Italienischer Botschafter in Berlin 1935/40

Bernardo Attolico (1880-1942)
Bernardo Attolico wurde am 17. Januar 1880 im süditalienischen Canetto di Bari geboren. Er studierte Jura und begann seine Karriere im Ausland: während des 1. Weltkriegs in London bei der italienischen Botschaft, 1919 bei den Verhandlungen zum Versailler Vertrag, 1920–1921 war er Völkerbundskommissar in Danzig und 1922–1927 leitete er in Genf die Kommunikationsabteilung des Völkerbundes. Im Jahre 1927 wurde er italienischer Botschafter in Rio de Janeiro und 1932/35 in Moskau. Dort verhandelte er den italienisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag vom September 1933.
Von 1935 bis 1939 war er Botschafter in Berlin, als Nachfolger des von Hitler nicht mehr erwünschten Cerrutis. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien war zu dieser Zeit (1935) äußerst kühl [1]. Am 8. September 1935 wurde der neu ernannte italienische Botschafter Attolico von Hitler im Haus des Reichspräsidenten in Berlin zur Entgegennahme des Beglaubigungsschreibens empfangen [2]. Attolico sprach kein Deutsch und erlernte es auch kaum; mit Neurath und Ribbentrop sprach er Englisch, mit Hitler nur mit Hilfe von Dolmetschern [3]. Attolico war ein unideologischer Diplomat; er befürwortete einen von Deutschland gewünschten Antikominternpakt nicht. Er war den deutschen Absichten gegenüber misstrauisch, den deutschen Politikern schien er antideutsch eingestellt. Ciano ließ ihn damals sogar durch einen Botschaftsrat überwachen um zu verhindern, dass er deutschfeindliche Aktionen durchführte [4].
Ende September 1937 besuchte Mussolini Deutschland und wurde von Hitler überschwänglich empfangen; auch Attolico war selbstverständlich anwesend. Hier trat die deutsch-italienische Achse zum erstenmal in Funktion. Während des Hitlerbesuches im Mai 1938 in Italien erreichte der Führer, was er wollte: die rückhaltlose italienische Unterstützung eines deutschen Angriffes gegen die Tschechoslowakei mit allen daraus resultierenden Konsequenzen [5]. Im Juni 1938 sprach Ribbentrop mit Attolico über einen Militärpakt Deutschland-Italien. Mitte Juli 1938 war Attolico sich über die deutschen Absichten im Klaren, aber seine Kenntnisse alarmierten den noch ahnungslosen italienischen Außenminister Ciano noch immer nicht; dieser schöpfte erst in der zweiten Augusthälfte Verdacht. Attolico wurde dann mehrmals damit beauftragt, den Termin für den deutschen Angriff zu erfragen, aber Ribbentrop wich ihm immer aus: ein genauer Zeitpunkt sei nicht festgelegt, aber jederzeit möglich. Mussolini und Ciano trauten es Hitler immer noch zu, den Konflikt zu lokalisieren [6].
Während der Sudetenkrise berichtete am 28. September 1938 Göring Hitler und Ribbentrop über ein Telefongespräch Mussolinis mit Attolico, der Hitler berichten sollte, dass Italien Deutschland unterstütze, aber den Führer bitte, die geplante Mobilisation um 24 Stunden aufzuschieben [7]. Gegen 12 Uhr erschien atemlos Attolico und ließ Hitler aus seiner Besprechung mit dem französischen Botschafter François‑Poncet holen um ihm ein Angebot Mussolinis zu überreichen. Hitler musste wohl zustimmen, obwohl ihm der Inhalt der Botschaft aus Görings Mitteilungen schon bekannt war. Er setzte anschließend sein Gespräch mit François‑Poncet fort[8]. Der französische, britische und italienische Botschafter gaben sich gegenseitig die Türklinke Hitlers in die Hand. Bernardo Attolico kam etwa 14 Uhr zum zweiten Mal, während der Mahlzeit Hitlers; er hatte mit Mussolini telefoniert. In dieser Minute fiel die eigentliche Entscheidung, die in der späteren Konferenz ’nur‘ noch detailliert und beschlossen werden sollte. Hitler lud gegen 15 Uhr Chamberlain, Mussolini und Daladier ein, am 29/9 vormittags zu einer Aussprache nach München zu kommen.
Attolico kam zum dritten Mal, jetzt mit dem Bericht des britischen Botschafters Henderson und mit der Mitteilung Mussolinis, dass dieser bereit wäre am 29/9 nach München abzureisen. Während Hitlers Abendessen kam Attolico wieder mit der Nachricht, dass Mussolini am darauf folgenden Tag (29/9) gegen 11 Uhr ankommen werde [9]. In buchstäblich letzter Minute hatte Hitler also eingelenkt; die Konferenz von München sollte die Krise abschließen. Hitler aber empfand ‚München‘ als Niederlage: was nützten ihm Sudetendeutsche ‚heim ins Reich‘, wenn ihm der Einzug in Prag verwehrt blieb und die Grenzen der Tschechoslowakei noch dazu von den Westmächten garantiert wurden? Auf der nächsten Etappe stand er dann den gleichen Alternativen gegenüber: Verzicht auf Aggression oder Krieg mit England.
Am 2. März 1939 erfolgte ein weiteres Gespräch Hitlers mit Attolico über gemeinsamen Generalstabsbesprechungen [10]. Hitler erörterte dabei die Erfolgsaussichten der Achsenmächte im Falle eines europäischen Krieges, er beschwor dabei den Italiener, nicht sofort zu handeln, sondern erst einen günstigen Zeitpunkt abzuwarten [11]. Attolico sandte beunruhigende Berichte nach Rom über eine bevorstehende militärische Aktion gegen Polen und darüber hinaus sogar über einen Generalkrieg in Europa. Seine Briefe waren laut den Erinnerungen des letzten italienischen Botschafters in Deutschland, Filippo Anfuso, die klarsten Dokumente über den Hitlerismus mit eindeutigen Einschätzungen zu den politischen Bestrebungen Deutschlands, ergänzt durch eine Fülle vertraulicher Informationen [12].
Attolico schlug eine Begegnung Mussolinis mit Hitler vor, in der es darum gehen sollte Klarheit über die deutschen Absichten zu gewinnen; Mussolini könnte dabei eine mäßigende Rolle einnehmen und dafür Sorge tragen, das italienische Schicksal nicht mit dem deutschen zu verknüpfen. Außenminister Ciano gefielen diese Vorschläge nicht und in Rom wurde befürchtet, Hitler könnte auch Mussolini zu einer überschnellen Reaktion motivieren. Ciano begab sich selber im August 1939 nach Berlin und war anfänglich der Überzeugung, Attolico hätte übertrieben. Eine Begegnung mit Ribbentrop belehrte ihn eines Besseren; Ciano zeigte sich anderer Meinung auch im Gespräch mit Hitler und erklärte deutlich, Italien sei zu einem Krieg nicht imstande.
Am 22. Mai 1939 wurde der deutsch-italienische Stahlpakt abgeschlossen; Mussolini hoffte damit die Deutschen bis mindestens 1942/43 auf Frieden festlegen zu können; Hitler wollte ihn zur Abschreckung der Westmächte benutzen. Attolico war selbstverständlich in die Vorbereitung des Paktes einbezogen worden, aber es war ihm nicht gestattet, Einfluss auszuüben.
Attolico reiste fortwährend zwischen Berlin und Rom und arbeitete mit Ciano zusammen gegen einen drohenden Krieg. Ciano ließ sich zwar durch das deutsch-russische Übereinkommen (Nichtangriffspakt) überraschen, aber er konnte doch Mussolini zu einer fortwährenden Neutralität bewegen. Der Einfluss Italiens auf die Geschehnisse war aber gering [13], die Telefonate Attolicos mit Rom wurden fortwährend von den Deutschen abgehört und Hitler wusste immer vorher, was Attolico ihm zu melden hatte.
Unter dem Vorsitz Himmlers fand am 23. Juni 1939 im Gestapo-Amt in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße eine Konferenz über die Südtirolumsiedlung statt; auf italienischer Seite nahm u. a. Botschafter Attolico teil. Zweck der Zusammenkunft war die von Hitler im Einvernehmen mit dem Duce gestellte Aufgabe der Rück- und Auswanderung der in Südtirol lebenden Deutschen. Den Italienern ging es eigentlich nur darum, einige tausend italienfeindliche ‚Elemente‘ aus Südtirol zu entfernen; Himmler aber forderte zur Überraschung der Italiener eine endgültige Lösung durch einen schnellen Totalexodus der gesamten deutschsprachigen Bevölkerung [14]!
Im August 1939 wurde Attolico nach vorherigen Gesprächen seines Außenministers Ciano in Deutschland zur Konsultation nach Rom gerufen; nach seiner Rückkehr am 18. August hatte er eine Note des Duce vom 14/8 bei sich, in der Mussolini zwar mitteilte, er rechne mit einem großen europäischen Krieg, aber er sehe den Zeitpunkt für einen solchen Konflikt noch nicht gekommen [15]. Attolico überbrachte am 25. August die definitive Absage Mussolinis [16]; nichts Neues, denn Ciano hatte mit Hilfe Attolicos diese Haltung zuvor bereits dargestellt. Am 26. August 1939 überreichte Attolico Berlin eine lange Wunschliste über zu lieferndes Militärmaterial; insgesamt 18.143.000 Tonnen, dazu noch 150 Flakbatterien zum Schutz der italienischen Industrie [17]. Er fügte eigenmächtig hinzu, Italien erwarte jede Lieferung noch vor Anfang der Feindseligkeiten, damit alle Verhandlungen über die italienischen Wünsche erübrigend. Mussolini aber war unbeugsam auf den deutschen Kurs eingestellt und vollkommen unter Hitlers Einfluss geraten.
Am 29. August 1939 empfing Hitler um etwa 21 Uhr abermals Attolico, der einen Brief Mussolinis überreichte. Inhaltlich bestätigte das Schreiben Italiens politische und diplomatische Unterstützung Deutschlands, aber ohne tatsächliche Anteilnahme [18]. Am 31. August fragte Attolico abends Hitler, ob jetzt alles zu Ende sei; Hitler bejahte. Am 2. September 1939 frühmorgens versuchte Mussolini nochmals, die Entwicklungen umzubeugen und brachte die Idee einer Konferenz auf. Um 10 Uhr trug Attolico dies im Auswärtigen Amt vor; vergeblich: das allerletzte was Hitler sich jetzt wünschte war ‚ein neues München‘; er war nicht mehr umzustimmen und der Krieg nahm seinen Lauf [19].
Am 8. Januar 1940 überreichte Attolico Hitler einen langen Brief Mussolinis, unterzeichnet am 3. Januar. Mussolini betonte seine korrekte, aber kühle Beziehungen zu den Westmächten und seine schlechte Beziehung zur UdSSR; er hielt die gegenwärtige Haltung Italiens gegenüber Deutschland für vorteilhafter als eine Beteiligung am Kriege. Er befürwortete die Wiederherstellung eines polnischen Staates und beschwor Hitler, doch keinesfalls die Initiative auf der Westfront in die Wege zu leiten. Er warnte vor Russland und betonte, dass die Lösung der Lebensraumfrage dort liege und nicht irgendwo anders. Hitler entließ Attolico mit den Worten, er würde den Brief überdenken und später beantworten (das tat er dann erst viel später und zwar am 8. März) [20].
Ab Ende Januar 1940 schwenkte Mussolini deutlicher als zuvor auf die deutsche Linie ein; auch Ciano war dann überzeugt, dass ein Kriegseintritt Italiens eine beschlossene Sache sei, nur das Datum fehlte noch. Ende April 1940 wurde in Berlin überdeutlich, dass Attolico abberufen werden sollte, da er keine „klare pro‑deutsche Haltung“ einzunehmen imstande war [21]. Mussolini ließ Ende April die Abberufung Attolicos bekanntgeben. Am 9. Mai 1940 empfing Hitler zwischen 15 und 15.30 Uhr Attolico und dessen Frau zur Verabschiedung [22]. Schon am 18. Mai empfing Hitler den neuen italienischen Botschafter Alfieri zur Entgegennahme des Beglaubigungsschreibens [23]. Die Abschiedsworte Attolicos zu einem Wilhelmstraßenfreund waren (auf Englisch; Deutsch beherrschte er noch immer nicht): „Everybody wants me to say Italy is strong. I think it more honest and personally stronger to say she is weak. Don’t you let Italy enter the war too soon – otherwise you will be sorry about it“ [24]. Italien trat am 10. Juni 1940 in den Krieg ein.
Bernardo Attolico wurde anschließend Botschafter Italiens beim Heiligen Stuhl; „Vom Teufel zum Weihwasser“ kommentierte er den Wechsel. Er sagte dabei Ciano gegenüber den Ausgang des Krieges voraus: ein kurzer Krieg bedeute einen Sieg des Reiches, ein langer Krieg einen Sieg der Alliierten [25]. Er starb am 9. Februar 1942 in Rom.
Autor: Hubert Beckers
Literatur
Cannistraro, Philip: Historical Dictionary of Fascist Italy. Westport/London 1982.
Corvaja, Santi: Hitler and Mussolini. The Secret Meetings. New York 2001.
Deakin, F.W.: The brutal friendship; Mussolini, Hitler and the fall of Italian fascism. London 1962.
Domarus, Max: Mussolini und Hitler. Zwei Wege – gleiches Ende. Würzburg 1977.
Hillgruber, Andreas (Hrsg.): Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes; 1. Teil (1939-1941). Frankfurt/M. 1967.
Kley, Stefan: Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Paderborn 1996.
Moseley, Ray: Zwischen Hitler und Mussolini. Das Doppelleben des Grafen Ciano. Berlin 1998.
Wiskemann, Elizabeth: The Rome-Berlin Axis. London 1949.
Zentner, Christian / Friedemann Bedürftig (Hrsg.): Das Große Lexikon des Dritten Reiches. Augsburg 1993.
Anmerkungen
[1] Wiskemann Rome-Berlin Axis S. 51.
[2] Domarus Reden/Prokl. Bd. I, S. 522; Petersen Hitler-Muss. S. 427/29.
[3] Wiskemann Rome-Berlin Axis S. 49 Nt. 2.
[4] Anfuso Die beiden Gefreiten S. 37.
[5] Kley Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges S. 68.
[6] Wiskemann Rome-Berlin Axis S. 124/25; Kley Hitler/Ribbentrop S. 115/16.
[7] Irving War Path S. 148/49; Kley Hitler/Ribbentrop S. 138.
[8] BDFP 3. series vol. II, Nr. 1199, S. 607/08; DDF-2, tome XI, Nr. 426, S. 646/49; Schmidt Statist S. 418/21; Heineman Neurath S. 181/83; François-Poncet Berlin S. 377/78; Kley Hitler/Ribbentrop S. 137/38.
[9] Taylor Munich S. 894/95; Domarus Reden/Prokl. Bd. I, S. 940; Corvaja Meetings S. 95.
[10] Kley Hitler/Ribbentrop S. 244.
[11] ADAP Serie D, Bd. VI, Dok. 51, S. 47/1; Freund Gesch.2.Weltkr.in Dok. Bd. II, Dok. 54, S. 133/38.
[12] Anfuso Gefreiten S. 104.
[13] ADAP Serie D, Bd. VII, Dok. 271, S. 238f; 242f; Freund Gesch.2.Weltkr.in Dok. Bd. III, Dok. 76, S. 213/14; Domarus Muss./Hitler S. 276/77. Siehe die italienische Selbsteinschätzung Oktober/November 1939 in Baum/Weichold Mittelmeerraum S. 422/25.
[14] Wiskemann Rome-Berlin Axis S. 148 (irrtümlich datiert 15/6); Latour Südtirol/Achse S. 37/2. Siehe weiter in Latour.
[15] Freund Gesch. 2. Weltkrieg in Dok. Bd. III, Nr. 12, S. 45/6.
[16] ADAP Serie D, Bd. VII, Dok. 271, S. 238f; 242f; Freund Gesch.2.Weltkr.in Dok. Bd. III, Dok. 76, S. 213/14; Domarus Muss./Hitler S. 276/77. Siehe die italienische Selbsteinschätzung Oktober/November 1939 in Baum/Weichold Mittelmeerraum S. 422/25.
[17] ADAP Serie D, Bd. VII, Dok. 301, S. 258/59 (in italienischer Sprache) und 262ff; Freund Gesch.2.Weltkr.in Dok. Bd. III, Dok. 79, S. 217/18; Domarus Muss./Hitler S. 280/81; Kley Hitler/Ribbentrop S. 306/07.
[18] ADAP Serie D, Bd. VII, Dok. 418, S. 343; Freund Gesch.2.Weltkr.in Dok. Bd. III, Dok. 122, S. 328/29; Ciano Diaries S. 133; Schmidt Statist S. 461/64ff.
[19] ADAP Serie D, Bd. VII, Dok. 535, S. 425; IMG Bd. XXVIII, Dok. 1831.4‑PS, S. 546/47; Freund Gesch.2.Weltkr.in Dok. Bd. III, S. 410.
[20] ADAP Serie D Bd. VIII, Dok. 504, S. 474/80; Domarus Muss./Hitler S. 296/01; Ciano Lettres secr. S. 47/8; Schreiber Entw. in DR2WK Bd. 3, S. 17 f; Ciano Diaries S. 194.
[21] Jodl-TB in IMG Bd. XXVIII S. 425; Goebbels-TB Aufz. Bd. 8 S. 85; Wiskemann Rome-Berlin Axis S. 206.
[22] Hillgruber Staatsmänner Bd. 1, S. 128/30; Domarus Reden/Prokl. Bd. II, S. 1501.
[23] Domarus Reden/Prokl. Bd. II, S. 1513; Schulthess Jahr 1940 S. 99; Hillgruber Staatsmänner Bd. 1, S. 131 und Nt.
[24] Wiskemann Rome-Berlin-Axis S. 206, Erich Kordt zitierend.
[25] Ciano Ciano Diaries 1939/43 S. 240. Siehe auch Wiskemann Rome-Berlin-Axis S. 207; Latour Südtirol/Achse S. 71.