Matthias Schröder: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942–1945. „Russland kann nur von Russen besiegt werden“: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“. Paderborn 2003.
In dieser 2000 im Fachbereich Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereichten Dissertation untersucht Matthias Schröder die Rolle General Vlasovs vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Russlandpolitik, einen Ansatz den bislang nur Hans-Erich Volkmann in seinem Aufsatz zu „Das Vlasov-Unternehmen zwischen Ideologie und Pragmatismus“ in MGM. Bd.12, (1972), H.2, skizziert hat, dessen Weiterentwicklung aber bisher in anderen Studien zu Vlasov (z.B. von Joachim Hoffmann 1984) nicht weiter adäquat verfolgt wurde. Der am 12.7.1942 in deutsche Gefangenschaft geratene Generalleutnant Andrej Andreevič Vlasov, hatte sich unverzüglich bereit erklärt, aus kriegsgefangenen russischen Soldaten eine Armee aufzustellen, die auf deutscher Seite in den Kampf gegen Stalin ziehen würde. Vlasovs „Russische Befreiungsarmee“ (ROA) blieb jedoch bis Ende 1944, als im kleineren Umfang ROA-Einheiten aufgestellt und der Oberbefehl General Vlasov übergeben wurde, eine „Phantomarmee“. Vlasov selbst unterstanden nie mehr als die beiden 1944 bzw. Anfang 1945 formierten zwei Divisionen, kleine militärische Verbände und die 1945 unterstellten Kosakeneinheiten.
Vielmehr wurde Vlasov und die Option einer „Russischen Befreiungsarmee“ für die deutsche politische Kriegführung im Osten instrumentalisiert. Zustimmung fand diese Option vor allem bei denjenigen, die die Realität des militärischen Kampfes kannten und deshalb die Ansicht vertraten, dass Hitlers „Untermenschen-Konzept“ für die politische Kriegführung ungeeignet sei. Nach dieser Auffassung könne der Krieg gegen das Sowjetregime nur dann erfolgreich sein und mit der Unterstützung der russischen Bevölkerung rechnen, wenn er auf die Befreiung der russischen Bevölkerung abziele und sich nicht gegen das russische Volk richte.
Die Dissertation ist nach Vorwort und Einleitung in folgende zwei Hauptteile gegliedert:
Erster Teil: Erhard Kroeger und Friedrich Buchardt. Deutschbaltische „Ostspezialisten“ in der SS (bis Seite 114). Dieser umfangreiche Teil enthält die Biografien Kroegers und Buchardts. Zweiter Teil: Die Vlasov-Bewegung als Instrument ostpolitischer Konzeptionen (ab S. 115). Hier werden u.a. folgende thematischen Aspekte erörtert:
- Forschungsstand und Rezeptionsgeschichte zu Vlasov nach 1945;
- Entstehung der Vlasov-Bewegung 1942/43 und ihre Funktionalisierung für die politische Kriegführung;
- Positionen der NS-Ostpolitik von Rosenberg zur SS hinsichtlich der „Russischen Befreiungsbewegung“;
- Untermenschen-Theorie versus militärischer Pragmatismus;
- Deutschbaltische SS-Führer und ihre ostpolitische Initiative für Vlasov;
- Mentale und politische Kontinuitäten nach 1945.
Zentrale Untersuchungsgegenstände in dieser Studie sind die Verbindungsstellen der SS, des SS-Hauptamtes und des Reichssicherheitshauptamtes RSHA, zur Vlasov-Bewegung und hier speziell die deutschbaltischen SS-Dienststellenleiter Erhard Kroeger, Himmlers Verbindungsmann bei Vlasov und Friedrich Buchardt, Leiter der Initiative für Vlasov im RSHA. Die Option „Vlasov-Armee“ befand sich im Spannungsfeld zwischen der Zuständigkeit der SS und seiner Förderung durch deutsche Offiziere, die von Hitlers und Himmlers „Untermenschenkonzeption“ zugunsten eines militärischen Pragmatismus Abstand nehmen wollten. Kroeger und Buchardt befürworteten im Unterschied zu ihrem Landsmann aus Estland, Alfred Rosenberg, und dem SS-Reichsführer Heinrich Himmler ein gezielt gegen Stalin kämpfendes Russland unter der Führung des hoch dekorierten Generals Vlasov. Himmler selbst war noch im Winter 1943/44 ein fanatischer Gegner des Generals und hatte diesen in einer Rede vor den Reichs- und Gauleitern in Posen am 6.10.1943 sogar als „russisches Schwein“ und eine Woche später als „Schlächtergesellen“ beschimpft (S.157).
Es ist eine Stärke der vorliegenden Studie, dass sie den Focus auf die Spannung der handelnden Akteure zwischen Rassismus und Untermenschenpolitik einerseits und pragmatisch realistischer Sicht der Kriegsnotwendigkeiten andererseits – innerhalb der sich paradoxerweise sogar Himmler befand, der im Sommer 1944 angesichts der weiter verschlechterten Kriegslage zum Befürworter einer Vlasov-Armee mutierte – richtet. Demgegenüber sind die Schwächen des Bandes, z.B. das etwas unzusammenhängende Nebeneinanderstellen der Biografien von Buchardt und Kroeger, zu verschmerzen, zumal der Autor klar herausarbeitet, dass auch diese beiden deutschbaltischen Vlasov-Förderer nicht viel mehr als die Zielvorstellung des Sturzes Stalins mit dem sowjetischen Ex-General gemeinsam hatten. Gegen den Charakter des Feldzuges als Vernichtungskrieg machten sie sich nur insofern Gedanken, als er den Erfolg der militärischen Operationen aufgrund einer dadurch den Okkupatoren feindselig eingestellten russischen Bevölkerung gefährdete.
Autor: Wigbert Benz
Matthias Schröder: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942 – 1945. „Russland kann nur von Russen besiegt werden“: Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2. Auflage 2003, 256 S., 8 S. Bildteil, ISBN 3-506-77520-0, € 30,60