Paul Karl Schmidt alias Paul Carell war ein Mann der zwei Karrieren. Mit noch nicht einmal 29 Jahren avancierte der promovierte Psychologe 1940 als Pressechef des Auswärtigen Amtes zum jüngsten Ministerialdirigenten und Gesandten I. Klasse des NS-Regimes. Zeitgleich wurde er SS-Obersturmbannführer, was bei der Wehrmacht dem Rang eines Oberstleutnants entspricht. Nach dem Krieg schrieb er lange geschichtspolitische Artikel in so unterschiedlichen Printmedien wie der ZEIT, Rudolf Augsteins SPIEGEL oder Axel Springers KRISTALL und WELT. Seine unter verschiedenen Pseudonymen – Paul Carell war das bekannteste – verfassten Artikel berührten immer die Themen Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, jedes Mal mit der Tendenz, den NS-Staat und dessen Krieg zu beschönigen und zu rechtfertigen. Mit bis zu seinem Tod 1997 drei Millionen verkauften Büchern, die meisten davon zum „Unternehmen Barbarossa“, dem Russlandfeldzug des Dritten Reiches, prägte der Bestsellerautor Paul Carell das Bild von der deutschen Kriegführung als sauberem, anständigen und heldenhaften Kampf der Wehrmacht, wie es bis in die 90er Jahre dominierte.[1]
Der gelernte Journalist Christian Plöger, der für DIE WELT sowie das Magazin IMPULSE schrieb, legt nun mit der Publikation seiner Münsteraner Dissertation die erste umfassende Biografie dieses NS-Karrieristen vor. Alleine für den Zeitraum von 1931-1945 hat Plöger ca. 25.000 Blatt in verschiedensten Archiven aufbewahrte Einzeldokumente ausgewertet und präsentiert die trotz Ihres Umfangs und wissenschaftlichen Ausdifferenzierung ebenso spannende wie gut lesbare Wirkungsgeschichte Schmidts vom Pressesprecher Ribbentrops bis zum Sicherheitschef, Autor und engen Berater Axel Springers. Den Schwerpunkt seiner Darstellung legt Plöger dabei auf die Zeit vor 1945.
NS-Studentenfunktionär
Als unehelicher Sohn einer Landarbeiterin bei seiner Mutter im Haus seines Großvaters, einem Schuhmachermeister, in einfachen aber nicht ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, glänzte Schmidt als Schüler mit sehr guten Leistungen, studierte Psychologie an der Uni Kiel und promovierte mit Bestnote. Noch als Schüler 1931 in die NSDAP eingetreten, amtierte er schon im Februar 1933 als Vorsitzender der Kieler Studentenschaft und wurde 1935 stellvertretender NS-Gaustudentenführer Schleswig-Holsteins. Plöger beschreibt, wie Schmidt als NS-Studentenführer schon vor dem Machtantritt Hitlers den universitären Lehrbetrieb mehrere Tage lahm legte und u.a. testatfähige Vorlesungen über Wehrpolitik und Kriegswissenschaft durchsetzen kann. In einem von Plöger gefundenen Bericht Schmidts über ein einwöchiges Schulungslager im Oktober 1933 unter Leitung des Philosophen Martin Heidegger bei dem zehn Dozenten und 80 Studenten aus dem ganzen Reich über die Rolle des Nationalsozialismus an der Universität diskutierten, identifiziert sich Schmidt ausdrücklich mit Heideggers Definition des „Nationalismus als heldisches Führertum“ und des Sozialismus als „auf unbedingte Gefolgschaft gegründete Gemeinschaft eines Volkes in allen seinen das Leben gliedernden Ständen und Schichten“ (S. 97).
Kriegs- und Holocaustpropagandist
Bis zu seinem Wechsel 1937 von der Uni Kiel in die sog. Dienststelle Ribbentrop hatte Schmidt als wissenschaftlicher Uni-Assistent und Leiter der Sektion Zeitungswissenschaft und Meinungsforschung bereits einschlägige Erfahrungen mit der Pressearbeit gesammelt. Nach der Übernahme des Außenministeriums durch Ribbentrop wurde Schmidt schnell dessen Pressechef. In dieser Funktion leitete er die täglichen Pressekonferenzen des Auswärtigen Amtes, gab Sprachregelungen für die Auslandsberichterstattung vor und wirkte mit Hilfe zahlreicher Zeitschriften als einer der führenden Auslandspropagandisten des Regimes. So nahm Schmidt z.B. maßgeblichen Einfluss auf die mit Millionenauflage in zwanzig Sprachen erschienene Auslandsillustrierte SIGNAL, die den Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus propagierte und den Überfall Deutschlands auf die UdSSR am 22. Juni 1941 als Präventivkrieg rechtfertigte, eine These, die Schmidt auch nach 1945 vertrat. Beschämend ist der Umstand, dass diese den Tatsachen widersprechende Behauptung bis heute „Unterstützer in Reihen der Wissenschaft findet. Dies gilt etwa für die beiden Historiker Klaus-Jochen Arnold und Stefan Scheil“ (S. 422).
Der Autor arbeitet insbesondere Schmidts Antisemitismus und Anteil an der propagandistischen Verschleierung des Holocaust heraus. So forderte Schmidt in einem von Plöger gefundenen Schreiben an Unterstaatssekretär Luther Ende Dezember 1941 diesen auf, beim Generalbauinspektor darauf hinzuwirken, „eine Judenwohnung zugeteilt zu bekommen“ und bittet konkret „um Zuweisung einer 9 bis 10 Zimmerwohnung“ (S. 144). Forschungsergebnisse zur propagandistischen Initiative Schmidts vom 27. Mai 1944, als dieser vorschlägt, vor der Deportation der Budapester Juden diesen, z.B. in ihren Synagogen, Sprengstoffe und Waffen unterzuschieben und dann umgehend eine Razzia durchzuführen, um die Opfer als kriminelle Täter präsentieren zu können[2], bestätigt Plöger ausdrücklich. Schmidts Vorschlag wurde letzten Endes deswegen nicht umgesetzt, weil sich die Rahmenbedingungen nach der Landung der Alliierten wenige Tage danach am 6. Juni 1944 dramatisch geändert hatten.
Peter Longerichs Auslassungen zu Schmidt-Carell
Der Autor scheut sich nicht, mit Peter Longerich, der in seiner Dissertation zu Schmidts Presseabteilung nur mit einer einzigen Fußnote auf die Nachkriegsidentität des Pressechefs eingeht[3], einen der Großen der Historikerzunft zu kritisieren. Plöger kommt betreffs Longerichs fehlender Erörterung der propagandistischen Initiative Schmidts vom 27. Mail 1944 zur Rechtfertigung der Ermordung der Budapester Juden zu folgenden Schluss: “Mehr als unverständlich ist vor diesem Hintergrund die Einordnung der Schmidtschen Vorschläge durch Longerich. Inhaltlich geht er auf diese in seiner grundlegenden Arbeit über die Presseabteilung des AA gar nicht ein, obwohl er von ihnen Kenntnis hatte“ (S. 167). Plöger erwähnt ebenda unter Verweis auf meine Paul-Carell-Monografie, dass Schmidt in den 70er Jahren unter dem Pseudonym Vocator lange politische Kolumnen für die Norddeutsche Rundschau schrieb, deren Chefredakteur zu diesem Zeitpunkt Heinz Longerich war, das ist Peter Longerichs Vater.[4] Der Sohn will mit Schmidt die intensivste, ca. 12 Stunden dauernde Befragung für seine Dissertation durchgeführt haben, „wobei alle wesentlichen Aktivitäten der Presseabteilung angesprochen wurden“.[5] Allerdings hat er Plöger trotz „schriftlich wie mündlich gegebener Zusage die transkribierte Fassung dieser Gespräche nicht zur Verfügung gestellt“ (S. 25 f., Fußnote 43). Ein ebenso befremdlicher Umstand wie Peter Longerichs Umgang mit den Akten zu Paul Karl Schmidt: „Zahlreiche, in der Bibliographie der Dissertation von Longerich aufgeführten Aktenbestände des Auswärtigen Amts (…) finden jedoch – vor allem was Schmidt betrifft – keinen erkennbaren Eingang in Peter Longerichs Arbeit“ (S. 24).
Schmidt-Carell bei der ZEIT und dem SPIEGEL
Nach dem Krieg mutierte Schmidt vom potentiell Anzuklagenden im Nürnberger Nachfolgeprozess Fall 11, dem sog. Wilhelmstraßenprozess gegen das Auswärtige Amt, zum Zeugen der Anklage und verfasste schon ab 1949 vom CIA finanzierte Propagandaschriften für den Marschallplan, ehe er als P. C. Holm für die ZEIT 1954 die deutsche Verantwortung für den Ersten und Zweiten Weltkrieg minimieren durfte. Schon am 16. Januar 1957 lancierte er in einer eigenen SPIEGEL-Serie “Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt!” die These vom Alleintäter van der Lubbe beim Reichstagsbrand 1933 und bearbeitete zudem die später 1959/60 publizierte Reichstagsbrandserie des SPIEGEL-Autors Fritz Tobias redaktionell. Plöger betont, dass Schmidt diese Behauptung vom Alleintäter van der Lubbe „maßgeblich mitinitiierte“ (S. 419). Er untersucht ihre Wirkungsmächtigkeit bis in die gegenwärtige Historiografie und juristischen Auseinandersetzungen, so bei der Klage des SPIEGEL gegen das Reichstagsbrand-Feature des Bayerischen Rundfunks 2006/2007. Hierbei kommt er zu dem Schluss, dass der SPIEGEL den Anteil Schmidts bei der Durchsetzung der Alleintäterthese in seinem Magazin beschönigt und „Schmidts Rolle in dieser Frage weit größer war, als (SPIEGEL-Redakteur) Wiegrefe hier glaubhaft machen will“ (S. 420).
Was Springer, Augstein und Tobias ab 1947 wissen konnten
Bislang ging die Forschung davon aus, dass über Schmidts Holocaust PR erstmals im August 1959 in einigen Tageszeitungen berichtet wurde, und zwar im Zusammenhang mit dem Widerstand von Redakteuren von Springers Zeitschrift KRISTALL, die gegen die vorgesehene Berufung Schmidts zum Chef des Ressorts Politik und Aktuelles der Zeitschrift protestierten und deshalb kündigten.[6] Im Hinblick auf Schmidts Wirken beim SPIEGEL und im Springer-Verlag ist nun wichtig, dass – wie Plöger eruiert hat – Schmidts propagandistische Initiative vom 27.5.1944 zur Verschleierung des Judenmords Rudolf Augstein, Axel Springer und Fritz Tobias eben nicht – wie bis in die Gegenwart immer wieder behauptet – unbekannt geblieben war. Denn die WELT berichtete bereits in ihrer Ausgabe vom 7.8.1947 unter der Schlagzeile “Presse-Schmidts Rolle” darüber und druckte die Schmidtschen Vorschläge zur Verschleierung des Judenmord im Wortlaut ab (S. 263 f. u. S. 422). Damit wird die immer wieder vorgebrachte Entlastungsbehauptung hinfällig, Augstein, Tobias und auch Springer hätten von Schmidts propagandistischen Vorschlägen zur Judenvernichtung nichts gewusst, und „weil sie nach Kriegsende unbekannt blieben, konnte er sich als Journalist etablieren – beim Springer-Verlag und eben auch beim SPIEGEL“.[7] Das Gegenteil ist richtig: Schmidts Propagandaaktion stand 1947 im Wortlaut in der WELT.
Schmidt-Carell bei Springer, beim BND, der WELT und BILD
Ab Ende der 50er Jahre verstärkte Schmidt sein publizistisches Engagement in Axel Springers Zeitschrift KRISTALL, in der er mit etlichen Serien den tapferen deutschen Soldaten huldigte. Plöger betont, dass die Kontinuität von Schmidts Wirken darin besteht, dass er auch nach 1945 seine Arbeit der Meinungsbeeinflussung auf politischem und zeithistorischem Terrain, insbesondere der Rechtfertigung von Krieg und Nationalsozialismus, gewidmet hat. Mit seinen Bestsellern zum „Unternehmen Barbarossa“ ab den 60er Jahren stand Schmidt-Carell auf dem Zenit seines politischen Erfolgs und auch ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen Mordes, aufgrund seiner propagandistischen Initiative zum Judenmord 1944, überstand er unbeschadet. Mit Axel Springer, dem er bis zu dessen Tod 1985 nicht nur als Autor, Berater und Redenschreiber, sondern auch als persönlicher Sicherheitschef diente und für diesen sogar Fluchtpläne für den Fall eines sowjetischen Angriffs ausarbeitete, verband ihn ein bedingungsloser Antikommunismus. Nützlich für Springer waren auch Schmidts „gute Kontakte zum BND“, u.a. zu dessen erstem Präsidenten Reinhard Gehlen. Nach der Aussage von Springers langjährigem Büroleiter Claus Dieter Nagel brachte hat Schmidt Gehlen an Springer „herangebracht“ (S. 355). In der WELT fand „Paul Carell“ ein publizistisches Forum und konnte dort am 21.10.1979, im unmittelbaren Vorfeld des Nato-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979 zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen, den notfalls präventiven Einsatz der Bundeswehr und Nato propagieren. Und auch in Springers Millionenblatt BILD schrieb „Paul Carell“ am 13. Dezember 1981 zum Russlandfeldzug “wie es wirklich war” und noch sechs Jahre nach dem Tod des Verlegers am 5. Februar 1991 zum 20. Tag der Bodenoffensive im Golfkrieg. Ein erfülltes Leben – und vor allem Wirken über ein halbes Jahrhundert. „Machtstreben wie Weltanschauung veränderte er in ihren Grundfesten nicht“, resümiert Plöger über Schmidts Wirken nach dem Ende des Nationalsozialismus, „sondern variierte sie lediglich bei Bedarf“ (S. 429).
Autor: Wigbert Benz
Christian Plöger: Von Ribbentrop zu Springer: Zu Leben und Wirken von Paul Karl Schmidt alias Paul Carell. Marburg: Tectum-Verlag 2009, . 478 S., 34,90 €.
Anmerkungen
[1] Zum Forschungsstand Wigbert Benz: Paul Carell. Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945. Berlin 2005.
[2] Ebd., S. 37-47.
[3] Peter Longerich: Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop. München 1987, hier S. 154, Fußnote 13
[4] Diesen Umstand habe ich schon 2005 belegt: Wigbert Benz, Paul Carell, S. 46 f.
[5] Peter Longerich, Propagandisten im Krieg, S. 23, Fußnote 50.
[6] Wigbert Benz, Paul Carell, S. 81 f.
[7] So zuletzt Sven Felix Kellerhoff: Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls. Berlin 2008, S. 99; Ähnlich SPIEGEL-Redakteur Klaus Wiegrefe, Flammendes Fanal, im: SPIEGEL Nr. 15 v. 9.4.2001: “Tobias kannte Schmidts üblen Vermerk von 1944 nicht.”