Christian T. Barth: Goebbels und die Juden. Paderborn 2003.
„Fahrt durch das Ghetto. Wir steigen aus und besichtigen alles eingehend. Es ist unbeschreiblich. Das sind keine Menschen mehr, das sind Tiere.“ Als Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Oktober 1939 – wenige Wochen nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen – für Filmaufnahmen nach Łódź reist, schreibt er seinen Hass auf alles Jüdische in sein Tagebuch.
Dieser Judenhass zieht sich wie ein roter Faden durch seine Politik auch im Dritten Reich: Goebbels organisierte die sogenannte „Reichskristallnacht“ vom November 1938, bei der im ganzen Reich Synagogen brannten und Zehntausende Juden verhaftet wurden. Goebbels war es auch, der die Kennzeichnungspflicht für Juden mit dem gelben „Judenstern“ einführte. Und als der Holocaust begann, notierte er im Tagebuch: „Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden bleibt nicht mehr viel übrig. (…) An den Juden wird ein Strafgericht vollzogen, das sie vollauf verdient haben.“
Wie aber wird man zu einem solchen fanatischen Antisemiten? Wie begründet sich der Judenhass aus Sicht der Nationalsozialisten? Welche Funktion hatte er in der Propaganda des Dritten Reiches?
Der Historiker Barth unternimmt es, das komplexe Gewirr antisemitischer Vorstellungen im Denken von Joseph Goebbels aufzulösen. Dabei kann er sich auf eine Fülle von Quellen stützen, denn Goebbels hat nicht nur seit seiner Jugendzeit ein umfangreiches Tagebuch geführt, sondern eine enorme Zahl an Reden gehalten, Schriften und Anweisungen hinterlassen. Allein schon die Sichtung und Analyse des ungeheuren Materials ist eine beachtliche Leistung dieser Arbeit. Auch wenn angesichts der vielfältigen Forschungsliteratur zu Goebbels keine sensationellen neuen Befunde zu erwarten waren, gelingt es Barth doch, eine überzeugende Biographie des obersten NS-Demagogen unter dem Aspekt des Antisemitismus vorzulegen.
So belegt er beispielsweise, dass es in der intellektuellen Entwicklung Goebbels weder ein Schlüsselerlebnis gegeben hat, das ihn zum Judenhasser machte noch dass es irgendwelche psychologischen Komplexe waren. Vielmehr zeigt er, wie sich das antisemitische Weltbild ganz allmählich ausgebildet hatte und mit seinem Eintritt in die NS-Bewegung immer weiter verschärfte. Hatte er in seiner Studentenzeit auch noch jüdische Autoren wie Heinrich Heine gelesen und seinen beginnenden Antisemitismus selbst noch skeptisch gesehen, wurde bereits in den 20er Jahren für ihn das sogenannte „Judenproblem“ immer mehr zum Schlüsselthema.
Als er im März 1933 Propagandaminister wird, ist sein antisemitisches Weltbild komplett: Demnach handelt es sich bei den Juden um eine biologische Rasse, die gegen den legitimen Anspruch der Herrenrasse der Arier nach Weltherrschaft strebt. Dazu zerstöre sie die Volkssubstanz insbesondere des deutschen Volkes. Die Juden beherrschten die internationalen Finanzmärkte und Börsen, seien für die wirtschaftlichen Krisen verantwortlich, sie stünden hinter dem Marxismus und hätten schließlich sogar den Ersten Weltkrieg verursacht. So absurd die NS-Thesen auch sind, aus Sicht Goebbels waren sie unwiderlegbare Tatsachen.
Barth zeigt aber auch, dass Goebbels im Einzelfall taktisch sehr flexibel sein konnte: Wo etwa jüdische Schauspieler unersetzbar schienen, erteilte er immer wieder Sondergenehmigungen. Im Jahr 1942 verzichtete Goebbels, der zugleich Gauleiter von Berlin war, sogar auf die Deportation von Juden in die Vernichtungslager: Die Juden wurden noch in den Rüstungsbetrieben gebraucht.
Natürlich hat Barths Vorgehen entlang der biographischen Entwicklung von Joseph Goebbels auch Nachteile: Systematische und ideengeschichtliche Aspekte kommen vielleicht etwas zu kurz. Manches hätte man sich auch etwas ausführlicher gewünscht, etwa die Goebbelsche Filmpolitik.
Dennoch: Barths Buch wird für lange Zeit eines der Standardwerke für die Erforschung des nationalsozialistischen Judenhasses sein.
Autor: Bernd Kleinhans
Christian T. Barth: Goebbels und die Juden, Paderborn, München, Wien, Zürich 2003, Verlag Ferdinand Schöningh, 315 Seiten, 29,80 €