Wissenschaftliche Vordenker nationalsozialistischer Weltherrschaftspläne.
Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen von Ingo Haar und Michael Fahlbusch.
Angeregt wurde dieses umfangreiche Handwörterbuch auf dem 42. Historikertag 1998. Denn erstmals ging vor größerer Fachöffentlichkeit die Zunft der Frage nach, wieweit nachweislich die deutsche Geschichtswissenschaft mit dem NS-Regime verflochten war und ihr Wandel nach 1945 zu bewerten ist. Um die völkischen Wissenschaften in ihr zeitgeschichtliches Umfeld einordnen zu können, sollte das Nachschlagewerk den Zeitraum zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und um 1960 umfassen. Die Initiative begann mit dem call for papers in H-Soz-u-Kult, dem mehrere Tagungen und selbständige Publikationen über Teilaspekte folgten. Für alle 85 beteiligten Autorinnen und Autoren einen tragfähigen Ansatz zu finden, diese schließlich zusammenzuführen und koordinieren, gelang in bewundernswerter Weise.
Die völkische Bewegung war parteiübergreifend und wurde in verschiedenen sozialen Milieus gepflegt. Nach 1945 erfolgte durch die Westbindung der jungen BRD und der Sowjetisierung der DDR kulturell wie politisch ihre schrittweise Marginalisierung. Im Rückblick: „Alles ‚Bürgerliche’ der Bundesrepublik Deutschland auf liberale oder nationalliberale Traditionen zurückzuführen, dagegen nationalistischen Verengungen und antisemitischen Dispositionen, die Kriegsbegeisterung und Streben nach Weltgeltung“ (S. 8), nicht zu thematisieren, war ein Bestandteil der Vergangenheitspolitik. So erschien im Allgemeinen die Wissenschaft immun gegen den völkischen Irrationalismus. Dem widersprach allerdings die Tatsache, dass einige NS-Aktivisten ihre sozialdarwinistischen Vorstellungen an oft außeruniversitären Instituten in andere Hüllen verpackten. „Die meisten deutschen Neuzeithistoriker haben es geschickt umgangen, das völkische Ideologem zu definieren und zu erschließen“ (S. 13), schlussfolgert Paul Weinling in seiner kenntnisreichen Einleitung. Treffsicher stellt er fest, dass es die frühere Konstruktion der Nationswerdung exakt in ihr Gegenteil verkehre.
In apologetischer Sichtweise wurde argumentiert, dass „ordentliches“ Verwaltungshandeln im NS-Regime nicht möglich gewesen sei, der Holocaust – ohne Verwaltungseliten – Resultat „kumulativer Radikalisierung“ war, „anonymen Strukturen“ folgte und diese „polykratische“ Diktatur sich nicht zu zweckrationalem Handeln fähig zeigte. Der Blick ist jedoch viel weiter zurück zu richten. Im 19. Jahrhundert erlangte die deutsche Forschung in der Historiographie, Philologie, den Naturwissenschaften und der Medizin Weltbedeutung. Zentrale Begriffe wie „Volk“ und „Rasse“ fanden Eingang in wissenschaftliche Abhandlungen oder die Publizistik. Erreicht wurden von den anfangs wenig beachteten Äußerungen nicht nur die verschiedenen soziale Schichten des Deutschen Kaiserreiches, sondern auch die Auslandsdeutschen in den Kolonien oder alten (Russland; Siebenbürgen) und neuen (Argentinien, Chile oder Vereinigte Staaten von Amerika) Auswanderergebieten. Einen Überblick über die nationalsozialistischen Kriegsziele, die gewaltsame Germanisierung eroberter Gebiete sowie die ins Auge gefassten unrealistisch-gigantischen Bevölkerungsverschiebungen für die „Neuordnung Europas“ sind immer wieder überarbeitet und umfassend im „Generalplan Ost“, dokumentiert. Stets wurde die Konfrontation mit fremden kulturellen Werten als „schleichende Gefahr“ dargestellt.
Erste Vorschläge über das Vorhaben lagen im Frühjahr 1940 Heinrich Himmler, in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, vor. Der studierte und promovierte Landwirt Konrad Meyer (1901 bis 1973) zeichnete für den Entwurf mit fest umrissenen Konturen verantwortlich. Der Plan sollte die alten Nationalitätenverhältnisse in Osteuropa radikal verändern. Innerhalb von höchstens 30 Jahren sollten von den 45 Millionen hier beheimateten Einwohnern 31 Millionen umgesiedelt werden, die restlichen Slawen zur Zwangsarbeit, vor allem in der Landwirtschaft, bei den etwa 10 Millionen „germanischen“ (oder als solche anerkannten) Neu-Siedlern eingesetzt werden. Geplante „Reichsmarken“ und „Stützpunkte“ unterstrichen den legendären Wehrbauerncharakter. Als die Wehrmacht nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad schrittweise das eroberte Terrain ab Frühjahr 1943 dem militärischen Gegner preisgeben musste, gerieten westeuropäische besetzte Regionen (Frankreich, Benelux-Staaten) in die nunmehr als „Generalsiedlungsplan“ titulierte Bevölkerungsumstrukturierung in die Entwürfe. Tag um Tag schwanden die praktischen Möglichkeiten der realen Umsetzung. Bis Mitte 1944 liefen noch Planungsarbeiten, die danach endgültig eingestellt wurden.
Lange Zeit gerieten diese Ausarbeitungen nicht ins Blickfeld historischer Einordnung, da laut Urteil des Militärgerichtshofs in Nürnberg der utopische Plan als einer ohne jegliche reale Verwirklichungschance galt. Erste Auseinandersetzungen mit dem Thema erfolgten erst zu Beginn der 1980er Jahre [1] und fanden ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung Madajczyks [2].
Die nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt einsetzenden Volkstums- und Ostforschungen flossen definitiv ihre Integration in die nationalsozialistische politische Konzeption. Götz Aly/ Susanne Heim: „Der Generalplan gehörte in den Kontext der Politik der ‚Endlösungen’. (…) Auch wenn der Generalplan Ost nur in Ansätzen verwirklicht wurde, so gibt es dennoch keinen Anlass zu glauben, dass dieses scheinbar so wahnwitzige Projekt im Falle eines deutschen Sieges an seiner Gigantomanie gescheitert wäre“[3] (S. 188).
„Chefplaner“ des Vorhabens war der in den Bereichen Agrar- und Raumforschung führend beteiligte, überzeugte und karriereorientierte Universitätsprofessor Konrad Meyer. Bereits in der Konstituierungsphase nach der Machtübertragung an Hitler als Reichskanzler nutze der „Parteigenosse“ frühzeitig seine Beziehungen zur Koordinierung und politischen Ausrichtung der Disziplinen in reichsweite Forschungsverbünde.
Schon vor 1933, nach der Habilitation über die Dürreresistenz des Hafers, erhielt Meyer die venia legendi für das Sachgebiet „landwirtschaftlicher Pflanzenbau“. Rührig und immer erfolgreich gewillt, Kontrahenten vorzeitig auszuschalten, gelang Meyer eine selbst in dieser Zeit eher ungewöhnliche Ämterhäufung in der Agrarwissenschaft, welche er selbst auf internationalen Parkett zu vertreten wusste. 1944 zur Waffen-SS einberufen und zum Offizier ausgebildet, geriet Meyer während des Kriegsendes in amerikanische Gefangenschaft.
1947 im achten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess angeklagt, gelang es ihm erfolgreich mit seiner Verteidigungsstrategie, den Generalplan „als rein wissenschaftlich-theoretische Studie darzustellen, die allein zum Ziel gehabt habe, über eine genaue Kostenkalkulation vor Utopien in der Siedlungsplanung zu warnen“ (S. 421). Da Meyer die Untersuchungshaft auf die Gefängnisstrafe angerechnet wurde, verließ er nach dem Schuldspruch den Gerichtssaal als freier Mann. Anfangs in einem Pflanzenzuchtbetrieb tätig, gelang ihm 1956 der berufliche Wiedereinstieg, indem Konrad Meyer zum Professor für Landbau und Landesplanung an die Universität Hannover berufen wurde. Er publizierte ein Überblickswerk zu Grundlagen der Raumordnung im ländlichen Raum (1964), übernahm die Gesamtredaktion des dreibändigen Handwörterbuches für Raumforschung und Raumordnung (1966) und beteiligte sich privat an Festschriften.
Adressaten dieser Würdigungsschriften dürften auch Kollegen gewesen sein, welche Meyer vom Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften, gleichfalls als Gemeinschaftswerk oder Aktion Ritterbusch benannt, bekannt gewesen sein dürften. „Namhafte Wissenschaftler aus Universitäten und Forschungseinrichtungen sollten unbeschadet ihrer akademischen Position in einer Art geistigen Feldzug den Westmächten Frankreich und Großbritannien, später auch den USA, die Überlegenheit des deutschen Geistes demonstrieren und dadurch an einer ‚Dritten Front’ (die beiden anderen waren die militärische und die ökonomisch-technische) eine intellektuelle Niederlage bereiten“ (S. 338). Hinzugezogen für das Vorhaben und auf Tagungen für die Aufgabe vorbereitet wurden Altertumswissenschaftler, Historiker, Juristen, Kunstwissenschaftler, Philologen, …. Gewünscht sind Monographien, Sammelbände und Aufsätze. Etwa 1.000 in- und ausländische Gelehrte nahmen am von Paul Ritterbusch (1900 bis 1945; Rektor der Universität Kiel), initiierten Projekt teil. Der Jurist konnte auf den Ertrag stolz sein. Zwischen 1941 und 1944 erschienen 67 Bücher, davon 43 Monographien und 24 Sammelbände mit 299 Beiträgen von über 300 Autoren. Mit eigenem Signet versehen, war die Auflagenhöhe mit 2.000 bis 8.000 Exemplaren für wissenschaftliche Publikationen relativ hoch. Wobei einschränkend anzumerken ist, dass Exemplare an NS-Einrichtungen verschenkt worden sind. Im Nachhinein erwiesen sich die Veröffentlichungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im nationalsozialistischen Anspruch als harmlos.
In den Vordergrund rückt das Handbuch das Mitwirken von Wissenschaftlern verschiedenen akademisch-intellektuellen Niveaus dort, „wo staatliche Akteure in Arbeitsteilung mit Sozial- und Kulturwissenschaftlern den Interventionsstaat nutzten, um aktive Gesellschaftspolitik zu betreiben“ (S. 9). Um die weitreichende Verflechtung von Wissenschaft und Politik kenntlich zu machen, rekonstruiert es Netzwerkverbildungen, die für manchen sozialen Aufstieg in Akademikerkreise vor und nach den Systemwechseln1933 sowie 1945 waren. Deshalb bilden Biographien, mit Querverweisen zu Institutionen und Begriffen, einen der wesentlichen Schwerpunkte des Nachschlagewerkes. Alphabetisch nach Personen und Begriffen geordnet, kann inhaltlich nachvollzogen werden, wie NS-Wissenschaftler Themenfelder konstruierten, Anlässe zu Institutsgründungen fanden oder „hilfsweise“ in Stiftungen wirkten. Das Werk beschließt ein umfangreichen Personen- und Sachregister. Weiterführende Literaturhinweise sind in den Fußnoten des jeweiligen Stichwortes untergebracht und erleichtern damit die Handhabung.
Ursprünglich waren für das Handbuch180 Artikel geplant. 140 sind realisiert worden. Es ist zu wünschen, dass die Lücken in einer Nachauflage geschlossen werden. So fehlen bis auf den heutigen Tag Studien über das kulturelle Leben deutscher Bevölkerungsgruppen im Sudetenland, Siebenbürgen und Banat, über das der Wolgadeutschen sowie der in der Ukraine Ansässigen „und vor allem darüber, wie Anthropologen, Eugeniker und Volkskundler deren deutsche Identität in den 1920er und 1930er Jahren herleiteten und zementierten“ (S. 15).
Autor: Uwe Ullrich
Haar, Ingo/Fahlbusch, Michael (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008 (Saur), 846 S.
Anmerkungen
[1] Dietrich Eichholtz, Der „Generalplan Ost“, Über eine Ausgeburt imperialistischer Denkungsart und Politik (mit Dokumenten; In: Jahrbuch für Geschichte 26, Berlin (Ost) 1982; S. 217-253
[2] Vgl. die Dokumentensammlung Czeslaw Madajczyk, Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994
[3] siehe Götz Aly/ Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Auschwitz und die deutschen Pläne für eine europäische Ordnung, Frankfurt am Main 2004