Birkmeyer, Jens / Kliewer, Annette (Hrsg.): Holocaust im Deutschunterricht. Modelle für die Sekundarstufe I, Baltmannsweiler 2010.
Unterricht zu Nationalsozialismus und Holocaust muss sich heute auf neu hinzugekommene Problemstellungen einlassen: Zeitzeugen können nicht mehr befragt werden, Familiengeschichte reißt ab, Kinder aus muslimischen oder anderen Migrantenfamilien sind ohne Bezug zur Thematik oder leisten Widerstand gegen sie. Die Unverzichtbarkeit der Thematik bleibt bestehen. Diese Fragen werden im Einführungsartikel sehr klar erörtert.
Losgelöst vom unmittelbaren persönlichen Bezug kann eine neue Form von Erinnerung, ein kulturelles Gedächtnis, entstehen, das von Literatur geprägt sein wird. Dazu ist es nötig, literarische (vorwiegend nicht-biographische) Texte als Quelle der Erinnerung und als Anregung zu Selbstreflexion und Diskurs lesen zu lernen.
Die in diesem Sammelband besprochenen Texte, von den AutorInnen als Klassenlektüre in Abstufung für die 6. – 10. Schulstufe vorgeschlagen, sind durchwegs neue (erschienen 1997 – 2007) und für Unterrichtende selbst auf jeden Fall lohnende, empfehlenswerte Romane und einzelne andere Medien. Jeder Beitrag bietet den jeweiligen theoretischen Hintergrund für die Befassung mit dem Thema, dann folgen Inhaltsüberblick und didaktische Vorschläge für eine Unterrichtsreihe.
Die thematische und formale Unterschiedlichkeit der vorgestellten Texte, auch die Varianten in der Zielsetzung der vorgeschlagenen Unterrichtsmodelle bieten den LehrerInnen gute Wahlmöglichkeiten für die eigene Schwerpunktsetzung. Zugleich entspricht diese Unterschiedlichkeit der Idee von Birkmeyer / Kliewer, ein Curriculum zur „Erziehung nach Auschwitz“ zu entwerfen.
Der Roman Die Kinder aus Theresienstadt (Kathy Kacer) führt vom bürgerlich-geordneten Leben in das Entsetzen der Vorhölle Theresienstadt, wo die 13jährige Clara lebt und als eines der wenigen Kinder überlebt.
Die Erzählung von Irene Dische Zwischen zwei Scheiben Glück lässt die jugendlichen LeserInnen ahnen, was Vertreibung und Verfolgung heißt: Ohne dass Peter, gerade 10 Jahre alt, es versteht, warum sein heißgeliebter Vater ihn 1938 zuerst von Budapest nach Berlin holt und ihn nach ein paar Monaten wieder zurück zum Großvater schickt, wird der Junge zum Objekt und Opfer der politischen Ereignisse.
Zu dem seit seinem Erscheinen sehr kontrovers diskutierten Buch von John Boyne Der Junge im gestreiften Pyjama macht die Autorin von vorneherein klar, dass der Text als Fabel (so lautet auch der Untertitel) zu lesen ist: Der 9jährige Bruno, Sohn eines KZ-Kommandanten, sieht mit völlig naivem Blick weit hinter dem Zaun um das Wohnhaus Menschen in „gestreiften Pyjamas“. Er erzählt in seiner Sprache des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens, wie er mit einem Jungen hinter dem Zaun Kontakt aufnimmt und wie er die Welt diesseits, in der Villa und in der Obhut seiner Familie, ebenso unwissend, erlebt.
Der Roman von Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders, eine Montage aus Reflexion, Kindheitserinnerungen, Tagebucheintragungen, Recherchen, die immer näher an die Rolle des Vaters und des Bruders im NS-Regime führen, passt meiner Einschätzung nach eher in Band 2 (Modelle für die Sekundarstufe II), sowohl der Text als auch die Arbeitsvorschläge überfordern die Lesekompetenz und das Interesse von 15/16jährigen.
Zwei Beiträge befassen sich nicht mit Romanen: Die Suche (Anne Frank Stichting, Hg.) ist ein Comic-Buch und erzählt die Geschichte einer Frau, die den Holocaust überlebt hat und sich im Alter mit Sohn und Enkel auf die Suche nach ihren Helfern, den holländischen Versteck-Gebern, und nach dem Schicksal ihrer Eltern macht.
Der Unterrichtsvorschlag „Nationalsozialistische Geschichtsdeutung und jugendkulturelle Angebote: Vergessene Erinnerung oder Geschichtsklitterung?“ befasst sich mit der Instrumentalisierung germanischer Mythen als Hintergrund von Rassenideologie und stellt eine Verbindung zu Videospielen her, die das Denken in Heldenmythen neu beleben.
Der letztgenannte Beitrag hat die Absicht, Denkformen des Nationalsozialismus in den Bezugsrahmen zu stellen, in dem sich Jugendliche heute bewegen, denn nur durch diesen Bezug kann Gedächtnis (Selbstreflexion) statt beliebigen historischen Sachwissens entstehen. Das beigefügte Arbeitsmaterial ist zudem sehr gut geeignet zu anspruchsvoller Eigentätigkeit der SchülerInnen.
Wo Wortsprache nicht ausreicht oder nicht hingelangt, können Bilder, Gesten, Farben ein Empfinden ausdrücken. Die Suche erlaubt den bildgewohnten Jugendlichen einen neuen, sehr direkten Zugang zum Thema, eigenes Gestalten von Zeichnungen, kurzen Texten, Szenen mit veränderten Handlungsmöglichkeiten wird angeregt, ein Gespräch über die Darstellbarkeit des Holocaust in der bildenden Kunst liegt nahe.
Wie Sprache Wirklichkeit herstellt, können Jugendliche in dem Unterrichtsvorschlag zu Zwischen zwei Scheiben Glück erlesen und erfahren. Neben einer sorgfältig langsamen Vorgangsweise zum Verstehen des Handlungsablaufs – der Unterricht ist konzipiert für leseschwächere Kinder, der Roman eignet sich aber keineswegs nur für diese – läuft als durchgehendes Interesse die Frage nach der Benennung: Peter kann mit der Idee des Vaters, er sei „in einem Laden für rothaarige Kinder“ gekauft worden, leben und fragt nicht nach der Mutter; „Wettermeldungen“ sind die einzig mögliche Form, im Brief nach Ungarn über die Reichspogromnacht zu berichten; das gegenseitige Erzählen von glücklichen (auch nicht stattgefundenen) Ereignissen in den Briefen zwischen Vater und Sohn lässt die Erfahrung von Glück entstehen, sogar als der Vater nicht mehr lebt.
Sehr konsequent im Sinne der Einleitung zu dem Sammelband sind die Unterrichtsvorschläge von A. Kliewer zu Der Junge im gestreiften Pyjama. Schritt für Schritt lernen die SchülerInnen literarisches Lesen, bis zu der (möglichen) Eigenerfahrung, dass das Grauen weder darstellbar noch verstehbar ist; dass es, als Subtext, im Kopf der Lesenden selbst entsteht und dass – ganz im Sinne einer Fabel – Brunos „naiver“ Blick und seine Fähigkeit zur Umdeutung dem Nicht-sehen-Können und dem Nicht-sehen-Wollen vieler Erwachsener entspricht. Die Frage „Und wir?“ muss hier nicht didaktisch geplant werden, sie kann in den Lesenden von selbst entstehen.
Auf drei Gefahrenpunkte, die mir typisch für die Arbeit mit Holocaust-Literatur scheinen, möchte ich hinweisen, denn einige der Unterrichtsmodelle sind nicht frei davon: Die Unterscheidung (und sogar tabellarische Auflistung) von „Fiktion – Realität“ widerspricht literarischem Lesen. Gerade junge LeserInnen neigen dazu, historische Daten als das Eigentliche / das Wesentliche aufzunehmen. Diese Daten sind notwendig, aber von sich aus bedeutungslos. Literatur z.B. (oder Geschichtsschreibung u.a.) schreibt ihnen Bedeutung zu, und zwar im Sinn einer Interpretation: Literatur lesend formt der Leser sein Bild, seine Vorstellung, sein Verständnis von Realität.
Eine Identifikation mit den Opfern, direkt oder ansatzweise vorgeschlagen (wenn auch in älterer Didaktik durchaus üblich), ist nicht möglich; auch der Respekt vor den im KZ gequälten Menschen und die Maßlosigkeit des Leidens setzen hier eine Grenze. Kein Mädchen oder kein Junge kann den Abschiedsbrief eines Mädchens verfassen, das in ein Todeslager abtransportiert wird (ein Arbeitsauftrag zu Die Kinder in Theresienstadt).
Die Überfrachtung der Arbeit mit allgemeinen Lernzielen des Deutschunterrichts (Übung des richtigen Gebrauchs der Tempusformen beim Schreiben von persönlichen Texten, „piktorale Lesefähigkeit“ erwerben, das Erkennen literarischer Textsorten üben) kann von der Hauptaufgabe des Lesens von Literatur zu NS-Zeit und Holocaust ablenken:
Es geht um eine allmähliche Verankerung des kulturellen Gedächtnisses in den jungen Menschen der „vierten Generation“. Im Unterschied zu historischen Kenntnissen ist Erinnerung immer personal, entsteht in der Reflexion, erfordert Standpunkte. Literarisches Lesen ist persönlich bedeutsames Lesen. Der Band lädt dazu ein.
Autorin: Christine Czuma (Salzburg)
Birkmeyer, Jens / Kliewer, Annette (Hrsg.): Holocaust im Deutschunterricht: Modelle für die Sekundarstufe I, Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2010 (13.- Euro)