezeichnen dürfen.
All das musste ihn trotzdem, gleichsam zwangsläufig, in einen großen Konflikt mit Bismarck bringen; hier wird oft von Antipathie oder gar Feindschaft (Golo Mann) gesprochen. Dies und sein qualvolles Ende soll weiter unten noch vertieft werden.
III) Kaiser Friedrichs III. Rolle in Preußen vor 1871
Eine einschneidende, beinahe schicksalhafte Erfahrung hatte der Kronprinz Friedrich Wilhelm im September 1862 zu meistern: Wegen der extrem angespannten politischen Lage, in die sich die preußische Regierung bzw. ganz konkret Wilhelm I. durch die geplante Heeresreform hineinmanövriert hatten, stand es eine kurze Zeit tatsächlich so, als würde der König, zermürbt und scheinbar am Ende mit allen taktischen Spielchen, freiwillig zugunsten des Thronfolgers zurücktreten. Objektiv hat Wilhelm I. tatsächlich am 17. September 1862 eine Abdankungsurkunde entworfen, mit der sein Sohn zum Nachfolger bestimmt werden sollte; allerdings nur unter ganz besonderen Umständen. Denn subjektiv verfolgte der König von Preußen eine geradezu perfide Strategie, den Thronfolger gleichsam moralisch-emotional zu erpressen. Indem Wilhelm I. ausschließlich den Abgeordneten im Landtag die Schuld an dem berühmten Verfassungskonflikt gegeben hat, wodurch seine gottgegebene Stellung „über der Verfassung“ bedroht worden war, musste ein rechtmäßiger Nachfolger alles tun, um diese angestammten Rechte wieder zur Geltung zu bringen. Andernfalls wäre es keine rechtmäßige Thronfolge und der neue König wäre dann selbst delegitimiert. Kronprinz Friedrich Wilhelm war unter diesen Umständen aber nicht bereit, die Krone zu übernehmen; es hat dann wohl zwei Tage intensiver Beratungen zwischen Vater und Sohn (und zumindest auch Teilen des „Hofstaates“) gegeben; am 20. September stand daher fest, dass Wilhelm I. nicht zurücktreten wird, zwei Tage später war dann Bismarck als Kandidat für den Posten des preußischen Ministerpräsidenten auserkoren:
„Man hat seitdem immer wieder die Frage gestellt, ob der Kronprinz, der spätere Kaiser Friedrich III., sich in jener Situation richtig verhalten oder ob er hier nicht eine entscheidende Chance vergeben habe, mit seiner eigenen Zukunft diejenige Preußens und Deutschlands in eine ganz andere Bahn zu lenken.“ (11)
Am Abend des 20. September 1862 kam es zu einer – im Rückblick wohl folgenreichen – Unterredung zwischen dem Kronprinzen und Bismarck, der wohl den Eindruck hatte, ausgehorcht zu werden bzw. seine Ambitionen offenlegen zu müssen, so dass er spätestens seitdem immer einen gewissen Argwohn gegenüber dem Thronfolger hegte.
Interessant und daher besonders zu erwähnen, ist der zeitliche Zusammenhang: Zunächst erfolgten die ausgedehnten Besprechungen zwischen Wilhelm I. und dem Kronprinzen, der des Vaters Angebot auf Thronfolge unter den konkreten Umständen ablehnte. Danach schwenkte der König um und konsultierte Bismarck, der damals noch preußischer Botschafter in Paris war, und der seinen König mit pathetischen Worten vom „kurbrandenburgischen Vasallen“, der seinem Lehnsherrn treu ergeben sei, umwarb. Der so beeindruckte Wilhelm I. gab den bis dahin gegen Bismarck gehegten Vorbehalt (dieser sei erzreaktionär, nur zu gebrauchen, um das Bajonett sprechen zu lassen) auf und trug ihm augenblicklich das Amt des preußischen Ministerpräsidenten an – ohne zumindest noch einmal den Sohn und noch kurz vorher avisierten Thronfolger direkt zu Rate zu ziehen.
„Hätte Friedrich Wilhelm seinen Vater anders beraten, wenn er diesen nächsten Schritt vorhergesehen hätte? Mit Sicherheit erwartete der Kronprinz bei seinem Abschied keine bösen Überraschungen (…). Als ihn vier Tage später die Nachricht von der Ernennung erreichte, war er daher erstaunt und bestürzt“. (12) Insbesondere weil Friedrich Wilhelm die gegen Bismarck bestehenden Vorbehalte sehr gut kannte und auch in eigener Person teilte:
„Nun hatte ihn der König also doch berufen. Alle Welt witterte Reaktion, kommentierte der Kronprinz, die Opposition verhärte sich und dem Vater wie ihm stünden angesichts des »unwahren Charakters« wie des herrischen Wesens Bismarcks schwere Stunden bevor.“
Auch an das zu erwartende äußerst schwierige Verhältnis zwischen dem frisch ernannten Ministerpräsidenten zu seiner Mutter und noch mehr zu seiner Frau musste der Kronprinz denken. Die erste offizielle Rede Bismarcks vor dem Haushaltsausschuss (Budgetkommission) des Landtags am 30. September 1862 schien alle Bedenken auf das Schärfste zu bestätigen (die Eisen-und-Blut-Rede). „Friedrich Wilhelm schauderte, und es schlug ihm das Gewissen. Hätte er nicht doch die Krone annehmen sollen, um diese Wendung zu verhüten? Hätte er nicht für die liberale Sache eintreten müssen, anstatt liberale Minister im Stich zu lassen und liberale Abgeordnete vor den Kopf zu stoßen? (…) Der Reue aber folgte kein Vorsatz.“ (13)
In seinen Memoiren erwähnt Bismarck diese durchaus entscheidenden Tage (17. bis 20. September 1862) nur am Rande, sprach von einem „Entschlusse der Abdikation“ (Lossagung) bei Wilhelm I. aufgrund innerer Kämpfe, verursacht durch unfähige Minister (also alle die, die vor Ernennung Bismarcks im Amt waren). Kein Wort von der Abdankungsurkunde und der Taktik des Königs, der Kronprinz wird in diesem Zusammenhang nicht einmal erwähnt. Typisch für die Bismarckschen „Erinnerungen“: wo er selbst nicht glänzen kann oder zu unbedeutend gewesen ist, darüber schweigt er sich in den Memoiren aus. Da, wo es nur irgend möglich ist, sucht er seine Gegner (meist die Königin Augusta), in ein schlechtes Licht zu setzen oder übergeht sie einfach, wie den Kronprinzen.
Auf die nach der Ernennung Bismarcks folgenden politischen Entwicklungen und Ereignisse wurde bereits eingegangen, die persönliche Rolle des Kronprinzen ist wie folgt zusammen zu fassen:
Sowohl 1866 im Krieg gegen Österreich und dann 1871 gegen Frankreich war dieser als Armeeführer an vorderster Front und konnte teils kriegsentscheidende Manöver vollbringen. Dies brachte ihm nicht nur beim Volk Ruhm und Ansehen ein, sondern – für den künftigen König einer Militärmonarchie viel wichtiger – auch bei den Soldaten (vom einfachen Grenadier bis in den Generalstab; der ältere Moltke war gar ein guter Freund des Kronprinzen). Nachdem Anfang Juli 1866 die Armeen Österreichs insgesamt nahezu aufgerieben waren, und Wilhelm I., ganz in der Tradition seiner Vorfahren, unbedingt in Wien an der Spitze einer Siegesparade einmarschieren wollte, konnte der Kronprinz mäßigend auf seinen fast siebzigjährigen Vater einwirken (auch an diesem Punkt gibt es unterschiedliche Darstellungen, wieweit er oder Bismarck maßgeblich beteiligt waren).
Insgesamt war sein Einfluss auf die politischen Ereignisse und Entwicklungen aber relativ gering. Obwohl schon ziemlich früh absehbar war, dass sein Onkel, Friedrich Wilhelm IV., ohne Thronerben bleiben würde, so dass – wie ab 1859/61 eingetreten – erst Wilhelm I., dann irgendwann er selbst den Thron besteigen würde, wurden ihm (von militärischen Einsätzen und Manövern abgesehen) kaum echte politische Aufgaben übertragen; so hätte doch 1867 im Norddeutschen Bund durchaus eine Funktion für den Kronprinzen gefunden werden können, oder bei der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 hätte ihm eine präsentere Rolle zuteil werden können, aber nichts dergleichen.
Eigentlich nur ein einziges Mal trat der Kronprinz vor 1871 politisch aktiv in Erscheinung: 1863 bei der sog. Danziger Rede. Hintergrund war die auf Betreiben Bismarcks versuchte Beschränkung der (ohnehin nur relativen) Pressefreiheit, die Friedrich Wilhelm anlässlich einer öffentlichen Rede in Danzig am 5. Juni 1863 kritisierte; ganz zum Missfallen des Königs! Wilhelm I. muss so ungehalten über den als Affront empfundenen Auftritt des Sohnes gewesen sein, dass er ernsthaft überlegte, den Kronprinzen vor ein Militärgericht stellen zu lassen. (14)
Die Heftigkeit, mit welcher der König auf die als Impertinenz empfundene Kritik des Sohnes reagierte, hing aber scheinbar auch mit den Mitte 1863 besonders nervenaufreibenden Diskussionen bzw. Auseinandersetzungen während des Verfassungskonflikts zusammen. Noch 15 Jahre vorher konnte Wilhelm (der Kartätschenprinz) einfach in die Menge der Aufständischen in Berlin schießen lassen (und es war Ruhe im Karton); ab 1849/50 waren die Könige Preußens an eine Verfassung gebunden, die bestimmte Verfahren vorschrieb, die auch seine Majestät verpflichteten – außer er wollte Verfassungsbruch riskieren, der dann schnell zu einer Revolution führen konnte.
Von der „Danziger Episode“ abgesehen, waren des Kronprinzen politische Vorstellungen doch eher konventionell; insbesondere im „außenpolitischen“ Bereich (also in Bezug auf Preußens Ambitionen):
„Während der sogenannten deutschen Einigungskriege entwickelte Friedrich Wilhelm seine Ideen über Preußens politischen Aufstieg sogar noch unmissverständlicher. Der deutsch-dänische Krieg von 1864 bot seiner Meinung nach in dieser Hinsicht eine gute Gelegenheit“, im Einklang mit einem achtungswerten Nationalgefühl die Führung in Deutschland zu gewinnen. „Vor dem Krieg gegen Österreich im Sommer 1866, den Friedrich Wilhelm zu verhindern versucht hatte, war der Kronprinz noch ein vehementer Gegner der preußischen Annexion von Schleswig und Holstein gewesen. Der Sieg Preußens über Österreich und seine deutschen Verbündeten beeindruckte ihn jedoch zutiefst.“
Im Gegensatz zu Wilhelm I. hatte Friedrich Wilhelm dann auch keinerlei Skrupel, die Gebiete der besiegten Gegner nördlich der Mainlinie inkl. Frankfurt am Main zu annektieren. (15)
Nach den Ereignissen von 1866, spätestens 1868, verfestigten sich beim Kronprinzen nicht nur weitere staatsrechtliche Vorstellungen für eine Umgestaltung Deutschlands unter preußischer Führung, sondern auch ganz konkret der Wunsch nach dem „Kaisertitel“. (16) Dieser ging dann im Januar 1871 jedoch an den Vater.
IV) Friedrichs III. Rolle im Kaiserreich
An der eher zurückhaltenden, wenn nicht sogar passiven Figur, die der Kronprinz vor 1871 abgab, änderte sich auch nach der Reichsgründung eigentlich nichts. Lediglich 1878, als gleich zwei (erfolglose) Attentate auf den Kaiser verübt worden waren, übernahm der Kronprinz kurzzeitig die Regierungsgeschäfte; gerade zu dem Zeitpunkt, als Bismarck begann, seine Anti-Sozialistengesetze vorzubereiten. Auch bei diesem Vorhaben musste es zu Kontroversen zwischen Kanzler und Kronprinz kommen. Nachdem Wilhelm I. von den Folgen des zweiten Mordanschlags rasch genesen war, übernahm er auch wieder vollständig seine Aufgaben; bis auf wenige Sitzungen des „Staatsrates“ unter seinem Vorsitz hatte Friedrich Wilhelm zu Lebzeiten des alten Kaisers keine praktischen Funktionen.
Kronprinz Friedrich Wilhelm war im Wartestand, von dem niemand wirklich erwartete, dass dieser bis ins Frühjahr 1888 andauern würde. Der Vater regierte bis ins 91. Lebensjahr, teilweise seinem Kanzler und früheren Ministerpräsidenten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dann kam der große gesundheitliche Schock:
„Im Frühjahr 1887 hatten die Ärzte Geschwulste im Hals des Kronprinzen festgestellt. Zwei deutsche Spezialisten diagnostizierten Kehlkopfkrebs und wollten sofort operieren. Doch der hinzugezogene englische Arzt Morell Mackenzie hielt, unterstützt von Rudolf Virchow, die Geschwulst für gutartig. Der Mediziner-Disput verzögerte den notwendigen Eingriff, der beim damaligen Stand der medizinischen Kenntnisse allerdings lebensgefährlich war. Anfang November 1887 gab es jedoch keinen Zweifel mehr: Kronprinz Friedrich Wilhelm (…) war unheilbar an Krebs erkrankt. Die Bestürzung war allgemein.“ (17)
Als der alte Kaiser dann Anfang März 1888 verstarb, lag über der Thronbesteigung Friedrichs III. bereits der nächste Todesschatten. Besonders seine Frau, die Kurzzeit- Kaiserin Viktoria, war extrem bestürzt und in Sorge, wie sie in zahlreichen Briefen an ihre Mutter, die Queen, ausdrückte. Auch wenn sich vorübergehend sein Gesundheitszustand zu bessern schien, war kurz vor dem Tode Wilhelms I. beim Kronprinzen eine Notoperation nötig, durch die er zwar wieder atmen konnte, aber er war seitdem stumm. Dieser medizinische Befund warf aber auch politisch-rechtliche Fragen auf: War ein schwerkranker Thronfolger, der, operativ bedingt, nicht mehr sprechen konnte, überhaupt noch rechtmäßig zur Übernahme der Herrschaft, sowohl Preußens als auch im Deutschen Reich, befugt? Bismarck widmet in seinen Memoiren dieser Frage durchaus Raum, tut aber so, als habe er immer zugunsten des Kronprinzen gehandelt. Mit dem Tod von Friedrichs III. als Kaiser des heiligen römischen Reiches. Mitte Juni 1888 hatte diese Frage keine praktische Relevanz mehr. Im Übrigen auch nicht das intime Detail, ob er sich viele Jahre zuvor bei einer „Dame“ die Syphilis geholt haben könnte.
Auf die Frage zu möglichen Auswirkungen, die der schnelle Tod des Hoffnungsträgers bewirkte, wird weiter unten eingegangen. Zuvor ist auf das reale Thema der Beziehung zwischen Kronprinz und Bismarck einzugehen.
V) Verhältnis zu Bismarck
Als besonders ambivalent gilt das kaiserliche Verhältnis Friedrichs III. zum „Reichsgründer“ Otto v. Bismarck. Beide verbindet – spätestens seit 1848 – eine vierzigjährige Beziehung, die natürlich von unterschiedlichsten Momenten geprägt ist. Hier können nicht alle Facetten beleuchtet werden, sondern es sollen nur besonders wichtige Ereignisse angerissen werden. Dem Hauptthema dieser Beiträge entsprechend, 150 Jahre Reichsgründung, zunächst eine Beschreibung zu 1871:
„Mindestens ebenso schwerwiegend war aber die Tatsache, daß (…) die Einigung Deutschlands das Gleichgewicht Europas grundlegend veränderte. Der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm notierte damals in sein Kriegstagebuch: »Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unserer Freunde, die Sympathien der Welt und – unser gutes Gewissen. Ich beharre noch heute fest in der Ansicht, daß Deutschland ohne Blut und Eisen, allein mit seinem guten Recht moralisch Eroberungen machen und einig, frei und mächtig werden konnte. Dann erlangte es ein ganz anderes Übergewicht als lediglich durch die Gewalt der Waffen, weil deutsche Kultur, deutsche Wissenschaft und deutsches Gemüt uns Achtung, Liebe und – Ehre gewinnen mußten«“. (18)
Klingt aus der Feder eines Hohenzollern zwar recht pathetisch, gibt aber gleich aus mehreren Gründen zu denken. War die Reichsgründung auch ohne Bismarcks „Blut- und-Eisen“-Ideologie zu haben gewesen? Hätten zumindest die Kriege von 1866 und 1870/71 mit weniger Blutzoll geführt werden können (bezogen auf die Belagerung/Aushungerung von Paris im Januar 1871 besonders relevant)? Und woher kam diese reservierte Einstellung des Kronprinzen gegenüber Bismarck?
Zumindest auf letztere Frage kann relativ sicher behauptet werden: Diese beruhte im Prinzip auf Gegenseitigkeit. Zwar war der junge Prinz Friedrich Wilhelm von Bismarcks fulminantem Auftritt auf dem „Vereinigten Landtag“ 1847 recht begeistert, als Bismarck – gerade kurze Zeit Abgesandter der Ritterschaft – dort seine ersten glühenden Reden pro Hohenzollern gehalten hatte (wie auch der Rest der altpreußischen Monarchisten), aber bereits im Frühjahr 1848 hatte seine Mutter, die spätere Königin Augusta, Grund zur Klage. Als Bismarck Mitte März 1848, während der Unruhen in Berlin, gleichsam im Alleingang, die bedrohte Monarchie retten wollte und auch ziemlich unkonventionelle Vorschläge machte, hinterließ er bei der damaligen Prinzessin einen sehr abstoßenden Eindruck. Das gespaltene Verhältnis zwischen beiden sollte in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich angespannter werden, was, durch den engen Kontakt zur Mutter, auch den Sohn berührte.
Als nächstes Problem für Bismarck erwies sich die künftige Braut und Ehefrau des Kronprinzen, die bereits erwähnte englische Prinzessin. Auch hier lohnt der Blick in Bismarcks Memoiren, sein erstes Erlebnis mit dem britischen Königspaar und späteren Schwiegereltern des Kronprinzen hatte er im August 1855. Laut Bismarck habe sich der Prinzgemahl mit ihm „übelwollend“ unterhalten, da dieser ihm eine antiwestliche Einwirkung auf den preußischen König unterstellt habe. Auch von der Queen hatte Bismarck seinerzeit den Eindruck, sie halte ihn für eine unsympathische Person.
Nachdem Ende Januar 1858 die Hochzeit stattgefunden hatte, bekam Bismarck im Februar die Gelegenheit, bei einer Veranstaltung Tischnachbar der Prinzessin zu sein und daher auch „Konversation“ machen zu können, mit interessanten Bemerkungen, dass Viktoria persönlich voreingenommen gewesen sei:
„Überraschend war mir dabei nicht die Tatsache, wohl aber die Form, wie ihr damaliges Vorurteil gegen mich im engen Familienkreise zum Ausdruck gekommen war: Sie traue mir nicht. Auf Abneigung wegen meiner angeblich antienglischen Gesinnung und wegen Ungehorsams gegen englische Einflüsse war ich gefaßt, mußte aber doch weitergehende Verleumdungen vermuten, als die Frau Prinzessin in einem Gespräch, welches sie mit mir, ihrem Tischnachbar, führte, in halb scherzendem Ton sagte, ich hätte den Ehrgeiz, König zu werden oder wenigstens Präsident einer Republik.“ (19)
Bismarck, ganz Kavallier, wie er sich gerne nach außen gab, habe ebenfalls halb scherzhaft erwidert, dass er als geborener Royalist nicht zum Republikaner tauge, dass er bis ans Ende ein getreuer Untertan des Königs bleiben werde. Er könne aber nicht garantieren, dass dies auch für folgende Generationen bleiben würde, „nicht weil die Royalisten ausgehen würden, sondern vielleicht die Könige“. Eine kleine, aber gemeine Spitze gegen die spätere Monarchin, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte, wie Bismarck weiter beschreibt:
„In der ersten Zeit meines Ministeriums habe ich noch öfter bei ähnlichen Tischgesprächen beobachtet, daß es der Prinzessin Vergnügen machte, meine patriotische Empfindlichkeit durch scherzhafte Kritik von Personen und Zuständen zu reizen.“ (20)
Klingt zunächst relativ harmlos, doch wer die Reizbarkeit Bismarcks kannte, hatte auf jeden Fall Grund anzunehmen, dass die junge Kronprinzessin auf wenig Zustimmung beim Versuch, „neue Gedanken“ einzubringen, stoßen würde. Selbst als dann Anfang März 1888 Wilhelm I. gestorben war, änderte sich nichts an diesem zutiefst zerrütteten Verhältnis zwischen Kanzler und der langjährigen Kronprinzessin.
Obwohl ihr Mann nur sehr kurze Zeit in Amt und Würden war, hatte Kaiserin Viktoria Anlass, über Bismarcks Widerstand zu klagen, liberalere Vorstellungen sowohl in der Sach- wie in der Personalpolitik umzusetzen:
„Alle weitergehenden Pläne scheiterten am Widerstand des Reichskanzlers. Er engte die Wirkungsmöglichkeiten des Kaiserpaares so weit ein, daß die Kaiserin sich zu Recht von einem »Wall der Opposition« umgeben fühlte. Unter anderem verhinderte Bismarck die Heirat zwischen dem Prinzen Alexander von Battenberg und einer Tochter des Kaiserpaares, weil dies die Kreise seiner auswärtigen Politik gestört hätte. Ja, er ging so weit, mit seinem Rücktritt zu drohen, ein Mittel, von dem er auch schon gegenüber Wilhelm I. Gebrauch gemacht hatte, um seinen Willen durchzusetzen. Bismarck empfand besonders die selbstbewußte, für ihre Zeit erstaunlich emanzipierte Kaiserin Victoria als eine Bedrohung. (…) Victoria ihrerseits haßte Bismarck, den sie als Ursache aller politischen Fehlentwicklungen nach 1871 sah. (…) – gefährlich gerade für die Generation ihres ältesten Sohnes, des Prinzen Wilhelm, die sich für den Machtmenschen Bismarck und seinen machiavellistischen Regierungsstil leicht begeistern ließ.“ (21)
Gerade die Tatsache, dass Bismarck in seinen Memoiren ein ganzes (allerdings kurzes) Kapitel Kaiser Friedrich widmete, in dem er nämlich doch ein relativ rosiges Verhältnis zum langjährigen Kronprinzen darzustellen versucht, zeigt doch die Tragweite dieser Problematik. Wenn Bismarck in seinen Lebenserinnerungen (die schon als eine Art Abrechnung betrachtet werden können) in dem Kapitel, das die sog. „Danziger Rede“ des Kronprinzen behandelt (siehe weiter oben), die harmlos klingende Feststellung trifft:
„Alle Behauptungen, daß zwischen dem Kaiser Friedrich und mir dauernde Verstimmungen existiert hätten, sind unbegründet. Eine vorübergehende entstand durch den Vorgang in Danzig (…)“, (22)
Es kann eher vom Gegenteil ausgegangen werden, dass nämlich im Regelfall das Verhältnis zwischen Dauerkanzler Bismarck und dem ewigen Thronfolger distanziert und oft angespannt gewesen ist – aus verschiedenen Gründen. Für Bismarck gab es am Berliner Hof vier Personen aus dem direkten Umfeld Wilhelms I., denen er zutiefst misstraute und besonders liberale Ansichten unterschob: beiden Königinnen und Kaiserinnen, Ehefrau und Schwiegertochter des Monarchen, dem Kronprinzen und einem Schwiegersohn Wilhelms I., dem Großherzog von Baden. Dies wird man – objektiv betrachtet – als beinahe schon krankhafte Obsession Bismarcks bezeichnen können:
Die beiden Frauen, obwohl Schwiegermutter und -tochter, hatten selbst kein besonders inniges Verhältnis untereinander. Der Kronprinz, sicher durch die englischen Einflüsse bestimmten liberalen Ideen zugänglich, war doch durch und durch „preußisch“ erzogen und ein Kriegsheld; der Großherzog von Baden war es sogar, der bei der Kaiserproklamation im Versailler Schloss am 18. Januar 1871 als erster ein „Hoch“ auf den neuen Kaiser, seinen Schwiegervater, ausbrachte.
Bei dieser psychologisch verfahrenen Situation hätte ein gesunder Friedrich III. sicher kaum gezögert, einen derart voreingenommenen und starrsinnigen Reichskanzler zu entlassen und durch einen Mann seiner Wahl zu ersetzen; jedoch diese Zeit und die dazu nötige körperliche Kraft hatte der neue Monarch nicht mehr. Daher auch das extreme Wehklagen seiner Frau, die nach der 99-Tage-Herrschaft ihres Mannes und dem neuerlichen Thronwechsel tief gebrochen war.
Hinzu kam, dass der eigene Sohn, der mit 29 Jahren viel zu früh auf den Thron gelangt war, seine Mutter abgrundtief hasste; Wilhelm II. ließ bereits wenige Stunden nach dem Tod des Vaters sämtliche Räume des vorherigen Kaiserpaares durchsuchen, um die Korrespondenz seiner Mutter vor allem mit seiner Großmutter, Queen Victoria, aufzufinden, weil er Peinliches befürchtete.
Das eigentliche Begräbnis für Kaiser Friedrich III. fand in Potsdam weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, sogar die Witwe nahm an der Beisetzung des Sarges nicht teil; derart zerrüttet waren die Verhältnisse in dieser Familie. Bis zu ihrem Tode lebte Viktoria abgeschieden im hessischen Kronberg und nannte sich fortan „Kaiserin Friedrich“.
VI) Versagen als Vater
Ein Prinz von Preußen kann im Regelfall nicht erwarten, dass er in ein wirklich liebevolles Elternhaus hineingeboren wird. Betrachtet man bloß die Auseinandersetzungen zwischen dem jungen Friedrich II. (später auf einmal „der Große“) und seinem Vater, dem „Soldatenkönig“, in der Zeit um 1730, als der damalige Kronprinz mit unbarmherzigen Erziehungsmethoden diszipliniert wurde, kann man nicht von vorbildlicher Kindererziehung sprechen. Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte zumindest insofern Glück, dass seine Erziehung von erfahrenen Pädagogen vorgenommen wurde, allerdings relativ einseitig. Wenn auch seine Eltern nicht wirklich aus Liebe geheiratet hatten, der spätere Wilhelm I. fand seine Augusta relativ reizlos und hatte eigentlich einen anderen Frauengeschmack, so hatte der Sohn insofern Glück, dass er nicht unter ganz strengem Protokoll stand, da in seiner Kinder- und Jugendzeit noch der Onkel herrschte.
Außerdem war seine Ehe ganz anders geprägt als sonst im steifen Preußen; seine Vicky hatte zuhause im Kreise ihrer Eltern und Geschwister eine geradezu harmonische Kindheit. Unter diesen Voraussetzungen hätten doch eigentlich die insgesamt acht Kinder des Thronfolgerpaares ein perfektes familiäres Umfeld haben können. Doch der frühe Tod zweier Kinder (Sigismund 1866 und Waldemar 1879) brachte nicht nur Kummer für die Eltern, sondern schien auch zu einem Riss innerhalb der Familie geführt zu haben:
„Der Tod der beiden Jungen und die Trauer veränderten und beschädigten die kronprinzliche Familie. Die verlorenen Kinder erlangten einen Grad an Perfektion, den die lebenden niemals erreichen konnten. Wilhelm, Charlotte und Heinrich, die drei Ältesten, wurden aus der Kernfamilie anscheinend zunehmend ausgeschlossen. (…) Friedrich Wilhelms und Victorias Reaktion auf den Verlust Waldemars und Sigismunds trug daher entscheidend zum Scheitern ihrer Beziehung zu ihrem ältesten Sohn bei. Eine gewisse Enttäuschung über Prinz Wilhelm empfanden beide Eltern bereits seit Jahren. Obwohl Victoria großes Interesse an ihrem Erstgeborenen zeigte und sich außerordentlich viel um ihn kümmerte, blieb ihr Verhältnis zu ihm stets gespannt. (…) Gegen Ende der siebziger Jahre begann Wilhelm, der überbordenden Aufmerksamkeit und strengen Bevormundung durch seine Mutter mit einer Mischung aus Nichtbeachtung und herzloser Frechheit zu begegnen. Und Waldemars Tod verschlimmerte die Situation erheblich. Mutter und Sohn verletzten die Gefühle des anderen in einem Maße, dass sie einander bald kaum noch ertragen konnten. Sein Vater hielt Prinz Wilhelm für kaltherzig und gefühllos. (…) Nach mehreren schmerzhaften Unterredungen entschied Friedrich Wilhelm, dass sein Sohn eiskalt und selbstsüchtig sei. Er versprach Victoria, dementsprechend mit ihm zu verfahren. Von da an verlor Friedrich Wilhelm nahezu jede Kontrolle über seinen Sohn. Prinz Wilhelm ging auf Abstand zu seinen Eltern, baute enge Kontakte zur Familie Bismarck auf und nutzte das Zerwürfnis innerhalb der Hohenzollerndynastie geschickt aus, um seinen Eltern jeglichen Einfluss auf ihn zu verweigern.“ (23)
Natürlich waren bereits die Umstände seiner Geburt unglücklich zu nennen, die körperliche Deformation konnte nicht ohne weiteres behoben und nur mühsam verborgen werden. Doch kann dies keine Entschuldigung sein, dass der spätere Wilhelm II. ein besonders schwieriger Mensch geworden ist. (24)
Bereits der junge Preußenprinz hasste seine Mutter, die von zu Hause aus, besonders von ihrer Mutter, der Queen, sehr liebevoll behandelt worden war, so sehr, dass Wilhelm, sogar als sein Vater bereits im Sterben lag, nicht anders konnte, als einen seiner zahlreichen hasserfüllten Kommentare über sie zu verbreiten. Ausgerechnet gegenüber Philipp zu Eulenburg äußerte der Sohn, der wenige Wochen später Kaiser des Deutschen Reiches und preußischer König werden sollte, in einem Brief vom 12. April 1888, dass „das Reich an den Rand des Verderbens gebracht ist durch eine englische Prinzessin, die meine Mutter ist, das ist das allerfurchtbarste!“ (25)
Wenn ein Sohn, besonders aus hochadligem Haus, so über die eigene Mutter herzieht, muss in den 29 Jahren zuvor eine Menge schiefgelaufen sein; das nimmt den Vater natürlich nicht aus.
Interessant ist allerdings, dass z.B. der Friedrich-Biograph Müller eine Reihe von Parallelen zwischen Vater und Sohn entdeckt hat, insbesondere wenn es um die romantische Schwärmerei fürs Mittelalter oder den „Kaisergedanken“ ging; Müller spricht in Bezug auf das Image, das beide pflegen wollten, sogar von „Kontinuität der Generationen“. (26)
Einige der Gründe für die Abneigung Wilhelms II. gegenüber seiner Mutter wurden angedeutet; worin viele der anderen höchst merkwürdigen Charaktereigenschaften des letzten deutschen Kaisers ihre Ursache haben, kann hier nicht vertieft werden. Sicher lag eine gefährliche Mischung aus Minderwertigkeitsgefühlen oder gar -komplexen und einer von dritter Seite geförderten Großmannssucht vor. Zu diesen interessierten Kreisen, die sich meist durch Schmeicheleien die Gunst Wilhelms II. sichern konnten, gehörten selbstsüchtige Karrieristen, bekennende Antisemiten und zunehmend Gegner Bismarcks. Im Übrigen war auch Bismarck selbst – eine der wenigen Gemeinsamkeiten mit Friedrich III. – sehr betrübt über die charakterlichen Schwächen seines letzten Dienstherrn und nannte ihn Ende 1887, ein halbes Jahr bevor dieser Kaiser und preußischer König wurde, einen „Brausekopf“, der jedem Schmeichler zugänglich sei. Allerdings schaffte Wilhelm II. relativ schnell, was seinem Vater nie gelungen war, sich von Bismarcks Allmacht zu befreien.
VII) Deutschlands liberale Hoffnung?
Seit 1871 in der Doppelrolle als „Deutscher Kronprinz und Kronprinz von Preußen“, wurde Friedrich Wilhelm durch die Langlebigkeit seines Vaters und die Dauerherrschaft Bismarcks politisch immer stärker zermürbt. Lediglich nach einem Attentat auf Wilhelm I. führte der Kronprinz 1878 vorübergehend die Regierungsgeschäfte, wurde von Bismarck aber so geschickt ausmanövriert, dass er auf dessen Politik keinerlei Einfluss nehmen konnte. Nach diesem Stellvertretungssemester wurde er schließlich wieder in einen machtlosen Wartestand zurückgestuft. Und als im Frühjahr 1888 endlich der lang herbei gesehnte Thronwechsel erfolgte, war Friedrichs III. Kraft bereits erloschen.
Daher stellt die Frage nach der liberalen Gesinnung oder gar nach dem demokratischen Potential bei Kaiser Friedrich III. ein lediglich theoretisch, vielleicht sogar nur spekulativ zu beantwortendes Szenario dar. Denn selbst wenn er deutlich länger als die 99 Tage in Verantwortung für das Deutsche Reich gestanden hätte, wäre damit nicht automatisch eine komplette Neuausrichtung der politischen und sozialen (gesellschaftlichen) wie ökonomischen Grundwerte bzw. Parameter verbunden gewesen:
„Bei einem vertraulichen Tischgespräch knurrte Bismarck einmal: »Daß Kaiser Friedrichs Liberalismus seiner unglaublichen politischen Schwachköpfigkeit entsprang, muß den Leuten erst noch klar werden.« (…) Gerade weil das Märchen vom liberalen Prinzen wahrlich kein Happy End nahm (…), wurde das Bild, das man sich von ihm gemacht hatte, keineswegs mit ihm zu Grabe getragen. Im Gegenteil: Aus dem Rückblick, betrachtet durch die Brille der desaströsen Herrschaft Wilhelms II., des Ersten Weltkrieges und schließlich des Nationalsozialismus, wurde der ausgebliebene Liberalismus einer neofriderizianischen Ära als umso tragischer und folgenschwerer erachtet.“ (27)
Doch gerade wegen dieser gravierenden Entwicklungen lohnt ein genauerer Blick auf diese oft gehörte „Liberalismus-These“:
„Man hat behauptet, Friedrich Wilhelm sei anders als die meisten deutschen Liberalen an einem vereinten Deutschland in erster Linie deshalb interessiert gewesen, weil es als »Sprungbrett für Preußen und die Hohenzollern zu mehr Macht und Prestige« fungieren sollte. Bis zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1870/71 stützen die verfügbaren Quellen eine solche Interpretation seines deutschen Nationalismus. (…) Preußens Stellung innerhalb Deutschlands war auch das zentrale Anliegen eines umfangreichen Memorandums zur deutschen Politik, das Friedrich Wilhelm im Februar 1862 verfasste, um für eine Invasion des Kurfürstentums Hessen-Kassel (…) zu plädieren.“ (28)
Das klingt nun wirklich nicht nach einem liberalen Musterknaben. Dennoch war es insbesondere sein Schwiegervater, Prinzgemahl der Queen, der große Stücke auf den preußischen Kronprinzen hielt:
„Der Deutsch-Engländer setzte auf die künftigen Herrscher Preußens, die von ihm erzogene Thronerbin und den von ihm beratenen Thronerben. Friedrich Wilhelm schien Alberts Erwartungen erfüllen zu können: »Seine besonders hervorragenden Eigenschaften sind große Geradheit, Offenheit und Ehrenhaftigkeit. Er scheint frei von Vorurteilen und mit ausnehmend trefflichen Absichten.«“ (29)
Diese Prägung hatte Friedrich Wilhelm aber nicht seinen preußischen Wurzeln zu verdanken, sondern dem Einfluss seiner Mutter, die als eine Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach am Hof in Weimar, der damaligen Kulturhauptstadt Europas aufgewachsen und erzogen worden war. Die spätere Königin von Preußen und deutsche Kaiserin atmete den Geist Goethes und Schillers schon als Baby ein; und später in Koblenz hatte sie gar einen liberalen Zirkel um sich versammelt. Dieser mütterliche Einfluss und das Studium der Rechtswissenschaften (damals noch viel breiter angelegt als heute, wo oft nur noch Schmalspurjuristen gefragt sind) in Bonn taten ein Übriges, den Horizont des jungen Friedrich Wilhelm zu erweitern.
Da der Liberalismus als allgemeine politische „Weltanschauung“ (neben dem Konservativismus und dem Sozialismus) gerade in Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Spielarten und Ausprägungen angenommen hatte, was auch die Bandbreite der verschiedenen liberalen Parteien erklärt, konnte daher auch der preußische Kronprinz mutatis mutandis als „Liberaler“ durchgehen; er hatte zumindest unter seinen Vertrauten einen nicht unbeachtlichen Kreis anerkannter Liberaler, die ihn in vielen politischen Fragen berieten. Allerdings waren die treibenden Kräfte hierfür zunächst der Schwiegervater, nach dessen Tod seine Ehefrau, welche die Intention ihres Vaters fortsetzte und Friedrich Wilhelm oft zu als liberal empfundenen Standpunkten drängte und vor allem den Kontakt zu etlichen ausgewiesenen liberalen Persönlichkeiten herstellte. (30)
Misst man Friedrich III. freilich an seinen konkreten Einstellungen und Willensäußerungen, fällt das Resultat doch etwas zwiespältig aus: Von der Danziger Episode 1863 abgesehen, deren Auswirkungen, besonders das äußerst angespannte Verhältnis zu seinem königlichen Vater, er eigentlich eher bereute, gibt es von Friedrich III. kaum eindeutige Bekenntnisse für liberale Vorstellungen. Am wichtigsten dürfte hierbei noch sein, dass sich der damalige Kronprinz Ende der 1870er Jahre offen gegen die gerade in Berlin grassierenden antisemitischen Schmähungen, besonders von intellektuellen Kreisen (Stoecker u.a.) geschürt, gestellt hat: so besuchte er 1879 demonstrativ ein Konzert in einer Berliner Synagoge. (31) Von daher kann man zumindest festhalten, dass Friedrich III. kein Antisemit (im völkisch-rassischen Sinne) gewesen ist (im Gegensatz zu vielen anderen der Berliner Hofgesellschaft), und deshalb auch nicht diese Eigenschaft bei Wilhelm II. hervorgerufen oder gefördert haben konnte; das hat sich der letzte Hohenzollernkaiser alles schön selbst beigebracht!
Aber auf der anderen Seite war Friedrich III. stark antikatholisch eingestellt, nicht nur was den politischen Katholizismus anbelangt, sondern besonders auf den römisch-katholischen Ritus bezogen bzw. die Konfession als solche. Ähnlich war sein Abscheu den Sozialdemokraten gegenüber ausgeprägt; erst in den 1880er Jahren entwickelte der Kronprinz langsam ein Verständnis für die sog. „soziale Frage“ in Deutschland. (32) Wie schon weiter oben festgehalten, schwankte Friedrich III. sehr oft zwischen traditionellen preußischen Einstellungen (so auch beim „Gottesgnadentum“) und eher fortschrittlichen Gedanken. Ob daher tatsächlich die Möglichkeit einer „liberalen Herrschaft“ im Staat und des allmählichen Übergangs zu einem parlamentarischen Regierungssystem eröffnet worden wäre, muss offen bleiben – auch wenn bereits die erzkonservativen Kreise am Berliner Hof von diesen Vorstellungen bzw. Befürchtungen ganz konkret befallen waren und daher nichts unversucht ließen, den Kronprinzen, aber noch mehr seine Ehefrau zu diskreditieren.
Ein wirklich liberal-demokratisch eingestellter Kaiser (zumal aus dem Hause Hohenzollern) hätte sehr viele Hindernisse aus dem Weg räumen müssen. Neben scharfen Konflikten mit vielen hochgestellten Persönlichkeiten im Kaiserreich, wären auch signifikante strukturelle Gegensätze zu überwinden gewesen; einige dieser das Kaiserreich besonders prägenden Strukturmerkmale sollen in einem separaten Beitrag behandelt werden.
VIII) Resümee
Friedrich III. stand nicht nur zeitlich zwischen dem „Altpreußen“ Wilhelm I. und dem „Neudeutschen“ Wilhelm II. (Franz Herre). Nicht zuletzt wegen seiner militärischen Leistungen 1866 und 1870 (auf die Tugend folgt der Ruhm wie ein Schatten, hatte bereits Cicero festgestellt), war Friedrich III. zumindest bei seinen Preußen, nicht nur bei den Soldaten, doch recht populär. Selbst bei süddeutschen Truppen war er angesehen und beliebt.
Wenn es zutrifft, dass sein früher Tod einer ganzen Generation (den 1830/40 Geborenen) ihre historische Stunde geraubt, also um entscheidende Mitwirkung bei den wirklich bedeutsamen politischen Fragen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (oder sogar des beginnenden 20. Jahrhunderts) gebracht habe, stellt sich schon die Frage nach (nicht bloß theoretischen) Alternativverläufen in der deutschen Geschichte. Auch der Friedrich-Biograph Müller hat diese „kontrafaktischen“ Erwägungen angestellt. (33) Dabei geht er zunächst von einem Vergleich zwischen Vater und Sohn aus:
„Da es zwischen den beiden Männern erhebliche Unterschiede im Charakter und in den politischen Ansichten gab, war Kaiser Friedrichs früher Tod gewiss nicht folgenlos. Das Argument, Deutschland hätte unter ihm einen anderen Weg eingeschlagen als den von seinem Sohn beschrittenen, lässt sich am überzeugendsten am Beispiel der Außenpolitik illustrieren. Es scheint beinahe unvorstellbar, dass Kaiser Friedrich und Kaiserin Victoria eine Politik der Flottenexpansion und des Kolonialerwerbs verfolgt hätten, von der man wusste, dass sie Großbritannien gegen Deutschland aufbringen würde. Und wären die verhängnisvollen rhetorischen Beiträge Wilhelms II. zu den diplomatischen Bemühungen des Reiches unterblieben – oder zumindest später erfolgt – wäre dies dem internationalen Ansehen des Landes höchstwahrscheinlich auch zugutegekommen. Die Stroßrichtung des kontrafaktischen Arguments geht allerdings über die bloße Feststellung hinaus, dass eine Reihe schwerer Fehler vermieden worden wäre, wenn Friedrich länger und Wilhelm später regiert hätte. In seiner entschiedensten Ausprägung geht damit vielmehr die Unterstellung einher, Friedrichs Herrschaft wäre in eine tiefgreifende liberale Neugründung des Reiches gemündet. (…) Solche Urteile halten indes einer genaueren Prüfung nicht stand.“
Versucht man trotzdem, in Bezug auf die gesamte Persönlichkeit Friedrichs III. der „Was-wäre-wenn-Frage“ nachzugehen, sollte dabei auch nicht bei seinem Todesjahr 1888 angesetzt werden, dies wäre viel zu kurz gegriffen. Die wirklich spannende Zeit für einen fundamental verschiedenen Verlauf in der preußisch-deutschen Geschichte war im September 1862, als Wilhelm I. tatsächlich an Rücktritt, also Thronverzicht zu Gunsten des Kronprinzen gedacht hatte und dieser eigentlich nur zuzugreifen brauchte.
Wäre die Thronfolge damals eingetreten, hätte ein preußischer König Friedrich III. nicht einmal die begonnene Heeresreform, Grund und Auslöser des damaligen Verfassungskonflikts, stoppen oder gar rückgängig machen müssen; er hätte nur mit den kritischen Stimmen im preußischen Landtag nach einem Kompromiss suchen müssen – völlig unmöglich war dies sicher nicht. Der Grund für das Scheitern des betreffenden Gesetzgebungsverfahrens im Landtag lag ja in der sturen und schon arrogant zu nennenden Haltung Wilhelms I. und seiner erzkonservativen Umgebung.
Bismarck selbst hatte ja auch keinen konstruktiven Plan, der Opposition argumentativ zu begegnen; im Grunde brauchte er den alten König nur zu überzeugen, dass er ihn in seiner Dickköpfigkeit und seinem Starrsinn dem Parlament gegenüber unterstützen und die Kastanien aus dem Feuer holen würde.
Ein König Friedrich III. hätte – allein schon weil seine Mutter und die eigene Ehefrau ihm dabei den Rücken gestärkt hätten – als wichtigsten Schritt für echte Alternativen nur auf die Ernennung Bismarcks zum Ministerpräsidenten verzichten brauchen, was ihm auch persönlich nicht schwergefallen wäre. Bei einem derartigen Szenario kann sogar davon ausgegangen werden, dass 1863/64 der Konflikt zwischen Dänemark und dem Deutschen Bund in der Schleswig-Holstein-Frage genauso eskaliert wäre, wie unter dem Ministerpräsidenten Otto v. Bismarck. Wie im vorherigen Beitrag ausführlich dargestellt, waren die tieferen Ursachen für diese Auseinandersetzung völlig unabhängig davon, wer in Preußen König oder Regierungschef gewesen ist. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass auch unter einem König Friedrich III. der Kriegsverlauf 1864 sich kein bisschen anders gestaltet hätte (außer es wären auf einmal ganz andere Akteure auf den Plan getreten, wofür es bei der damaligen „Großwetterlage“ keinen Anhaltspunkt gibt).
Dann wäre auch der Streit um die Verwaltung des Kondominiums in Schleswig und Holstein ähnlich ausgefallen, selbst wenn unterstellt wird, dass ein Friedrich III. die Ansprüche des Hauses „Sonderburg-Augustenburg“ auf den Herzogtitel wohlwollender betrachtet hätte. Zumindest wäre auch ein König Friedrich III. 1866 (oder in den Folgejahren) einer Auseinandersetzung mit Österreich nicht unbedingt aus dem Weg gegangen, da er ebenfalls auf eine kleindeutsche Lösung beim damaligen „Dualismus“ zwischen Preußen und Österreich zur Zeit des Deutschen Bund gesetzt hat (und als ausgebildeter Soldat Preußens nichts gegen Säbelrasseln hatte). Unterstützer der damaligen Politik hat es in Preußen auch unabhängig von der Person Bismarcks genug gegeben. (34)
Dann wäre auch – zumindest in ähnlicher Form – ein „Norddeutscher Bund“ entstanden, der sowohl als Ausgangspunkt für die weitere Einigung innerhalb Deutschlands (natürlich unter Ausschluss Österreichs) als auch für den „Kaisertitel“ gedient hätte.
Der wirklich große Unterschied wäre dann 1870/71 zu beobachten gewesen: Man wird es als ausgeschlossen bezeichnen können, dass unter einem (gesunden) preußischen König Friedrich III. sich ein Ministerpräsident wie Bismarck einen Taschenspielertrick mit der „Emser Depeche“ hätte erlauben können. Ohne diese fadenscheinige Provokation kein (ebenfalls lächerlich) konstruierter Kriegsgrund für Frankreich; Napoleon III. wäre ja völlig irrsinnig gewesen, ohne jedes halbwegs nachvollziehbare Motiv gegen Preußen und seine Verbündeten in den Krieg zu ziehen, zumal er mit britischer Unterstützung für den Schwiegersohn der Queen hätte rechnen müssen (wenn es nur eine der berühmten Seeblockaden gewesen wäre).
Insoweit wäre also tatsächlich eine entscheidende Abweichung im geschichtlichen Verlauf des europäischen Kontinents zu verzeichnen gewesen. Zumal dies aber trotzdem nicht die „Reichsgründung“ (auch wenn zu einem anderen Zeitpunkt) hätte verhindern müssen, da die „Zeichen der Zeit“ diesen Weg gleichsam vorbestimmten.
Und mit den Briten wären – ohnehin überflüssige – Streitereien und Konkurrenzkämpfe leicht zu vermeiden gewesen: Ob beim Flottenbau, der „Bagdadbahn“ oder in Fragen der Kolonialpolitik, all die Anlässe für tiefgreifende Zerwürfnisse zwischen Deutschland und England ab Ende des 19. Jahrhunderts wären entweder nicht entstanden oder schnell ausgeräumt worden, wenn in Berlin und London Schwiegermutter und -sohn jeweils auf dem Thron gesessen hätten. Wenigstens solange kein Anlass entstanden wäre, wodurch das von den Briten seit Generationen verfolgte Ziel vom „Gleichgewicht der Kräfte“ in Europa wirklich empfindlich gestört worden wäre.
Dies ist bekanntlich alles in eine ganz andere Richtung verlaufen. Aber bestimmte Potentiale waren beim 99-Tage-Kaiser (vor allem im Zusammenspiel mit seiner britischen Ehefrau) sicher vorhanden. Ein König bzw. Kaiser Friedrich III., der deutlich länger gelebt und als Staatsoberhaupt fungiert hätte, dem wäre daher durchaus zuzutrauen gewesen, an wichtigen Punkten die „Weichen der Politik“ neu zu stellen, so dass mit viel Glück, das dem Deutschen Reich und damit auch dem Kontinent bedauerlicherweise nicht vergönnt war, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu verhindern gewesen wäre: Denn schließlich haben im Juli 1914 etliche Akteure keine wirklich gute Figur abgegeben, was die späteren Siegermächte gerne außer Acht gelassen haben und 1919 allein den letzten Kaiser wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage stellen wollten, so Art. 227 Abs. 1 des Versailler Vertrages. Ob insbesondere die Vertreter der englischen Krone, die an den Verhandlungen auf der Friedenskonferenz in Versailles teilgenommen haben, die Delegation um Premierminister Lloyd George war ja recht prominent bestückt, auch einmal an den ehemaligen Schwiegersohn von Queen Victoria gedacht haben, entzieht sich hier der Kenntnis.
Doch die besten „alternativen Handlungsmöglichkeiten“ (vor allem im direkten Vergleich zwischen einem hoch gelobten Vater und einem sich dilettantisch aufführenden Sohn) nützen nichts, wenn die „echte“ Geschichte völlig konträr verläuft.
Stattdessen wurde „unser Fritz“, wie er in der Koseform von weiten Teilen der Bevölkerung genannt wurde, nach seinem Tod zu einer Art Kunstfigur mit Heiligenschein stilisiert. Auf vielen Porträts und Zeichnungen erscheint er – bewusst dem Bild von Barbarossa angelehnt – immer etwas entrückt, aber mit großer Würde, als wolle er mit väterlichem Blick auf sein Volk schauen. (35)
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Herre, S. 80.
2) Herre, S. 81 u. 82 oben (der „Koblenzer Kreis“ bezieht sich auf eine Anzahl liberaler Persönlichkeiten, die sich Anfang/Mitte der 1850er Jahre, als sich dort die spätere preußische Königin Augusta, Mutter Friedrichs III., aufhielt, um diese versammelt hatten).
3) Siehe bei Herre, S. 11.
4) Vgl. Winkler, S. 257; und die Einleitung bei Müller, S. 9 f.
5) Die Fragen nach Alternativen, wenigstens in Nuancen, beschäftigt historische wie politische Wissenschaften seit alters her. Mit Bezug auf die „Reichsgründung“ und die katastrophalen Entwicklungen 1914 – 1945 kann es eigentlich gar nicht genug „Nachdenken“, „Erinnern“ oder wenigstens „Betrachten“ (z.B. im Geschichtsunterricht) geben. Ganz unabhängig von den Theorien der Fachwissenschaftler zum „deutschen Sonderweg“. Es waren nämlich nicht nur zwölf Jahre, die betrachtet werden müssen, und diese sind erst recht kein „Vogelschiss“.
6) Steinberg, 599. Diese „Was-wäre-wenn-Frage“ (unabhängig von der Wissenschaftlichkeit der Fragestellung und Methodik) erfreut sich in nahezu allen Darstellungen, die diese Epoche behandeln, ungebrochener Beliebtheit; die beiden hier benutzten Friedrich-Biographien von Franz Herre (aus 1987) und Franz Lorenz Müller (engl. Erstausgabe 2011) bilden keine Ausnahme.
7) Im Rahmen des Beitrags zu Bismarck wurde ausführlich der „Verfassungskonflikt“ ab 1862 beschrieben. Da es sich um eine höchst ungewisse Zeit gehandelt hat, wurde damals auch über einen „freiwilligen“ Rückzug Wilhelms I. spekuliert und zwar zugunsten des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Realistisch waren diese Mutmaßungen bzw. Hoffnungen zumindest im Ergebnis nicht wirklich, siehe weiter unten im Text.
8) Herre, S. 92.
9) Herre, S. 90f.
10) Ders., S. 84.
11) Im Überblick bei Gall, S. 242 – 244, zum Zitat S. 243. Zu den Ereignissen im September 1862 s. auch Müller, S. 34 f.
12) Müller, S. 71.
13) Vgl. Herre, S. 106 f. (Zitate auf S. 107).
14) Zur „Danziger Episode“ im Überblick: Müller, S. 36 ff. Siehe auch Bismarcks „Presseordonanz“: https://de.wikipedia.org/wiki/Pressordonanz
15) Zitate bei Müller, S. 123.
16) Vgl. Müller, S. 123 ff. (zu den „Kaiserplänen“ und den „romantischen“ Vorstellungen des Kronprinzen).
17) Ullrich, S. 108.
18) Dietrich, S. 230f.
19) Bismarck, S. 126.
20) Dito, S. 127.
21) Ullrich, S. 108f.
22) Bismarck, S. 242.
23) im Überblick: Müller, S. 58 – 60.
24) Zum letzten Kaiser: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/wilhelm-ii/ Außerdem gibt es jede Menge an Fachliteratur über ihn.
25) Zitiert nach Steinberg, S. 604.
26) Müller, S. 362 – 365.
27) Müller, S. 89.
28) Müller, S. 122.
29) Herre, S. 71.
30) Müller, S. 99 ff.
31) Vgl. Müller, S. 105.
32) Im Überblick bei Müller, S. 107 – 111.
33) Ders., S. 365 ff.
34) Anderer Ansicht über Friedrichs Einstellung gegenüber Österreich im Sommer 1866 scheint Müller zu sein, vgl. oben Anmerkung 15. Jedoch gibt der Autor keinen Hinweis auf Belege, die eine solche Haltung des Kronprinzen verifizierten. Zumal er ja nach dem fulminanten Sieg über die Habsburger gar nicht schnell genug die Annexionen nördlich des Mains vorantreiben konnte. Die maßvolle Behandlung Österreichs, besonders der Verzicht auf eine Siegesparade in Wien, ist kein durchschlagendes Argument für Müllers These.
35) Siehe z.B. die Umschlagsentwürfe der Biographien von Herre und Müller.
Literatur
Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen, als Taschenbuch 1962 beim Goldmann Verlag München erschienen.
Dietrich, Richard: Kleine Geschichte Preußens, Berlin 1966.
Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M. u.a. 1980.
Herre, Franz: Kaiser Friedrich III. Deutschlands liberale Hoffnung, Stuttgart 1987.
Müller, Frank Lorenz: Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos, dt. Ausgabe München 2013 (engl. Original von 2011).
Steinberg, Jonathan: Bismarck. Magier der Macht, dt. Ausgabe Berlin 2012.
Ullrich, Volker: Die nervöse Grossmacht 1871 – 1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt/M. 2013 (erweiterte Neuausgabe).
Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000.