Katarina Bader: Jureks Erben. Vom Weiterleben nach dem Überleben, Köln 2010.
Eine ungewöhnliche Freundschaft verbindet Jerzy Hronowski, genannt Jurek, den polnischen Auschwitz-Überlebenden, und die junge Deutsche Katarina Bader. Bader ist gerade 18 Jahre alt, als sie Jurek in der Jugendbegegnungsstätte von Auschwitz kennenlernt. Sie nimmt dort als Redakteurin der Schülerzeitung an einem Seminar teil, in dem auch der Zeitzeuge Jurek spricht. Jurek ist zu diesem Zeitpunkt fast 80 Jahre alt und berichtet auf eine eindrucksvolle Art von dem Erlebten. Sein Leben widmet er zu großen Teilen dem Erzählen von den Verbrechen der Nazis, deren Zeuge er war, sowie der Versöhnungsarbeit zwischen Deutschen und Polen. Sogar das Bundesverdienstkreuz bekommt er dafür. Als Jurek 2006 in Warschau stirbt, erscheinen jedoch nur eine Handvoll Leute auf seiner Beerdigung.
Bader, im Jahr 1979 geboren, wuchs in einer politisch engagierten Lehrerfamilie in einem schwäbischen Dorf auf. Nachdem sie Jurek kennenlernt, entschließt sie sich, Polnisch zu lernen. Er unterstützt und berät sie, als sie dafür nach Krakau zieht. Zudem erzählt er Bader von polnischer Geschichte, aber auch immer wieder von seiner Zeit in Konzentrationslager. Zum Beispiel, wie er als 17-Jähriger der polnischen Intelligenzija zugerechnet, von den Nazis verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Oder wie er dort deutsche Zeitungen stahl, um Deutsch zu lernen und so seine Überlebenschancen zu verbessern. Da waren Geschichten von Solidarität unter den Häftlingen, so wurde Jurek zu Versuchszwecken mit Fleckfieber infiziert und konnte nur durch Medikamente gerettet werden, die ihm ein Häftling zusteckte, der in der medizinischen Abteilung arbeitete. Geschichten vom Erschlagen eines kleinen Kindes durch einen Kapo, vom willkürlichen Erschießen von Häftlingen durch die SS, von den Selektionen, vom hunderttausendfachen Tod.
Jurek hinterlässt seine Geschichten auf Video- und Tonbandaufzeichnungen. Bader, mittlerweile Osteuropa-Historikerin und Journalistin, begreift sich als eine seiner Erben. So entsteht das Buch „Jureks Erben“ aus dem Wunsch der Autorin, Jureks Lebensgeschichte zu verstehen und gleichzeitig die Erinnerung an ihn zu bewahren. Das Buch handelt jedoch von mehr als den Erfahrungen in Auschwitz, es geht um das „Weiterleben nach dem Überleben“, wie es im Untertitel heißt. Bader besucht Weggefährten, Freunde, ehemalige Mithäftlinge, unterschiedliche Archive und schließlich Jureks Sohn in den USA, um mehr über Jurek zu erfahren. Sie spricht unter anderem mit dem Pfarrer Rudolf Dohrmann. Dieser war als Junge auf der Napola gewesen, einer Eliteschule der Nationalsozialisten, in der er zum Herrenmenschen erzogen werden sollte. Nach 1945 musste Dohrmann seine Nazi-Ansichten erst wieder verlernen. Er machte große Veränderungen durch und arbeitete schließlich als Pfarrer für die Versöhnung von Polen und Deutschen. Jurek half ihm in den 1960er Jahren, Aktion Sühnezeichen in Polen aufzubauen. Bader beweist bei der Darstellung von Dohrmanns Biographie, aber auch anderer Biographien, ein großes Einfühlungsvermögen in die Beweggründe ihrer Gegenüber. Über die stimmigen emotionalen Analysen ihrer Gesprächspartner hinaus beschreibt sie sehr offen und reflektierend die Geschichte ihrer eigenen Familie. So quält ihren Vater das Schweigen seiner Mutter zu ihrer Führungstätigkeit im Reichsarbeitsdienst.
Durch die Gespräche mit den Weggefährten und Freunden Jureks klingen wichtige Themen der Nachkriegszeit in Polen und in der BRD an: die Versöhnungsarbeit von Aktion Sühnezeichen, die Auschwitzprozesse in der BRD, die Sorgen der Vertriebenen, der polnische Geheimdienst, die Solidarność-Bewegung und vieles mehr. Fernerhin belässt Bader die Tonaufnahmen Jureks, in denen er Zeugnis ablegt, in ihrer ursprünglichen Form und fügt sie in ihren Text ein. Ihr gelingt es so, die Erinnerungen Jureks an Auschwitz sowie die Erinnerungen an Jurek mit den Lebensgeschichten der Freunde und Weggefährten sowie mit dem zeithistorischen Geschehen zu verknüpfen und miteinander zu kontrastieren. So entsteht ein differenziertes, manchmal widersprüchliches Bild von Jurek.
Im Laufe seines Lebens muss Jurek seine Erinnerungen bis zu 10.000 Menschen erzählt haben; bei vielen von Ihnen hinterließ er durch seine Persönlichkeit und seine meisterhafte Art des Erzählens einen tiefen Eindruck. Das Buch thematisiert die Schwierigkeiten der individuellen Erinnerung und des Erzählens von den Verbrechen sowie der Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses. Auf der Grundlage der Tonbandaufnahmen aus verschiedenen Jahrzehnten zeigt Bader, wie sich die Schilderungen Jureks im Laufe der Zeit verändern: Es kristallisierten sich ungefähr 30 Geschichten heraus, die in sich relativ logisch und geschlossen sind. Mit der Zeit wurden Berichte weniger brutal und bekamen einen Funken Hoffnung. Für diese Art der Transformation von Erinnerungen kann es verschiedene Gründe geben: Jurek selbst meinte, dass er die Jugendlichen mit seinen Berichten nicht überfordern wollte, damit sie nicht ihren Glauben verlören, so wie er seinen Glauben in Auschwitz verlor; die Tatsache, dass Jurek sich in seinen Erinnerungen immer stärker als handelnde Person und immer weniger als passives Opfer beschreibt, lässt zudem vermuten, dass diese Veränderungen auch seine eigene psychische Konstitution schützten.
Im Buch wird somit auch die andere Seite der Erinnerung geschildert: die abgespaltene Erinnerung, das Trauma. Leszek Szuster, Leiter der Gedenkstätte Auschwitz und einer der wenigen, der bis an Jureks Lebensende mit ihm befreundet war, meint, dass es für Jurek „medizinisch heilsam“ war, Jugendlichen von den erlebten Verbrechen zu berichten. Doch Jurek hatte auch Erinnerungen, die er nicht erzählen konnte oder wollte. Baders Beschreibungen deuten daraufhin, dass Jurek zwar als einer der wenigen Auschwitz überlebte, aber sein Leben lang unter den Folgen des Lagers litt. Besonders im engen Miteinander mit Freunden und seiner Familie schien er stark eingeschränkt zu sein. Er verlor mit der Zeit fast alle seine Freundschaften und verhielt sich lieblos bis gewalttätig seinem Sohn und seiner Frau gegenüber. Zeitlebens hatte er Flashbacks und im Lebensalter sogar psychotische Schübe mit Verfolgungswahn, die ihn ins Krankenhaus brachten.
Doch auch, wenn Jurek durch das Erzählen selbst nicht vollständig gesund werden konnte, so hat er der Nachkriegsgesellschaft einen wichtigen Dienst erwiesen: Aus kultursoziologischer Perspektive lässt sich sagen, dass Jurek durch seine Arbeit wesentlich zur Ausbildung eines kommunikativen Gedächtnisses im Hinblick auf die Verbrechen der Nazis in Auschwitz beitrug. Im Lebensalter wollte Jurek mit Hilfe von Ko-Autoren seine Erinnerungen verschriftlichen; er wollte sie zum Bestandteil eines kulturellen Gedächtnisses machen und so bewahren. Die Autorin schildert, wie diese Buchprojekte immer wieder an der Schwierigkeit scheitern, ein Verbrechen wie den Holocaust in einem Werk festzuhalten. Jurek konnte, als er schließlich seine Biographie beendet hatte, keinen Verleger finden. Seine Erinnerungen erscheinen erst nach seinem Tod im Verlag des Museums Auschwitz, wo sie entgegen Jureks Wunsch nur ein kleines Publikum erreichen können.(1)
Bader, Angehörige der dritten Generation nach Auschwitz, beweist mit ihrem Buch einen äußerst umsichtigen Umgang mit Jureks Erbschaft, denn es gelingt ihr auf besondere Weise, unterschiedliche Aspekte darzustellen und zu verknüpfen: die Lebensgeschichte Jureks und damit das Thema des Erinnerns an Auschwitz in seinen verschiedenen Facetten, ihre eigene Familiengeschichte, die unterschiedlichen Biographien von Jureks Weggefährten und die verschiedenen Stadien der Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit in Deutschland und Polen durch die Jahrzehnte bis heute. „Jureks Erben“ kann als sehr interessanter, differenzierter und somit wichtiger Bestandteil eines kulturellen Gedächtnisses in Bezug auf die Verbrechen in Auschwitz und seine Auswirkungen bis heute gewertet werden und ist zugleich eine berührende und persönliche Geschichte einer Freundschaft.
Autorin: Sarah Krüger, krueger-s((at))web.de
Katarina Bader: Jureks Erben: Vom Weiterleben nach dem Überleben, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, ISBN: 978-3-462-04200-9 371, Preis: Euro (D) 19,95 | sFr 30,50 | Euro (A) 20,60
Anmerkung
(1) Jerzy Hronowski: Leben – Erinnerungen. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau/Stiftung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte, Oświęcim 2008. Das Buch ist nicht im Buchhandel erhältlich, kann aber unter folgender Adresse bestellt werden: Internationales Auschwitz Komitee, Stauffenbergstraße 13/14, 10785 Berlin; E-Mail: susanne.goldstein@iak-berlin.de