In dem 1946 veröffentlichten ersten Gedichtband der Nelly Sachs gibt es einen Gedichtzyklus, der den Titel trägt: „Grabschriften in die Luft geschrieben“. Alle Texte dieser Gruppe weisen als Überschrift eine Berufs- oder Typenbezeichnung sowie Initialen auf, z.B. „Die Markthändlerin [M.B.]“ oder „Die Ruhelose [K.F.]“. Ein diesem Zyklus zuzuordnendes, aber von der Autorin nicht veröffentlichtes Gedicht ist mit „Die Hellsichtige “ überschrieben. Neben den Anfangsbuchstaben „G.C.“, die für Gertrud Chodziesner stehen, merkt Nelly Sachs an: „Eine der größten Lyrikerinnen. Visionen über alle Grenzen hinaus.“
Das Gedicht lautet:
Die Hellsichtige [G.C.]
Du sahst die Gedanken kreisend gehn
Wie Bilder um ein Haupt.
Der Luft hast du geglaubt,
Darin die Sterne auferstehn.
Und hattest nicht den Blindenstar
Der altgewordnen Zeit.
Wo für uns noch der Abend war,
Sahst du schon Ewigkeit.
Wer war diese Frau, und was hat es mit dem rätselhaften Schluss des zitierten Gedichtes auf sich? Gertrud Chodziesner wurde am 10.12.1894, also auf den Tag genau drei Jahre nach Nelly Sachs, in Berlin geboren. Und wie diese wuchs sie in einer großbürgerlichen jüdischen Familie auf. Von der Seite ihrer Mutter her war sie mit dem berühmten Essayisten, Literatur- und Zeitkritiker Walter Benjamin und mit der eher berüchtigten DDR-Justizministerin Hilde Benjamin verwandt. Ihrem Vater, Ludwig Chodziesner, der aus kleinen Verhältnissen stammte, gelang es, nach seinem Jurastudium eine glänzende Karriere als Strafverteidiger aufzubauen. Der Familienname Chodziesner geht auf die in der Provinz Posen gelegene kleine Ortschaft Chodziesen zurück, deren deutschen Namen „Kolmar“ die älteste Tochter Gertrud später als Pseudonym wählte.
Ihre Lyrik erzählt von traumatischen Erfahrungen
Aus ihrer Kinder- und Jugendzeit ist wenig bekannt, außer der Tatsache, dass sie sehr ernst, pflichtbewusst und in sich gekehrt war. Am Beginn ihres Erwachsenenlebens steht dann allerdings ein Ereignis, das ihre weitere Entwicklung nachhaltig beeinflusst hat: Sie wird von einem Offizier schwanger, der sie verlässt, während sie – vermutlich auf familiären Druck – eine Abtreibung vornehmen lässt, die zu einem Selbstmordversuch führt. Diese Erfahrung verarbeitet sie später in ihrer Erzählung „Susanna“ sowie in dem langen Gedicht „Die Gesegnete“, in dem eine unverheiratete Schwangere von ihren Selbstmordabsichten wegen der mit ihrem Zustand verbundenen „Schande“ spricht. Die letzten beiden Strophen lauten:
Es ist doch Nacht. Und ist ein Ding, das Schande heißt.
Ich darf dich nicht gebären.
Ich weiß den Schnellzug, der den Wald zerreißt.
Dem geh ich zu an seinen blanken Gleisen
Und werde müd und leg mich froh zu Bett
Quer auf zwei flache Stäbe Eisen.
Dabei widerspricht das Wort „Schande“ dem Titel des Gedichtes („Die Gesegnete“) und spielt damit auf das Dilemma an, in dem sich auch Gretchen im „Faust“ befindet, wenn sie in der Szene „Am Brunnen“ über ihre Schwangerschaft nachdenkt:
Doch – alles, was dazu mich trieb,
Gott! War so gut! Ach war so lieb!
Hier – wie auch in dem Gedicht der Gertrud Kolmar – drückt sich die Verwunderung darüber aus, dass etwas so „Gutes“ und „Liebes“ zu „Schande“ oder – in Gretchens Fall – zur „Sünde“ führen kann.
Sehr häufig hat Gertrud Kolmar – wie übrigens auch Nelly Sachs – ihre Gedichte zu Zyklen zusammengestellt. Von ganz besonderer Bedeutung ist dabei die Sammlung „Das Wort der Stummen“, u.zw. in doppelter Hinsicht: Zum einen hat sie mit diesem Werk all denen eine Stimme verliehen, die sich selbst nicht (oder nicht mehr) artikulieren können, also den Verfolgten, Ausgestoßenen und Ermordeten. Zum anderen – und das ist besonders bemerkenswert und bestätigt die Einschätzung der Nelly Sachs über sie – sind diese Gedichte sämtlich 1933 entstanden. Die Dichterin hat sogar jeweils das genaue Entstehungsdatum angegeben.
Gewalt als Thema
Mehrere Gedichte dieses Zyklus‘ befassen sich mit der physischen Gewalt gegenüber den gefangenen Regime-Gegnern, wobei Gertrud Kolmar auch vor ganz konkreter Darstellung nicht zurückschreckt, wenn sie z.B. den „Misshandelten“ in dem gleichnamigen Gedicht vom 15.10.1933 sagen lässt: „Sie peitschten mit stählernen Ruten und mein Leib war bloß …“. Und in dem Gedicht „Anno Domini 1933“ vom 16.10.1933 schildert sie in balladesker Form eine pogromartige Straßenszene, in der ein wehrloser Jude misshandelt und getötet wird. Die beiden letzten Strophen sind besonders interessant und vielsagend:
Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz
Im fernen Staub des Morgenlands.
Ein Stiefelschritt, ein Knüppelstreich
Im dritten, christlich deutschen Reich.
Diese beiden Strophen bauen einen Gegensatz auf zwischen dem „Morgenland“, das einen Erlöser hervorgebracht hat, worauf das „Galgenkreuz“ und der „Dornenkranz“ hinweisen, und dem „christlich-deutschen“ Abendland, das diese Erlösung mit „Stiefelschritt“ und „Knüppelstreich“ wieder rückgängig gemacht hat, was man als einen sarkastischen Kommentar zur Haltung der Christen gegenüber den Gräueltaten der Nazis lesen kann. Darüber hinaus wirft diese Aussage auch die Frage auf, wie ein gütiger Gott solche Untaten zulassen konnte. Es ist dieselbe Frage, die Hiob umtreibt, und in seinem großen Essay über „Holocaust und Literatur“ zitiert der holländische Literaturwissenschaftler Sam Dresden aus dem Schauspiel „Himmelskommando“ einen jüdischen Häftling, der gezwungen wird, bei der Vernichtung seiner Glaubensgenossen mitzuhelfen. Dieser sagt: „Ich glaube nicht, dass Gott an sich selbst glauben würde, wenn er das alles erlebt hätte, was wir mitmachen mussten.“ Einprägsamer kann man es wohl kaum formulieren!
Gertrud Kolmar: Gedicht über die Menschen „im Lager“
Dass Gertrud Kolmar sich mit solchen Zweifeln befasst hat, wird durch ein weiteres Gedicht dieses Zyklus‘ bestätigt. Der am 17.9.1933 geschriebene Text „Im Lager“, der Menschen darstellt, die nur noch „Leiber“ sind, aber „keine Seele mehr“ haben, endet mit den Zeilen:
Nur Angst, nur Schauder in den Mienen,
Wenn nachts ein Schuss das Opfer greift …
Und keinem ist der Mann erschienen,
Der schweigend mitten unter ihnen
Sein kahles Kreuz zur Richtstatt schleift.
Dass solche wahrlich unerhörten Verse angesichts der herrschenden Verhältnisse eine tödliche Gefahr darstellen, dessen war sich Gertrud Kolmar voll und ganz bewusst. Und es drängt sich unabweisbar die Frage auf, warum sie nicht wie ihre drei Geschwister und viele ihrer Bekannten, darunter Nelly Sachs, rechtzeitig ins Exil gegangen ist. Der Hauptgrund für ihre letztlich fatale Entscheidung liegt in der Tatsache, dass sie nach dem Tod der Mutter 1930 sich für ihren kranken Vater verantwortlich fühlte, dass sie das „Dienen“ (wie der Titel eines umfangreichen Gedichtes lautet) als ihre Lebensaufgabe empfand. Diesen Geist atmet auch ein Brief, den sie kurz vor ihrem Tod an ihre in der Schweiz lebende Schwester Hilde geschrieben hat:
„So will auch ich unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein. Wenn ich es schon nicht kenne, ich habe es im Voraus bejaht, […], damit […] es mich nicht erdrücken wird, mich nicht zu klein befinden. Wie viele von denen, die heute im bloßen Anblicken eines für sie zu großen Schicksals zusammenklappen, haben sich denn gefragt, ob sie nicht irgendeine Strafe verdient haben, nicht irgendeine Sühne leisten müssen? Ich war nicht schlimmer in meinem Trachten und Tun als andere Frauen. Aber ich wusste, dass ich nicht lebte, wie ich gesollt, und war immer bereit zu büßen. Und alles Leid, das über mich kam und über mich kommen mag, will ich als Buße auf mich nehmen, und es wird gerecht sein.“ (15.12.1942)1
Deportation nach Auschwitz
Ob sie beim Abfassen dieses Briefes auch an die Abtreibung in ihrer Jugend gedacht hat, mag dahingestellt bleiben. Aber diese bemerkenswerte Frau hätte sicherlich ein anderes „Schicksal“ verdient als das, das sie erleiden musste. Anfang März 1943 wird sie nach Auschwitz deportiert, nachdem ihr Vater schon vorher nach Theresienstadt verschleppt worden war. Das letzte Lebenszeichen von ihr ist eine im Berliner Landesarchiv erhaltene Karteikarte mit den in ihrer bürokratischen Nüchternheit entsetzlichen Angaben: „Chodziesner / Gertrud Käte Sara / Geb. am 10.12.1894 / in: Berlin / letzter inl. Wohnsitz: Bln. W. 30, Speyererstr. 10 II r. / 32. Osttransp. v. 2.3.43 (erl. 11 Nr. 179)“
1990 ist im Berliner Aufbau-Verlag die kleine Erzählung „Flammen oder das Wort der Frau“ von Uwe Berger erschienen, worin in fiktionalisierter Form die letzten Lebensjahre Gertrud Kolmars geschildert werden. Für den Autor scheint die Vorstellung unerträglich zu sein, dass dieser einzigartige Mensch in den Gaskammern zu Tode gekommen sein sollte, weswegen er ihren Tod als Folge eines letzten heroischen Liebes- und Hilfsdienstes erscheinen lässt: Als unmittelbar vor dem Eintritt in die Gaskammer eine Frau einen SS-Offizier anspringt und ihm die Pistole entreißt, um ihn damit zu erschießen, kommt Gertrud Kolmar ihr zur Hilfe, wobei ihr klar ist, dass dies nur eine Geste sein kann. Sie wird zusammen mit der anderen Frau überwältigt und mit einem Schuss in den Hinterkopf ermordet. Die letzten Sätze der Erzählung lauten:
„In einer der Verbrennungsgruben im Gelände hinter dem Gehöft war Gertrud wenig später wieder mit all den Ihren vereint. Flammen hüllten die systematisch angeordneten Schichten von Leichen und Holz ein, die mit Methanol übergossen worden waren. Flammen verschlangen, was sterblich an ihr war.“
Damit ist der Titel der Erzählung erklärt, und wenn Berger schreibt, dass „Flammen verschlangen, was sterblich an ihr war“, sagt er damit natürlich auch aus, dass es einen unsterblichen Teil geben muss, dem die Flammen und die Verfolgung nichts anhaben konnten, weswegen die Geschichte auch den Untertitel „Das Wort der Frau“ trägt, in deutlicher Anlehnung an den oben besprochenen Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“. So wie Gertrud Kolmar dort den Stummen eine Stimme gegeben hatte, so erweist Uwe Berger der ermordeten Dichterin, die nicht mehr reden kann, eben diesen Dienst.
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf das eingangs zitierte Gedicht der Nelly Sachs zurückkommen, in dem sich die dunklen Verse finden: „Wo für uns noch der Abend war, / Sahst du schon Ewigkeit“. Kurz nach dem erwähnten Selbstmordversuch hat Ludwig Chodziesner Texte seiner Tochter Gertrud unter dem schlichten Titel „Gedichte“ veröffentlichen lassen, möglicherweise als Wiedergutmachung für die erzwungene Abtreibung. Darin findet sich das sehr lange Gedicht „Ich weiß es“, dessen letzte Strophe lautet:
Not steht am Wege, den ich schreiten will,
Tod steht am Wege, den ich schreiten will,
Kummer und Klage, graue Plage:
Ich weiß es – und schreit ihn doch!
Während „für uns noch […] Abend war“, sah sie, die „Hellsichtige“, „schon Ewigkeit“, was man auf die Tatsache beziehen kann, dass sie bereits gestorben war, als Nelly Sachs ihr Gedicht schrieb. Es kann aber auch bedeuten, dass Gertrud Kolmar unbeirrt ihren Weg „schreiten will“, auch wenn sie sich der Folgen bewusst ist, sie also „hellsichtig“ ihren Tod voraussieht und ihn in dem Sinne akzeptiert, der in dem oben zitierten Brief an ihre Schwester zum Ausdruck kommt.
Autor: Helmut Mertens
Literatur
Eichmann-Leutenegger, Beatrice: Gertrud Kolmar – Leben und Werk in Texten und Bildern, Frankfurt am Main 1995.
Kolmar, Gertrud: Gedichte, Frankfurt am Main 1996.
Kolmar, Gertrud: Briefe an die Schwester Hilde (1938-1943), Frankfurt am Main 1970.
Nörtemann, Regine: Getrud Kolmar – Das lyrische Werk: 3 Bde., Göttingen 2003.
Woltmann, Johanna: Gertrud Kolmar – Leben und Werk, Göttingen 1995.