Im Maxim Gorki Studio Berlin
Sie sitzen da, alt geworden, die schlimmsten Zeiten für Juden in Europa im letzten Jahrhundert als Lebenserinnerung und Lebensschmerz mit sich tragend, mit der Frage: „Wann ist ein Schmerz verjährt? Um wie viel Uhr?“. Mit solchen Sätzen und Witzen setzt diese Inszenierung auf menschliche Gefühle: Auf das Weinen und das Lachen, auf die Erinnerung und das Vergessen wollen, auf fröhliches Miteinander und tröstende Zuwendung.
Die Lebensgeschichten dieser fünf Personen, von der jungen Pflegerin Angela (Sanja Peri´c) betreut, sind miteinander verwoben. Es geht um Liebe und geliebt werden, eine Ménage à trois, um arm und reich, das davor und das danach, Partisanenkampf, Vernichtungslager und Jude sein.
Es verbindet sie die gemeinsame Vergangenheit und es trennen sie ihre individuellen Unterschiede. Es eint sie, dass nur sie sich Trost spenden können, wenn die Erinnerungen zu gegenwärtig werden. Sie streiten sich, sie machen sich Vorwürfe und Ignatz Sauer brüllt auch seine Wut, seine Verzweiflung hinaus. Er sieht sich selbst als Jud Sauer, ein Jude der nicht beschönigen will, der sein will, wie alle anderen auch und es doch nicht sein kann, nicht mit seiner und nicht mit der kollektiven Vergangenheit. Es schwingt Bewunderung und auch Kritik mit, dem „Öffentlichen Juden“, dem „Tanzbär der Geschichte“. Und wenn die Namen Rabbiner Rothschild und Rabbiner Ehrenberg fallen, so ist plötzlich ein Bezug zum Heute da.
Monologe hinausgeschrien in die als feindlich erlebte Umwelt, Monologe als Zwiesprache mit dem Ewigen, Monologe die ein zuhörendes Ohr suchen. Sie werden von den wenigen Bemerkungen, Antworten, Erinnerungsfetzen und durch das Erzählen von Witzen geradezu herausgefordert. Keine Lebensbeichten, kein Lamentieren über das Schicksal sind zu hören, allein Feststellungen, Wutausbrüche, Trauer. Und die Frage, war es richtig, das man hier in diesem Lande blieb oder hierher zurückkehrte „War es Heimweh? Heimweh wonach?“
Eingewoben ist die Frage nach der Rolle alter Menschen in unserer Gesellschaft. Die Rolle, die sie selbst spielen wollen, die man ihnen zugesteht. Das Altwerden ebenso wie das Jungsein „Wer ist Fassbinder?“ fragt die Pflegerin.
Das ist der Punkt, warum solche Stücke immer wieder wichtig sind. Jede Generation muß neu lernen, jede Generation die Fragen neu stellen und sich alten Fragen neu stellen. Dies Stück bietet eine Chance dazu.
Das Ensemble: Mit Hilmar Baumann als Ignatz Sauer, Heide Simon als Mitzi, Monika Hetterle als Olga, Tim Hoffman als Nahum, Dietmar Obst als Sascha, Sanja Peri´c als Pflegerin Angela und Robert Nassmacher als Musiker, ist eine überaus gute Besetzung gelungen. Die Charaktere reiben sich aneinander, zeigen ihre Stärken und Schwächen im Miteinander und – ganz wichtig – alle spielen auf dem gleichen hohen Niveau. Diese Uraufführung ist die gelungene Arbeit eines sehr guten Ensembles. Nicht nur schauspielerisch, auch das Bühnenbild stimmt punktgenau, die Kostüme passen zur Person, zum Charakter geradezu perfekt, Choreographie und Musik geben dem ganzen Stück ein wenig Poesie. Adriana Altaras kann auch durch phantasievolle und witzige Regieeinfälle begeistern. Ihr ist mit diesem Stück in Kooperation mit den Jüdischen Kulturtagen inszeniert wieder eine herausragende Theaterarbeit gelungen.
„Jud Sauer“ hat keinen Drehbuchautoren. Es ist ein Stück aus Texten von Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“, Paul Kornfels „Jud Süss“, Fassinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“, Lessings „Nathan der Weise“ und Shakespeares „Hamlet“ sowie Bocks/Harnicks „Anatevka“. Klug mit einander verknüpft werden die Texte deklamierend vorgetragen, als Aussagen eingewoben, weil das normale Wort versagt und nur noch die künstlerisch gestaltete Wortform dem Schmerz, der Trauer, der Wut über Unterdrückung, Diskriminierung und vereitelter Lebenschance verbalen Ausdruck verleihen kann.
Zu sehen im Maxim Gorki Studio www.gorki.de.
Autorin: Gudrun Wilhelmy. Jegliche Kopie dieses Artikels, auch auszugsweise, bedarf der Genehmigung der Autorin.