Wilna (lit. Vilnius), die Hauptstadt Litauens, galt seit dem 16. Jahrhundert als eines der bedeutendsten kulturellen Zentren des Judentums in Osteuropa. Die Bezeichnung „Jerusalem Litauens“ verdiente sich die Stadt als Zentrum von rabbinischer Gelehrsamkeit, Standort von zahlreichen Verlagshäusern und Druckereien. Von 1920 bis 1939 stand die Stadt unter polnischer Herrschaft. Im September 1939 marschierte die Rote Armee in Wilna ein, jedoch wurde die Stadt kurz darauf den Litauern übergeben. In Folge des deutschen Überfalles auf Polen, flüchteten 1939 etwa 15.000 Juden aus Polen nach Wilna, die Zahl der Juden stieg auf über 60.000. 1940 wurde Litauen als sowjetische Republik in die Sowjetunion eingegliedert. Jüdische Organisationen und Parteien wurden für ungesetzlich erklärt, das kulturelle Leben wurde weitestgehend stillgelegt. Dies hatte eine Massenflucht der Juden zur Folge. Etwa 6500 wanderten in alle Teile der Welt aus.
Am 24.6.1941, zwei Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion, besetzte die Wehrmacht die Stadt. Sofort wurden einige judenfeindliche Verordnungen bekannt gegeben, welche den Juden das Leben wesentlich erschwerten. Neben der Kennzeichnung mit dem gelben Stern, wurde beispielsweise eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Anfang Juli wurde die Errichtung eines Judenrates befohlen. Dieser bestand zunächst aus 10, später aus 24 Mitgliedern. Bereits im Juli wurde mit den systematischen Massenerschießungen begonnen. Das Einsatzkommando 9 trieb mit Hilfe von litauischen Freiwilligen 5000 Juden zusammen und brachte sie nach Ponary, einen Vorort von Wilna. Dort hatten die Sowjets kurz vorher große Gruben ausgehoben, in denen Treibstoff gelagert werden sollte. Das Projekt wurde nie fertiggestellt, aber die bereits vorhandenen Gruben wurden von den Deutschen zweckentfremdet und als Exekutionsplatz genutzt. In einer, als „die große Provokation“ bekanntgewordenen Aktion, wurden Anfang September weitere 8000 Juden ermordet, darunter die meisten Mitglieder des Judenrates. Die Aktion wurde als Vergeltungsaktion für die Ermordung von deutschen Soldaten getarnt. Der vermeintliche Überfall war allerdings von deutschen Soldaten selbst in Szene gesetzt worden. Das bei dieser Aktion „geräumte“ Wohngebiet wurde umzäunt und zum Ghetto deklariert. Es bestand aus einem „Großen Ghetto“ und einem „Kleinen Ghetto“, welche durch die „Deutsche Straße“ voneinander getrennt waren. Am 6. September wurden die etwa 40.000 verbliebenen Juden gezwungen in das Ghetto umzuziehen, weitere 6000 wurden in Ponary bei einer weiteren Massenexekution ermordet. Für beide Ghettos wurde die Einrichtung eines eigenen Judenrates verfügt. Zum Vorsitzenden vom „Großen Ghetto“ wurde Anatol Fried, vom „Kleinen Ghetto“ Eisik Lejbowicz. Die Judenräte regelten sämtliche Bereiche des Lebens der Ghettobewohner, so gab es Abteilungen für Wohnen, Erziehung, Arbeit und andere Angelegenheiten. Auch eine jüdische Polizei wurde eingerichtet, zu ihrem Kommandeur wurde Jacob Gens.
An bestimmte Ghettobewohner wurden „Scheine“, d.h. Arbeitserlaubnisse ausgeteilt. Familien mit mindestens einem Angehörigen, der in Besitz einer Arbeitserlaubnis war, wohnten vornehmlich im „Großen Ghetto“, das „Kleine Ghetto“ war für Alte und Arbeitsunfähige vorgesehen und wurde im Rahmen von mehreren aufeinander folgenden „Aktionen“ noch im Oktober 1941 aufgelöst. Seine Bewohner wurden nach Ponary deportiert und ermordet. Die Bewohner vom „Großen Ghetto“ wurden anschließend einer weiteren Selektion unterzogen. Die Behörden verteilten sog. „Gelbe Scheine“. Die Verteilung hing von der Arbeitsstelle und der ihr von den Behörden zugeschriebenen Bedeutung ab. Nach den deutschen Plänen sollten von den zu diesem Zeitpunkt 28.000 im „Großen Ghetto“ lebenden Juden nur noch 12.000 übrig verbleiben. Bis zum Ende des Jahres erfolgten zahlreiche weitere Massenexekutionen, so dass bis zum Ende des Jahres 1941 insgesamt 35.000 Juden ermordet wurden. Anschließend gab es etwa ein Jahr lang, von Frühjahr 1942 bis zum Frühjahr 1943, keine großen Exekutionswellen mehr und das Leben „normalisierte“ sich weitestgehend. Die meisten Ghettobewohner hatten unter der Leitung des Judenrates außerhalb des Ghettos eine Arbeitsstelle gefunden oder arbeiteten innerhalb des Ghettos in Werkstätten. Trotz der äußerst widrigen Lebensbedingungen in Hunger, Kälte und erbärmlichen hygienischen Verhältnissen, existierte im Ghetto ein reges kulturelles Leben. Die Polizei hielt die Ordnung aufrecht und es gab sogar einen Gerichtshof.
Ab dem Frühjahr 1943 verschlechterte sich die Lage im Ghetto erheblich. Nach der Auflösung von vier kleineren Ghettos in der Umgebung, wurde etwa ein Teil der Menschen auf die Ghettos in Wilna und Kowno verteilt, der größte Teil aber wurde in Ponary ermordet. Im Sommer wurden viele Arbeitslager mit Wilnaer Juden aufgelöst, ihre Insassen wurden ermordet. Das löste große Angst hervor und untergrub bei den verbliebenen Menschen die letzte Hoffnung doch noch am Leben zu bleiben.
Seit Anfang 1942 existierte im Untergrund des Ghettos die Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO). Bis zur Verschlechterung der Lage im Frühjahr 1943 wurde die FPO von den jüdischen Behörden geduldet. Als sich die Lage allerdings verschlechterte, sah der Polizeikommandeur in ihr eine Bedrohung für die weitere Existenz des Ghettos. In Folge dessen kam es in der folgenden Zeit immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Widerstandskämpfern und der jüdischen Polizei.
Am 21. Juni 1943 wurde von Heinrich Himmler die Auflösung der Ghettos im Reichskommissariat Ostland, zu dem auch Litauen gehörte, befohlen. Die arbeitsfähigen Juden sollten in Konzentrationslager deportiert, die anderen ermordet werden. Die Deutschen begannen ab August mit der Auflösung des Ghettos. Im September kam es im Rahmen von Räumungsaktionen zu Schusswechseln zwischen der SS und Verbänden der FPO. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern und eine letzte Chance auf eine weitere Existenz des Ghettos zu erhalten, bot Jacob Gens den Deutschen die Bereitstellung der geforderten Deportationsquote an. Die Deutschen willigten ein und die Kämpfe hörten auf. Am 14. September wurde Jacob Gens jedoch von der Gestapo vorgeladen und auf der Stelle erschossen. Die endgültige Auflösung fand am 23./24. September 1943 statt. 3700 Arbeitsfähige wurden in Konzentrationslager in Estland und Lettland deportiert, über 4000 Kinder, Frauen und alte Leute wurden nach Sobibor gebracht und dort ermordet. Am 13. Juli 1944 wurde Wilna befreit.
Autor: Eugen Lempp
Literatur
Yitzak Arad, Ghetto in Flames (Jerusalem 1980)
Wilna in: Enzyklopädie des Holocaust hrsg. von Israel Gutman, 1599-1603 (München 1998)
Abraham Sutzkever, Wilner Ghetto 1941-1944 (Zürich 2009)
Christina Eckert, Die Mordstätte Paneriai (Ponary)bei Vilnius in: Vincas Bartusevicius, Joachim Tauber und Wolfram Wette (Hrsg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1944, 132-145 (Köln 2003)
Petra Peckl, Wie die Schafe zur Schlachtbank? Jüdischer Widerstand im Ghetto von Vilnius in: Vincas Bartusevicius, Joachim Tauber und Wolfram Wette (Hrsg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1944, 171-185 (Köln 2003)
Die geheimen Notizen des K. Sakowicz. Dokumente zur Judenvernichtung in Ponary 1941-1943 hrsg. von Rachel Margolis und Jim Tobias (Frankfurt am Main 2003)
Die Juden von Wilna. Die Aufzeichnungen des Grigorij Schur 1941-1944 bearb. und hrsg. von Wladimir Porudominskij (München 1999)
Schoschana Rabinovici, Dank meiner Mutter (Frankfurt am Main 1991)