[1]Am 8. Mai 2005 wurde der 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen gefeiert. Für die Delegation der spanischen Überlebenden sollte jener Tag in verschiedener Hinsicht außergewöhnlich sein: Erstmals war ein spanischer Regierungschef – in diesem Fall der amtierende Premierminister José Luis Rodríguez Zapatero – bei den Gedenkfeiern anwesend. Im offiziellen Programm der Veranstaltung war außerdem eine Rede des langjährigen Präsidenten der spanischen Überlebendenorganisation Amical de Mauthausen y otros campos de concentración, Enric Marco, vorgesehen.
Der just am Vorabend der Feierlichkeiten bekannt gemachte Forschungsbericht des spanischen Historikers Benito Bermejo sollte jedoch den geplanten Ablauf gehörig durcheinander bringen: Er verfüge über gesicherte Informationen, so der Forscher, dass Enric Marco wesentliche Daten seiner Biographie – und zwar genau diejenigen, die seine Inhaftierung in verschiedenen Konzentrationslagern betrafen – gefälscht habe. Marco wurde noch vor Beginn des Festaktes nach Spanien zurückbeordert, wo er die Angaben des Historikers bestätigte und den Vorsitz der Überlebendenorganisation zurücklegte.
Marco hatte mindestens seit 1978 öffentlich behauptet, Überlebender des nationalsozialistischen KZ-Systems zu sein. Wie sich nun herausstellte, war diese Behauptung falsch.
In seiner ‚Autobiographie‛ Memorias del infierno[2] (erschienen 1978) zeichnet er sein Leben wie folgt nach:
Bereits als Fünfzehnjähriger sei er während des Ausbruchs des spanischen Bürgerkrieges im Umfeld anarchistischer Gewerkschaften aktiv gewesen. Er habe in der Einheit des sehr bekannten Gewerkschaftsführers Durruti gekämpft. Nach Kriegsende habe er sich im Untergrund weiter am Widerstand gegen das Franco-Regime beteiligt. Im Jahr 1941 sei er über die Grenze nach Frankreich geflohen, wo er von der Gestapo aufgegriffen und verhaftet worden sei. Schließlich habe man ihn in das nationalsozialistische Konzentrationslager Flossenbürg nahe der tschechischen Grenze deportiert. Nach einem kurzen Aufenthalt im Konzentrationslager Mauthausen sei er schließlich 1945 befreit worden. Später sei er illegal nach Spanien zurückgekehrt, um sich erneut im Umkreis der anarchistischen Gewerkschaft der Widerstandsbewegung gegen die faschistische Regierung anzuschließen.
Schilderungen des Arbeitsalltags im Lager
Der ‚Bericht‛ des heute 85jährigen ist im Stil einer Autobiographie verfasst und enthält – für das Genre des autobiographischen Überlebendenberichts typische – Schilderungen des Lagers sowie des Arbeitsalltags, außerdem auch detailreiche Beschreibungen von Grausamkeiten und Gewaltakten seitens der SS. Mit dem tatsächlichen Werdegang Enric Marcos hat diese ‚Autobiographie‛ allerdings kaum etwas gemein. Den wenigen bekannten Informationen zu Marcos Lebensweg jenseits der Fiktion ist zu entnehmen, dass der gelernte Automechaniker 1941 tatsächlich nach Deutschland gelangte. Allerdings hatte er sich zuvor freiwillig zu einem Arbeitskommando gemeldet, das – wie viele andere – von Franco entsendet wurde, um so Solidarität mit Hitler zu zeigen und sich von einer Schuld zu befreien: Während des Bürgerkrieges hatte das nationalsozialistische Deutschland Truppen zur Unterstützung der Faschisten nach Spanien geschickt. Das Arbeitskommando, dem Marco angehörte, wurde in einer Kieler Werft eingesetzt, die zu der Zeit Kriegsmaterial herstellte. 1943 kehrte er wieder nach Spanien zurück. Danach lebte Marco ein zurückgezogenes, wahrscheinlich systemkonformes Leben.
Drei Jahre nach dem Tod Francos und dem Einsetzen der Transición, also der Demokratisierung Spaniens, trat Marco an die Öffentlichkeit. Das Jahr 1978 markierte den Wendepunkt in seinem Leben: Die Memorias del Infierno wurden publiziert. Mit dieser Veröffentlichung ist außerdem ein kleines, aber sehr wichtiges Detail verknüpft. Enric Marco hatte bis dahin seinen Namen stets in der kastilischen Version (Enrique Marcos) verwendet. Seine ‚Autobiographie‛ erschien dann aber unter der katalanischen Variante, die er von diesem Zeitpunkt an auch weiter benutzte. Dieses Detail ist wichtig, weil es – so geringfügig die Veränderung formal auch sein mag – den Wandel von der Täter- zur Opferidentität deutlich macht. Das franquistische Spanien hatte, um die Illusion eines einheitlichen Nationalstaates zu stützen, jegliche öffentliche Verwendung der außer dem Kastilischen gesprochenen Sprachen verboten. Entsprechend waren auch Eigennamen ausschließlich in kastilischer Form erlaubt. Die 1978 verabschiedete Verfassung verankert hingegen in Form von Autonomiestatuten die Gleichberechtigung des Katalanischen, Baskischen und Galizischen mit dem Kastilischen. Hinzu kommt, dass Katalonien während des Bürgerkrieges eine wesentliche Rolle im Widerstand gegen die Armee Francos spielte und generell als eine der Hochburgen republikanischer Gesinnung galt.
Die „Autobiographie“ öffnete ihm Türen
Für Marco wurde seine ‚Autobiographie‛ zur Eintrittskarte in die Führungsebene der anarchistischen Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional de Trabajo), deren Vorsitz er noch im selben Jahr übernahm. Mit diesem Schritt wurde Marco eine Person des öffentlichen Lebens, die einerseits durch ihre charismatische Ausstrahlung und Eloquenz, andererseits durch das ab diesem Zeitpunkt einsetzende Engagement für die republikanischen Spanier große Sympathien auf sich zog. Als Familienvater (er ist verheiratet und hat zwei Töchter) engagierte sich Marco mehr als 20 Jahre lang in der politisch einflussreichen Elternvereinigung der katalanischen Schulen und sorgte als langjähriger Präsident dieser Organisation dafür, dass er selbst und viele Zeitzeugen des Bürgerkrieges und der Deportation an den Schulen Vorträge halten, Veranstaltungen organisieren und sich für die Opfer von Krieg und Diktatur stark machen konnten. Im Jahr 1999, als sich die Amical de Mauthausen in einer finanziellen Krise befand, trat er der Vereinigung bei und wurde rasch deren Präsident. Es gelang ihm, die Amical aus der Krise zu führen. Kurz vor der Aufdeckung des Schwindels um seine Biographie war Marco erneut als Präsident der Überlebendenorganisation bestätigt worden.
Von Beginn an Zweifel
Wie sich anlässlich der Enthüllungen des spanischen Historikers Benito Bermejo herausstellte, hatte es jedoch schon seit dem Erscheinen von Marcos Buch 1978 Zweifel an der Authentizität der Geschichte gegeben. Vor allem andere ehemalige KZ-Häftlinge waren der Ansicht, dass Marcos Lebenslauf einige Ungereimtheiten aufwies. So habe er sich Gesprächen unter Leidensgenossen, die in Bezug auf die vermeintlich gemeinsamen Erfahrungen in die Tiefe gingen, stets entzogen. Eine genaue Überprüfung seiner Angaben war aus verschiedenen Gründen allerdings lange nicht möglich: Im Konzentrationslager Flossenbürg hatten sich nur sehr wenige Spanier befunden, daher konnten Marcos Berichte über das Lager weder bestätigt noch falsifiziert werden. Auch über seinen Aufenthalt in Mauthausen kurz vor Kriegsende konnten keine klaren Aussagen getroffen werden: Die Situation im Lager war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr chaotisch und unübersichtlich, weil täglich zahlreiche Häftlinge aus den evakuierten Lagern eintrafen. Hinzu kommt, dass jene Archive, die Dokumente über Marcos Aufenthalt in Deutschland und die wahren Hintergründe aufbewahren, erst seit kurzer Zeit öffentlich zugänglich sind. Um sich selbst und ihrer Sache nicht zu schaden, traten die spanischen KZ-Überlebenden mit ihren Zweifeln nicht an die Öffentlichkeit. Ähnlich ging es jenen Gewerkschaftsmitgliedern der CNT, die ebenfalls Zweifel an der Authentizität von Marcos Geschichte hegten. Dass er in keiner der Mitgliederlisten geführt wird, begründete er meist damit, dass er Einsätze im Untergrund durchführte und seine Identität daher geheim gehalten werden musste. Gleichzeitig konnte er so erklären, dass sein Alltagsleben bis in die späten Siebzigerjahre unauffällig und regimekonform verlief: Dies sei eben Teil seiner Tarnung gewesen. Auch hier gab es niemanden, der seine Angaben eindeutig bestätigen bzw. deren Unrichtigkeit beweisen konnte.
Sowohl im Falle der Amical de Mauthausen als auch im Falle der Gewerkschaft hatte das Schweigen außerdem ganz pragmatische Gründe: Marco galt als Persönlichkeit mit großem Einfluss. Seine Position im Elternverein der katalanischen Schulen hatte ihm zu Kontakten in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verholfen, die sowohl der Gewerkschaft als auch der Amical (die sich zu Beginn von Marcos Engagement, wie weiter oben schon erwähnt, in einer tiefen Krise befand) zugute kamen. Das Bekannt werden des Schwindels zog allerdings heftige Reaktionen seitens dieser Organisationen nach sich, worauf im Folgenden noch näher eingegangen wird.
Enric Marco ist weder der erste noch der einzige, der in Bezug auf seine Vergangenheit die Unwahrheit gesagt hat. Ähnlich gelagerte Fälle sind schon seit längerem bekannt. Mitte der Neunzigerjahre wurde aufgedeckt, dass der während der NS-Zeit u. a. als Referent im Rasse- und Siedlungshauptamt und der Abteilung „Germanischer Wissenschaftseinsatz“ beim „Ahnenerbe“ tätige Hans Ernst Schneider nach 1945 unter dem Namen Hans Werner Schwerte die Universitätslaufbahn einschlug und im Nachkriegsdeutschland als Germanist und linksliberaler Reformer Karriere machte.
Auch der Fall Benjamin Wilkomirski alias Bruno Doesseker dürfte bekannt sein: Mitte der Neunzigerjahre war seine unter dem Namen Wilkomirski veröffentlichte Autobiographie erschienen, in der er seine angeblichen Erlebnisse in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz schildert. Wenige Jahre später wurde bekannt, dass die Biographie gefälscht war. In Spanien selbst war erst 2004 – übrigens von demselben Historiker, der auch Enric Marco auffliegen ließ – der Nachweis erbracht worden, dass Antonio Pastor, der über viele Jahre hinweg in Fernsehdokumentationen und zahlreichen Interviews als Zeitzeuge und Überlebender des KZ Mauthausen auftrat, tatsächlich niemals in einem Konzentrationslager gefangen gehalten worden war. Die öffentliche Entrüstung war jedes Mal groß und ging über den bloßen Schock der ‚Ent-Täuschung‛ weit hinaus.
Die unrechtmäßige Aneignung einer Opferidentität, die falsche Behauptung, gemeinsam mit vielen anderen im KZ gelitten zu haben, kann in all diesen Fällen als Stein des Anstoßes und als Auslöser für die besonders große Empörung betrachtet werden, die in dem Gefühl gipfelt, nicht nur einfach getäuscht und in die Irre geführt, sondern verraten worden zu sein.
Willi Huntemann spricht in seinem Aufsatz „Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten“[3] von einem Tabubruch, der nur im Zusammenhang mit dem zentralen Thema verstanden werden kann: In der Erzählung des Holocaust gelten besondere Spielregeln, die sich von jenen anderer Erzählungen grundlegend unterscheiden. Unter anderem, so Huntemann, sei es nur einem Zeugen gestattet, den Holocaust zu erzählen. Auch wenn das Erzählte einen hohen Grad an Authentizität aufweise (sowohl Wilkomirskis autobiographischer Roman wie auch Enric Marcos Überlebendenbericht entsprechen diesem Anspruch), so dürfe es doch keinesfalls als selbst Erlebtes ausgegeben werden. In Wilkomirskis Fall hatte das Bekannt werden des Schwindels nicht nur zur Folge, dass er sich vor Gericht verantworten musste, sein Buch wurde – nachdem es zuvor von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt worden war – plötzlich auch literarisch abqualifiziert. Der Verlag (Suhrkamp) nahm das Buch sofort aus dem Handel.
Im Sinne von Avishai Margalits Begriff des moral witness, den er in seinem 2004 erschienenen Buch The Ethics of Memory[4] diskutiert, ist der Zeuge in dieser speziellen Position gleichzeitig leidendes wie bezeugendes Subjekt. Seine besondere Autorität und die fast unantastbare Annahme der Authentizität seiner Bezeugungen beruhen gerade auf der Tatsache, dass er nicht bloßer Beobachter der Grausamkeiten ist, von denen er Zeugnis ablegt. Der moral witness zeichnet sich dadurch aus, dass er selbst die berichteten Grausamkeiten erfahren, dass sein Leben sich in unmittelbarer Gefahr befunden hat. Margalit selbst führt zur Erläuterung dieses Begriffs Beispiele aus dem Umgang mit Zeugen und Zeugnissen des Holocaust an – unter anderem verweist er auch auf den Fall Wilkomirski, der für ihn exemplarisch zeigt, dass ein ‚falscher‛ Zeuge sich zwar in einem sehr hohen Maße einzufühlen vermag (die zunächst große Zustimmung auch seitens jüdischer Institutionen zu Wilkomirskis Buch spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache), den Status des moral witness aber dennoch nicht einnehmen kann. Weil Erzählen über den Holocaust sehr häufig in autobiographischer Form stattfindet, die wiederum dem Wesen des moral witness entspricht, also der untrennbaren Verbundenheit zwischen Erlebtem und Erzähltem, besteht auch eine enge Verbindung zwischen dem Leser/Zuhörer und dem Berichteten. Nach Philippe Lejeunes Theorie vom autobiographischen Pakt lässt sich der Leser auf die behauptete Authentizität der Erzählung sowie die Identität des erzählenden mit dem erlebenden Ich ein – auch wenn ihm eine Überprüfung in den meisten Fällen nicht möglich ist.[5] Die erwiesene Vortäuschung einer Zeugenschaft im Sinne Margalits durch die Fiktionen eines Bruno Doesseker/Benjamin Wilkomirski, eines Enric Marco oder eines Antonio Pastor bedeutet eine Verletzung dieses Vertrauensverhältnisses zwischen Leser/Zuhörer und dem Berichteten und schwächt daher die Position der ‚echten‛ Zeugen, die sich nun vermehrt damit auseinandersetzen müssen, dass ihren Äußerungen Skepsis entgegen gebracht wird. Neben dieser Bedrohung des ‚echten‛ Zeugen kommen hier außerdem der Aspekt der „arglistig erschlichenen Anteilnahme“ – so lautete die Anzeige gegen Doesseker – und die absichtliche Täuschung von tatsächlichen Opfern des Holocaust zum Tragen.
Im Fall Enric Marcos gibt es nur sehr wenige Stimmen, die sich nicht in diesen Diskurs eingliedern lassen. In einem Artikel jedoch, der eine Woche nach dem Eklat in der spanischen Tageszeitung El Pais erschienen ist, fügt der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa – nachdem er einräumt, sich moralisch und politisch von Marco abgestoßen zu fühlen – dem Diskurs eine nicht zu vernachlässigende Komponente hinzu. Er schreibt:
Todo esto lleva a reflexionar sobre lo delgada que es la frontera entre la ficción y la vida y los préstamos e intercambios que llevan a cabo desde tiempos inmemoriales la literatura y la historia. Enric Marco tiene los pies firmemente asentados en ambas disciplinas y será muy difícil que alguien consiga separar lo que en su biografía corresponde a cada uno de esos ámbitos. Como en las mejores novelas, él se las arregló para fundirlos en su propia vida de manera inextricable. Èl mismo es una ficción, pero no de papel, de carne y hueso.[6]
Die Frage, wie Enric Marco so viele Menschen über einen so langen Zeitraum hinweg täuschen konnte, wie es ihm sogar möglich war, seine Frau und seine Töchter zu hintergehen, stellt sich Vargas Llosa ebenso wie viele andere. In seiner Antwort verweist er wieder auf die literarische Betrachtungsweise der Sache, wenn er sagt: „Debió vaciarse de sí mismo y reencarnarse en el fantasma que se fabricó.“[7]
Auch wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass viele sehr pragmatische Gründe dazu beigetragen haben, dass Marcos Fiktion erst vor einem Jahr als solche aufgedeckt wurde, ist Vargas Llosas Interpretation keineswegs von der Hand zu weisen. Marco schreibt sich eine neue Biographie, eine, die durch ihre Schriftlichkeit wahr wird, und zwar auch für ihren Autor, der sie sich voll und ganz aneignet.
Zur Konstruktion und Manifestation seines neuen, verwandelten Ich bedient sich Enric Marco des schriftlichen Überlebendenberichts. In seinem Aufsatz sagt Willi Huntemann über diese spezielle Gattung:
Nun gibt es nicht einfach, wie bei anderen geschichtlichen Stoffen, dokumentarische Texte wie Zeitzeugenberichte und andere Quellen sowie historiografische Darstellungen auf der einen und literarische Texte wie historische Romane auf der anderen Seite, […] sondern die Polarität (zwischen Fakt und Fiktion, Anm.) geht quer durch jeden Text. Dies zeigt schon das Erzählgenre, das die Folie für die meisten Holocaust-Erzählungen abgibt, nämlich das autobiografische Schreiben. Die Autobiografie ist eine literarische Zwitterform, insofern hier zum einen der Ich-Erzähler mit dem Autor zusammenfällt und das erzählte Geschehen mit Anspruch auf Faktizität vermittelt und rezipiert wird. Zum andern kommt eine literarische Gestaltungsfreiheit hinzu, etwa in Form einer Sinndeutung des erzählten Lebens in der Rückschau, die die Autobiografie mit fiktionalem Erzählen gemein hat und die sie von einem nur episch erweiterten Lebenslauf von Grund auf unterscheidet.[8]
Im Fall der Holocaust-Erzählungen, so Huntemann weiter, sei außerdem noch zu bedenken, dass der Erzählgegenstand in erster Linie ein kollektives und kein individuelles Schicksal sei. Dadurch näherten sich die Texte wiederum dem Zeugenbericht bzw. dem Dokument an.
Enric Marco hat sich dem „Authentizitätsgebot“ bzw. dem „Fiktionalisierungsverbot“, die Huntemann durch diesen Erzählgegenstand gegeben sieht, nicht unterworfen. Folgt man Vargas Llosas Argumentation, ist Marco noch viel weiter gegangen: Er hat beinahe dreißig Jahre lang die Fiktion, die er 1978 mit seiner gefälschten Autobiographie geschaffen hat, gelebt. Mehr noch: Im Lauf der Zeit hat er dieser ursprünglichen Fiktion zahlreiche weitere Elemente hinzugefügt, die zu ihrer größeren Glaubhaftigkeit beitragen sollten. So tauchten Briefe auf, die Marco an angebliche Mithäftlinge schrieb, ebenso Gedichte, die vorgeblich von der Lagererfahrung inspiriert waren. Noch am Tag nach der Aufdeckung des Schwindels erschien die historische Zeitschrift L´Avenç[9] mit einem Dossier über Konzentrationslager, wofür Marco einen autobiografischen Artikel verfasst hatte. (Wenn man heute das Online-Inhaltsverzeichnis[10] der Zeitschrift konsultiert, fehlt übrigens jeder Hinweis auf besagten Artikel.) Bei Gedenkveranstaltungen im Konzentrationslager Mauthausen hielt er hochemotionale Reden, in denen er fast immer Bezug auf seine gefälschte Biographie nahm.
Vargas Llosa macht in seinem Artikel deutlich, dass die alternative Biographie, mit der Enric Marco sich selbst neu erfunden hat, nicht nur für die Außenwelt konzipiert wurde. Seine Autobiographie kann als Uchronie betrachtet werden, die von der Frage ausgeht, was geschehen wäre, hätte der Protagonist sich bereits in jungen Jahren für die Seite der Republikaner entschieden. Letztlich gelang es Marco jedenfalls, die Fiktion dauerhaft aufrecht zu erhalten, indem er vollständig in ihr aufging und so seine frühere Biographie auslöschte – eine Biographie, die ihm rückblickend wohl auch unerträglich und nicht lebbar erschienen sein mag.
In den Interviews, die nach Bekannt werden des Schwindels mit ihm geführt wurden, gibt Marco zwar zu, niemals in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen zu sein. Dennoch hält er sich nur für „einen halben Lügner“ (so Marco selbst), dessen einziges Vergehen darin bestanden habe, wahre Geschichten aus dem KZ als seine eigenen Erlebnisse auszugeben.
Diese Haltung zeigt deutlich, dass Marco kein Bewusstsein für die Komplexität des Diskurses hat, in dessen Zentrum er sich befindet: Ganz pragmatisch (und apologetisch) argumentiert er, durch seine Vorgehensweise die Aufmerksamkeit auf die Geschichten der Opfer gezogen und dadurch viel für eine Neuorientierung des kollektiven Gedächtnisses erreicht zu haben. Den „Verrat“, dessen ihn unter anderem Neus Catalá, eine heute neunzigjährige Überlebende des KZ Ravensbrück, bezichtigt, sieht er nicht.
Vargas Llosa versucht mit seinem Artikel einen Diskurs aufleben zu lassen, der seit einiger Zeit immer wieder geführt wird. Es stellt sich die Frage: Ist es legitim, den Holocaust zu fiktionalisieren? Indem er sich vom Menschen Enric Marco distanziert (er fühle sich moralisch und politisch von ihm abgestoßen, sagt er in seinem Artikel), den Autor und Protagonisten Marco allerdings als einen „contrabandista de irrealidades“, einen „Schmuggler von Irrealitäten“, in der „mentirosa patria de los novelistas“, der „verlogenen Heimat der Romanautoren“ willkommen heißt, signalisiert Vargas Llosa Folgendes: Die mutwillige Täuschung durch die Aneignung einer Opfer-Identität, die in einem so sensiblen Umfeld wie dem Holocaust und dessen Gedächtnis angesiedelt ist, ist in einem explizit moralischen Sinn abzulehnen. Diese Haltung teilt er mit den meisten, die zu diesem – und ähnlichen – Fällen Stellung nehmen. Davon gänzlich unabhängig sieht er aber die Leistung der Fiktion, die Vargas Llosa –selbst Schriftsteller – als gelungene literarische Konstruktion würdigt und der er Aussagekraft wie erzählerische Stärke attestiert. Dabei bezieht er sich nicht nur auf den schriftlich fixierten Teil der Fiktion, nämlich die Autobiographie, sondern auch auf die Gestalt Enric Marcos selbst, den er in diesem Zusammenhang wie eine literarische Figur betrachtet. Dieser Aspekt des Falles Marco darf, wenn man Vargas Llosas Argumentation weiter folgt, in keinem Fall moralisch bewertet werden. Unter Bezugnahme auf die bereits erwähnte dünne Linie zwischen Geschichte und Literatur vermutet er sogar, dass Marcos Fiktion in die Geschichtsbücher eingegangen wäre, hätte nicht Benito Bermejo, den Vargas Llosa ironisch und provokant als „Spaßverderber“ bezeichnet, die Lüge aufgedeckt. Den Text als solchen hält er also in jedem Fall für relevant; ohne den Kontext, durch den er zur Fiktion wird, wäre er jedenfalls der Gruppe von Holocaust-Erzählungen bzw. -Dokumenten zuzuordnen gewesen.
Warum Enric Marco sich dazu entschlossen hat, nicht mit offenen Karten zu spielen, hat mehrere Gründe. Einerseits gilt das weiter oben schon angesprochene Tabu, das nicht persönlich Betroffenen den „Erzählstoff“ Holocaust vorenthält, wie Huntemann in seinem Aufsatz ausführt. Für Marco selbst hat dieses Tabu in besonderem Maße Gültigkeit, denn er steht ja ursprünglich sogar auf der Seite der Täter und wäre in seinem Engagement wohl kaum gehört, wenn nicht sogar schlichtweg als unglaubwürdig eingeschätzt worden.
Andererseits muss die altruistische Absicht Marcos, durch seinen Bericht mehr Aufmerksamkeit auf die Opfer zu lenken und ihnen dadurch Gehör zu verschaffen, in gewissem Maß angezweifelt werden. Immerhin hat die gefälschte Autobiographie Enric Marco den Zutritt zu einflussreichen Organisationen ermöglicht; und wenn es kein finanzieller Vorteil war, den er aus dieser Tatsache geschöpft hat, so war es doch jener, eine exponierte gesellschaftliche Stellung einzunehmen, in der ihm Achtung, Respekt und Einfluss zuteil wurden.
Dass der Autor die Fiktionalisierung nicht offen gelegt hat und dabei ertappt wurde, macht nun alles zunichte, was mit dieser groß angelegten Illusion bezweckt war. Mit einem Schlag verliert er genau jene Achtung, jenen Respekt, jenen Einfluss, den er sich fast 30 Jahre lang durch sie gesichert hat. Gleichzeitig verliert er aber auch seine Identität, denn die Sorgfalt, mit der er sein früheres Ich ausgelöscht und über Jahrzehnte hindurch verleugnet hat, hinterlässt nun eine Leere, die nicht mehr auszufüllen ist. Marcos Verhalten bestimmt außerdem – wie im Fall Wilkomirski – nachträglich den Umgang der Öffentlichkeit mit dem Text selbst: Die Memorias del Infierno sind derzeit in keiner Bibliothek zu finden. Spanische Antiquariate weigern sich, Suchanfragen danach zu bearbeiten und in der Amical de Mauthausen erhält man auf Anfrage die Auskunft „no existen memorias“ – „es gibt keine Erinnerungen“.
Autorin: Judith Moser-Kroiss
Literatur
Huntemann, Willi: „Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten, in: Arcadia 36 1 (2001)
L’Avenç 302 (2005)
Margalit, Avishai: The Ethics Of Memory (Cambridge, MA : Harvard UP, 2004)
Links (Auswahl der Online-Berichterstattung über den Fall)
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/385204/ ( „Achtung, Zeitzeugen !“, von Bruno Preisendörfer, Deutschlandradio, 13.6.2005)
http://www.elmundo.es/elmundo/2005/05/11/sociedad/1115808137.html („Enric Marco reconoce que fingió ser preso de los nazis para ‚difundir mejor el sufrimiento de las víctimas`“, El Mundo, 11.5.2005)
http://www.exilioydeportacion.com/ (Dossier sobre el asunto Enric Marco, enthält einen Arikel von Mario Vargas Llosa, der am 15.5.2005 in El País erschienen ist)
http://www.libertaddigital.com/php3/noticia.php3?cpn=1276251195 („Enric Marco: ,Mentí porque la gente me escuchaba más y mi trabajo divulgativo era más eficaz`“, Libertad digital,11.5.2005)
http://www.taz.de/pt/2005/05/17/a0110.1/text („Der Fall Enric Marco sorgt für Furore“, taz, 17.5.05)
Anmerkungen
[1] Dieser Aufsatz wird voraussichtlich 2007 auch in den Akten zur Tagung „Soziale Metamorphosen. Eine Tagung des Interdisziplinären Forschungszentrums ‚Metamorphischer Wandel in den Künsten‘, 9.-10.5.2006“ an der Universität Salzburg erscheinen.
[2] Der Titel bedeutet in deutscher Übersetzung ‚Erinnerungen aus der Hölle‛. Der Text wurde aber nie übersetzt.
[3] Willi Huntemann, „Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocaust-Texten, Arcadia 36 1 (2001)
[4] Avishai Margalit, The Ethics Of Memory (Cambridge, MA : Harvard UP, 2004), bes. Kap. 5
[5] Vgl. Huntemann, S. 30
[6] Das alles zwingt einen dazu, darüber nachzudenken, wie fein die Grenze ist, die zwischen der Fiktion und dem Leben sowie den Leihgaben und wechselweisen Beziehungen verläuft, die seit Urzeiten zwischen der Literatur und der Geschichte bestehen. Enric Marco hat sich unverrückbar in beiden Disziplinen niedergelassen und es wird sehr schwierig sein, jene Aspekte seiner Biografie von einander zu trennen, die zum einen oder anderen dieser Bereiche gehören. Wie es in den besten Romanen geschieht, hat er es so eingerichtet, dass sie in seinem eigenen Leben untrennbar miteinander verbunden sind. Er selbst ist eine Fiktion, aber nicht aus Papier, sondern aus Fleisch und Blut.(Übers. der Autorin) Mario Vargas Llosa, „Espantoso y genial“, El Pais, 15.5.2005
[7] Er musste sich seiner selbst entledigen und in dem Trugbild, das er sich selbst geschaffen hat, wiedergeboren werden. (Übers. der Autorin) Vargas Llosa, El País, 15.5.2005
[8] Huntemann, S. 23
[9] L’Avenç 302 (2005)
[10] http://www.lavenc.cat/web/modules.php?name=Cataleg&file=revistes&op=mostrarevista&rid=281 (4.10.2006) – Seite nicht mehr abrufbar (14. November 2014)