Aktion T4 Die »Euthanasie«-Verbrechen
„Vernichtung lebensunwerten Lebens“, „Gnadentod“ und am Ende „Euthanasie“ (altgriechisch: εὐθανασία; von εὖ eu = „gut, richtig, schön“ und θάνατος thánatos = „Tod“, also frei übersetzt: „schöner Tod“) – mit diesen Schlagworten bezeichneten die Nazis nacheinander ihre Pläne zur Ermordung Behinderter und dauerhaft pflegebedürftiger Kranker, dabei wurden die Umschreibungen für das Verbrechen immer etwas euphemistischer. Was sich dahinter verbarg, war ein Teil der Eugenik (altgriechisch: εὖ eũ = „gut“ und γένος génos = „Geschlecht“) des NS-Regimes, also des Versuches, die „arische Rasse“ zu reinigen, und das eben nicht nur von anderen Ethnien wie Juden oder Sinti und Roma, sondern auch von Erbkrankheiten und Behinderungen, die die „Rasse“ bzw. den „deutschen Volkskörper“ schwächten. Grundlage und Inspiration für die „Euthanasie“ bildeten die Bücher „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Alfred Hoche (1865 – 1943) und des Juristen Karl Binding (1841 – 1920) von 1920 und „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ der Mediziner Eugen Fischer (1874 – 1967), Erwin Baur (1875 – 1933) und Fritz Lenz (1887 – 1976) von 1921. Da die leitende Behörde in Berlin in der Tiergartenstraße 4 untergebracht war, spricht man heute auch von der „Aktion T4“, eine Bezeichnung, die sich in zeitgenössischen Quellen nicht findet.
Am 14. Juli 1933 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft, das die Sterilisation sogenannter Erbkranker und Alkoholiker vorsah. Ein Gesetz, das in der Bundesrepublik Deutschland erst 1994 vollständig außer Kraft gesetzt und dessen Beschlüsse erst 1998 aufgehoben wurden. Obwohl das Gesetz 2007 als „nationalsozialistisches Unrecht“ vom Bundestag geächtet wurde, sind davon Betroffene bis zum heutigen Tage nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt, weshalb sie keinen Rechtsanspruch auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz haben. Letzteres trifft im Übrigen auch auf Opfer der ab 1939 folgenden Aktion T4 zu. Deren Opfer haben bis heute außerdem auch keinen eigenen Gedenktag.
1935 kam das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses hinzu, was nun auch den Schwangerschaftsabbruch bei diagnostizierten Erbkrankheiten bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat vorsah. Noch im selben Jahr folgte das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes, das Ehen zwischen geistig Behinderten oder von Erbkrankheiten Betroffenen und nicht-betroffenen Deutschen verbot. Eine erste Beratung zur tatsächlichen „Vernichtung von lebensunwertem Leben“ fand im Juli 1939 zwischen Adolf Hitler (1889 – 1945), Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (1900 – 1945), dem Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers (1879 -1962) und Martin Bormann (1900 -1945) als Leiter des Stabes des Stellvertreters des Führers statt.
Am 1. September begann mit dem Überfall des Deutschen Reichs auf Polen, soweit es Europa betrifft, der Zweite Weltkrieg. Auf diesen Tag datierte Hitler nachträglich einen Brief vom Oktober 1933 vor, in dem er seinen Begleitarzt Karl Brandt (1904 – 1948) und den Reichsleiter der NSDAP und Chef der Kanzlei des Führers, SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler (1899 – 1945) damit beauftragte, unheilbar kranken Menschen und psychisch Behinderten den „Gnadentod“ zu gewähren. Bereits zuvor war es im westpreußischen, heute polnischen Wejherowo am 27. September 1939 zu einem Massaker an polnischen Anstaltspatienten gekommen. Aber warum datierte Hitler den Brief nachträglich vor? Der „Gnadentod“ sollte mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden. Die Logik der Nazis: Im Krieg müssten Ressourcen vor allem den tragenden und somit den gesunden Teilen der Gesellschaft zugutekommen. Man könne also nicht Ressourcen auf den Lebenserhalt von Menschen verschwenden, die tot eh besser dran wären. Pflegeeinrichtungen müssten vor allem kurzzeitig pflegebedürftigen Personen wie Kriegsverwundeten vorbehalten sein.
Bouhler war bereits mit der sogenannten „Kindereuthanasie“ betraut worden, also der Ermordung erbkranker, kognitiv und körperlich behinderter Säuglinge und Kleinkinder. Im Rahmen der „Kindereuthanasie“ fanden etwa 5000 Kinder den Tod. Dieser folgte dann die „Erwachseneneuthanasie“. Zu deren Durchführung sollten Bouhler und Brandt Ärzte ausfindig machen, die diese durchführen würden. Die Auswahl der Opfer wurde von 40 Gutachtern der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG) vorgenommen, die die Kranken und Behinderten nicht selbst zu Gesicht bekamen, sondern auf Grundlage der übermittelten Unterlagen ihr Urteil fällten. Schwarzes „+“ für „töten“, schwarzes „–“ für „nicht töten“, in seltenen Fällen schwarzes „?“, wenn der Gutachter unentschlossen war. Die Akten wurden von Pflegeeinrichtungen übermittelt, denen mitgeteilt wurde, es ginge dabei um eine notwendige planwirtschaftliche Erfassung. In die umfangreichen Meldebögen eingetragen werden mussten Patienten, die:
– an Schizophrenie, Epilepsie, Encephalitis, „Schwachsinn“, Paralyse, Chorea Huntington, seniler Demenz oder anderen neurologischen Endzuständen, bei denen sie gar nicht oder nur noch mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden konnten, litten.
– länger als fünf Jahre in der Einrichtung waren.
– als „Kriminelle Geisteskranke“ eingestuft worden waren.
– nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren.
In der Praxis betraf das auch Menschen mit Down-Syndrom und anderen Trisomien, Lähmungen, Tourette, Kleinwuchs etc.. Man darf dabei zudem nicht vergessen, dass viele Behinderungen und angeborene Beeinträchtigungen erst später beschrieben und klassifiziert wurden und folglich nicht explizit benannt werden konnten, obgleich die Symptome natürlich vorhanden waren, z. B.:
– Autismus (1943 – sowohl von Leo Kanner (1891 – 1981), als auch von Hans Asperger (1906 -1980))
– ADHS (1970)
– Norman-Roberts-Syndrom (1976)
– Wilson-Turner-Syndrom (1991)
– Lindsay-Burn-Syndrom (1996)
Die finale Entscheidung fällten Obergutachter, die anstelle eines schwarzen „+“ oder „–“ der normalen Gutachter ein finales rotes „+“ oder „–“ auf den Bogen setzten. Obergutachter waren der Würzburger Universitätsprofessor für Psychiatrie und Neurologie Werner Heyd (1902 – 1964) und Ministerialdirigent Herbert Linden (1899 – 1945). Die Listen wurden dem Leiter der „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat), Reinhold Vorberg (1904 – 1983) übergeben. Die Gekrat war dafür zuständig, die ausgewählten Opfer von den Pflegeeinrichtungen in zunächst roten, später zur Tarnung grau lackierten Bussen zu den Tötungseinrichtungen zu transportieren. Auch diese wurden mittels Fragebögen an die Pflegeeinrichtungen aus deren Reihen ausfindig gemacht. Für geeignet befundene Einrichtungen wurden beschlagnahmt, geräumt und umfunktioniert. Wobei der Transport meist bei einer „Zwischenanstalt“ Halt machte, ehe man die Opfer in die Tötungseinrichtung verbrachte. Die „Zwischenanstalten“ dienten der Verschleierung, denn Angehörige durften bis hier hin folgen, auch gab es Vorgaben, was die „Patienten“ mitzuführen hätten.
Was dann folgte, war nicht nur die Ermordung von in Summe 71.000 Menschen, sondern auch ein Testlauf zur Ermordung von Millionen weiteren. Wie später in den Vernichtungslagern schuf man ein Konstrukt aus Lügen um den Tötungsprozess. Der wiederum wurde in als Duschen getarnten Gaskammern durchgeführt – hier noch mit Kohlenstoffmonoxid, das in den Vernichtungslagern teilweise durch Zyklon B ersetzt wurde. Bis zu 30 Menschen wurden auf diese Weise auf einmal ermordet. Auch die Praxis, Goldkronen vor der Verbrennung der Leichen herauszubrechen, gab es bei der Aktion T4 schon. Am 31. September 1941 notierte Joseph Goebbels (1897 – 1945) in seinem Tagebuch: „Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 40000 sind weg, 60000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch notwendige Arbeit. Und sie muß jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu.“
Es gab nur ein Problem für die Täter: Anders als die meisten jüdischen Menschen hatten Kranke und Behinderte nahe Angehörige und Verwandte, die nicht auf der Tötungsliste der Nazis standen, sondern ganz im Gegenteil ihre Machtbasis bildeten. Diese wurden schriftlich über den Tod, aber nicht die Todesursache informiert. Statt der Wahrheit hieß es dann, eine Krankheit, oft eine Lungenentzündung, habe den Tod verursachte. Viele reagierten mit Bestürzung, nicht einmal wenige allerdings auch mit Erleichterung auf die Nachricht. Nachforschungen von Angehörigen wurden fehlgeleitet und scheiterten nicht selten auch an den Kosten, die der angebliche Verwaltungsaufwand bedurfte. Auch die Kosten für die angebliche Pflege bis zur offiziellen Bestätigung des Todes wurden in Rechnung gestellt. Dennoch regte sich zunehmend Misstrauen und aus dem Misstrauen erwuchs Widerstand. Als der Richter Lothar Kreyssig (1889 -1986) Anzeige erstattete, versetzte man ihn in den Ruhestand. Erfolgreicher waren da die Vertreter der Kirchen, allen voran Clemens August Graf von Galen (1878 – 1946). Der prangerte in einer Predigt, die später landesweit verbreitet wurde, an:
„Nein, ich will den Vergleich nicht bis zu Ende führen –, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft! Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich nicht um ein Pferd oder eine Kuh, … Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von den anderen als produktiv anerkannt werden?“
Der Widerstand im Volk zeigte Wirkung: Am 24. August 1941 erging von Hitler selbst eine mündliche Weisung an Brandt und Bouhler zur Einstellung der „Erwachseneneuthanasie“ in den Tötungsanstalten. Bedeutete das Ende der Aktion T4 auch das Ende für die Ermordung Kranker und Behinderter? Nein, es fanden etwa 130.000 weitere Schwerstkranke und Behinderte im Dritten Reich durch das Regime den Tod. Viele wurden im Rahmen der Aktion 14f13 in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vergast. Andere töteten die behandelnden Ärzte und Pfleger in den Pflegeeinrichtungen und -anstalten selbst, was weniger auffällig war als die industrielle Tötung der Aktion T4. Auch die „Kindereuthanasie“ lief auf diesem Wege weiter. Hinzu kam die Aktion Brandt: Als wegen des Luftkriegs Betten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, die nun als Ausweichkrankenhäuser beschlagnahmt wurden, knapp wurden, mussten Menschen, die Langzeitpflegefälle waren, weichen. Sie wurden entweder vergiftet oder in Gruppen in Räume zusammengepfercht, wo sie auf Strohsäcken schliefen und irgendwann an Hunger und Vernachlässigung zugrunde gingen.
Nach Kriegsende wurden die Taten als offenkundig naturrechtswidrig eingestuft, womit die Erklärung, auf Befehl gehandelt zu haben, nicht als Milderungsgrund eingestuft wurde. Sowohl gegen anordnende als auch gegen ausführende Personen verhängten Gerichte zunächst harte Strafen, darunter sogar Todesstrafen. Dies änderte sich ab 1949. Nun endeten Prozesse oft mit niedrigen Strafen, nicht selten mit Freispruch, man billigte den Tätern einen „möglicherweise unvermeidbarer Verbotsirrtum“ zu und stufte sie als „Gehilfen ohne eigenen Willensentschluss“ ein. Ein von Fritz Bauer (1903 – 1968) 1965 eingeleitetes Verfahren wurde 1970 nach den Voruntersuchungen eingestellt. Gegen viele Täter wurden erst in den 1970ern oder gar 1980ern Verfahren eröffnet, aber oft wegen Verhandlungsunfähigkeit vorzeitig eingestellt. Andere kamen vor Gericht und wurden freigesprochen oder nach kurzer Haft begnadig. Nur wenige saßen ihre oftmals auch eher geringen Haftstrafen ab. In der Statistik heißt das: 6,8 % aller eingeleiteten Verfahren endeten überhaupt mit einem rechtskräftigen Urteil und die meisten davon waren Freisprüche oder wurden begnadigt.
Heute, 80 Jahre später, bilden Behinderte und chronisch Kranke statistisch die am stärksten von Diskriminierung betroffene Bevölkerungsgruppe in Deutschland – sie stellten 41 % aller Anfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Stand: 2020). Damit kommen sie vor wegen ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihres Glaubens, ihres Alters oder ihrer Ethnie diskriminierten Menschen. Das zeigt vor allem, dass die Fälle von Diskriminierung, die so schwerwiegend sind, dass die Betroffenen bei zuständigen Behörden Hilfe suchen, primär Behinderte betreffen, was natürlich nichts über den individuellen Einzelfall von Diskriminierung betroffenen Menschen aussagt. Viele öffentliche Plätze und Gebäude sind nicht barrierefrei, Untertitel oder gar Gebärdensprachendolmetscher oder Hörfilmtonspuren bei Fernsehen und Streamingdiensten sind die Ausnahme und auch der Staat diskriminiert Behinderte und chronisch Kranke bis heute strukturell. So müssen arbeitsunfähige Behinderte, die eine ohnehin schon wegen der Behinderung gekürzte Grundsicherung beziehen, in regelmäßigen Abständen auf eigene Kosten nachweisen, dass die Behinderung, selbst wenn diese angeboren ist, fortbesteht. 2009 rügte die UN die Bundesrepublik für Menschenrechtsverstöße hinsichtlich der Gleichbehandlung und Inklusion Behinderter – seither gab es viele Absichtsbekundungen, aber wenig Umsetzung.
Literatur
Götz Aly (Hrsg.): Aktion T4: 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. 2., erweiterte Auflage, Edition Hentrich, Berlin 1989.
Michael Burleigh (Hrsg.): Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945. Pendo Verlag, Zürich 2002.
Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin Verlag, Berlin 2002.
Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. S. Fischer, Frankfurt 1983.; 2. überarb. Auflage, Frankfurt 2010, ISBN 978-3-596-18674-7.
Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur „Euthanasie“. Fischer, Frankfurt am Main 1985.
Walter Reschreiter, Johannes Hofinger und Christina Nöbauer: Lebens(un)wert : NS-Euthanasie in [im] Land Salzburg. Wiedergefundene Lebensgeschichten von Opfern der Rassenhygiene. Ausstellung im Land Salzburg 2007 (Begleitbuch zur Ausstellung im Keltenmuseum Hallein, 22. Okt. – 21. Nov. 2006, und im Schloss Goldegg, 22. Feb. – 1. April 2007), Edition Tandem, 2007.
Alice von Platen-Hallermund: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. 1. Auflage 1948, Neuauflagen 1993 und 2005, Mabuse, Frankfurt.
Stefanie Westermann, Richard Kühl, Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-„Euthanasie“ und Erinnerung: Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven (= Medizin und Nationalsozialismus. Band 3). LIT Verlag, Münster 2011.